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KONGRESSBERICHT
Blutzucker rauf und runter
Hypoglykämiesyndrom nach bariatrischem Eingriff
Bei einem nicht unerheblichen Anteil Patienten treten nach einem bariatrischen Eingriff wiederholt postprandiale Hypoglykämien auf. Beim sogenannten Spätdumpingsyndrom zeigt sich eine multifaktoriell bedingte Hyperinsulinämie als Folge von (übermässiger) Kohlenhydratzufuhr. Diese Problematik führt zu einem nicht unerheblichen Leidensdruck bei den Betroffenen, erläuterte Dr. Susanne Hess, Oberärztin Endokrinologie und Diabetologie am Spital Lachen und am Kantonsspital Glarus.
Es werden 2 Dumpingformen unterschieden. Das Frühdumping kann bereits unmittelbar nach dem bariatrischen Eingriff vorkommen und unterscheidet sich in der Pathogenese vom Spätdumping. Die Tabelle listet die Charakteristika beider Formen auf. Beim Frühdumping gelangt nach einer bariatrischen Operation, insbesondere dem Roux-en-Y-Magenbypass (RYGB), hyperosmolarer Speisebrei durch den Mangenpouch unphysiologisch rasch in Richtung distales Jejunum. Das führt zu einem Flüssigkeitseinstrom in den Dünndarm und zu einem konsekutiv erhöhten Vagotonus. Folglich treten Symptome wie Bauchschmerzen, aber auch orthostatische Beschwerden mit Blutdruckabfall, beschleunigtem Puls, Müdigkeit und Schwitzen auf. Die Klinik zeigt sich rasch nach der Nahrungsaufnahme, meist innerhalb von 30 Minuten bis maximal 1 Stunde nach der auslösenden Mahlzeit.
Spätdumping in den ersten Monaten nach der Operation
Das Spätdumping wurde erstmals zirka 2005 beschrieben. Es ist eine metabolische Komplikation, über deren Ursache weiterhin rege diskutiert wird. Inzwischen konnte man verschiedene Faktoren identifizieren, die über einen gemeinsamen Mechanismus einer inadäquaten Hyperinsulinämie die Hypoglykämie auslösen. Beim Spätdumping leidet der Patient an den typischen Symptomen einer Hypoglykämie bzw. deren Gegenregulationsmechanismen, z. B. Zittern, Schwitzen, Palpitationen, Schwäche und Hungergefühl. Die Symptome treten häufig in einigem zeitlichen Abstand (1–3 Stunden) zur Nahrungsaufnahme auf, sodass die Assoziation zu der auslösenden Mahlzeit von seiten des Patienten oft gar nicht mehr hergestellt wird. Untypisch für das Spätdumping sind nüchterne/nächtliche Hypoglykämien. Da das Spätdumping sich zudem erst einige Jahre nach einem bariatrischen Eingriff erstmals bemerkbar machen kann, wird es häufig weder vom Patienten noch vom Hausarzt erkannt oder mit der Operation in Verbindung gebracht.
Auslöser Hyperinsulinämie
Bei der Entstehung der Symptomatik spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Wird innert kurzer Zeit viel Glukose oder werden viele (insbesondere rasch resorbierbare) Kohlenhydrate aufgenommen, kommt es infolge der veränderten Anatomie nach bariatrischer Operation zunächst zu einem raschen und steilen Anstieg der Plasmaglukose sowie zu einer überhöhten Konzentration von Inkretinen wie dem Glucagon-like Petide 1 (GLP-1). Zudem kann es bei einer allenfalls bereits präoperativ vorhandenen gesteigerten Sensitivität der Betazelle zu einer verstärkten Reaktion auf den Glukosereiz kommen. Diese und andere Prozesse führen letzlich im Verlauf zu einer überschiessenden Insulinantwort und damit zur Hypoglykämie. Im Verlauf können sich bei den Betroffenen die Gegenregulationsmechanismen abschwächen, da die Alpha-Zellen des Pankreas in ihrer Funktion beeinträchtigt sind und somit weniger Glukagon freisetzen. Die Suppression der Insulinsekretion ist trotz sinkender Plasmaglukose verlangsamt. Weitere Einflüsse unter anderem durch den hepatischen Glukosestoffwechsel und durch Inkretine werden beschrieben.
Spätdumping – ein unterschätztes Phänomen?
Die Häufigkeit eines postoperativen Spätdumpings wird je nach Art der Datenerhebung unterschiedlich beurteilt. Bei einer Operation, welche die Anatomie
Tabelle:
Frühdumping
Spätdumping
Osmotische Flüssigkeitsverschiebung im Hyperinsulinämie mit Hypoglykämie Dünndarm mit Sympathikusaktivierung
Symptome innert 1 Stunde postprandial Symptome 1 bis max. 3 Stunden postprandial
Auftreten unmittelbar postoperativ möglich
Auftreten üblicherweise mehrere Monate bis Jahre postoperativ
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KONGRESSBERICHT
So 6. März 2022
Glukose (mmol/l)
20 15
10
5
CGM-Ereignis
Keine CGM-Ergeignisse verfügbar
10.0 3.9
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Abbildung 1: typische Glukoseverlaufsmuster. Diese Kurve zeigt eine normale Nüchternglukose, aber eine erhöhte postprandiale Bluzuckervariabilität mit einem steilen Glukosepeak nach Nahrungszufuhr und einem raschen Abfall und einem tieferen Minimalwert. © Susanne Hess
weniger stark verändert wie die Sleeve-Gastrektomie ist das Problem mit 0,5 bis 2% betroffener Patienten geringer. Beim Standardverfahren, dem RYGB scheinen 20 bis 30% der Patienten zumindest an einer milden Form von Spätdumpingsymptomen zu leiden. Nur etwa 10% haben interventionsbedürftige Hypoglykämien, zu Spitaleintritten infolge eines schweren Spätdumpingsyndroms kommt es sehr selten (< 1%). Verschiedene Faktoren, die tendenziell mit einer höheren Insulinsensitivität korrelieren, erhöhen das Risiko für ein Spätdumping, das sind unter anderem: • jüngeres Lebensalter zum Zeitpunkt der Operation • eher tiefer präoperativer BMI und sehr ausgepräg- ter Gewichtsverlust infolge der Operation • weibliches Geschlecht • kein präoperativer Diabetes mellitus. Gefahr Neuroglykopenie Die Hypoglykämiesymptome sind vielfältig und teilweise unspezifisch. Zusätzlich zu den erwähnten Symptomen kann der Glukosemangel im Gehirn zu neurologischen Beeinträchtigungen, wie Visus-, Sprach- und Konzentrationsstörung, Verhaltensveränderungen mit Reizbarkeit oder Verwirrtheit führen. Da die Symptome oft wiederholt oder sogar täglich auftreten, können die Symptome als psychiatrisches Krankheitsbild fehlgedeutet werden. Im Extremfall kann es zu apoplektiformer Symptomatik mit Krämpfen und Koma kommen. Dieser Zustand ist lebensgefährlich, besonders beim Autofahren. Das Spätdumpingsyndrom bedeutet für den Patienten häufig eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Bezüglich des Einflusses auf das Körpergewicht gibt es 2 Verlaufsformen: Einige Patienten essen infolge rezidivierender Hypoglykämie reflektorisch mehr Süsses, was zu einer Gewichtszunahme führen kann. Andere Patienten vermeiden eine Kohlenhydratzufuhr aus Angst von der Hypoglykämie, was dann zu einer unerwünscht starken Gewichtsreduktion führt. Nachweis oft nicht einfach Die Diagnose kann gestellt werden, wenn folgende Faktoren erfüllt sind (Whipple-Trias): • Blutzucker < 2,5 (–2,8) mmol/l • hypoglykämische Symptome • Verschwinden der Symptome unter Glukosegabe. Die Herausforderung ist, die Hypoglykämie wirklich nachweisen zu können. Die kapillare Blutzuckerselbstmessung ist schwierig, weil der Patient während einer schweren Hypoglykämie nicht als Erstes eine Blutzuckermessung durchführt, sondern zuerst etwas isst. Ein Hinweis auf ein Hypoglykämiesyndrom kann ein sehr tiefer HbA1C-Wert sein. Der orale Glukosetoleranztest (OGTT) mit 75 g Glukose stellt einen unphysiologischen Reiz dar. Die Aussagekraft ist limitiert, da 10% der Gesunden, auch wenn sie asymptomatisch sind, in der Spätphase einen starken Blutzuckerabfall aufweisen können. Der sogenannte Mixed-Meal-Test ist ebenfalls kein optimales Modell für die alltägliche Nahrungsaufnahme, erlaubt aber eine Annährung. Wir verwenden dazu eine definierte Trinknahrung. Bis anhin gibt es aber noch keinen internationalen standardisierten Mahlzeitentest. Eine weitere valable Möglichkeit ist das kontinuierliche Glukosemonitoring, auch wenn die Geräte im hypoglykämischen Bereich etwas weniger genau sind. Typische Glukoseverlaufsmuster Bei der kontinuierlichen Glukosemessung zeigen sich typische Verlaufsmuster mit einer normalen Nüchternglukose und erhöhte postprandiale Werte mit einem steilen Glukosepeak nach Glukosezufuhr und einem raschen Abfall mit tiefem minimalem Blutzuckerwert. Solche typischen Glukoseverlaufskurven können mehrmals am Tag auftreten (siehe Abbildung 1). Differenzialdiagnostische Überlegungen Bei einer wiederholten Hypoglykämie müssen andere Störungen differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden: • Störungen der Glukoneogenese, z. B. Sepsis, schwere Leber- oder Nierenerkrankung – meist einfach zu identifizieren mittels klinischer Einschätzung und Biochemie • Nebenniereninsuffizienz – Patienten weisen meist andere klinische oder biochemische Hinweise hierfür auf • Nesidioblastose eine Mutation des Sulfonylharnstoffrezeptors kann zu einer diffusen BetazellHyperplasie führen (selten) • Insulinom (selten) • paraneoplastische Sekretion von insulinähnlichen Peptiden (selten) • Hypoglycaemia factitia (selten) • Antikörper gegen Insulin oder Insulinrezeptor. Intensive Ernährungsberatung Die wichtigste therapeutische Massnahme ist eine intensive Ernährungsberatung. Je länger die Operation und die beratenden Konsultationen zurückliegen, desto eher schleichen sich wieder alte, ungünstige Ernährungsgewohnheiten ein. Deshalb lohnt sich eine intensivere Betreuung. Der Patient sollte mithilfe eines Ernährungstagebuchs die Zusam- 22 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4|2022 KONGRESSBERICHT mensetzung der Mahlzeiten und die Symptome protokollieren. Rasch resorbierbare Kohlenhydrate sollten gemieden und komplexe Kohlenhydrate mit tieferem glykämischem Index bevorzugt werden. Die Kohlenhydrate sollten auf mehrere kleinere Mahlzeiten aufgeteilt werden. Die Mahlzeiten sollen ausgewogen sein und genügend Proteine enthalten. Fast 70% der Patienten kann man mit einer Ernährungsberatung helfen. Diese haben dann deutlich weniger oder gar keine hypoglykämischen Beschwerden mehr. Allenfalls medikamentöse Therapie Falls mit der Ernährung der Erfolg ausbleibt, kann eine medikamentöse Therapie indiziert sein. Acarbose führt zu einer Verlangsamung und Verringerung der Kohlenhydratabsorption via Hemmung der intestinalen Alpha-Glukosidase. Ein Nachteil ist, dass die Medikation zu jeder Mahlzeit mit Kohlenhydraten eingenommen werden muss. Zudem gibt es unangenehme gastrointestinale Nebenwirkungen, wie Flatulenz. Das Medikament ist zurzeit in der Schweiz nicht erhältlich, jedoch in Deutschland. Diazoxid (orales Benzothiadiazin) hemmt die Insulinfreisetzung via Inhibition des ATP-abhängigen Kaliumkanals der Betazelle. Dieses Medikament muss 2-mal täglich eingenommen werden, Nebenwirkungen wie Blutbildstörungen, Flüssigkeitsretention usw. sind möglich. GLP-1-Rezeptor-Agonisten (Liraglutid, Semaglutid) sind therapeutisch erfolgreich und haben wenig Nebenwirkungen. Allerdings muss für die Anwendung dieser Präparate eine Kostengutsprache bei der Krankenkasse eingeholt werden. Für therapierefraktäre Patienten gibt es weitere spezialisierte Therapieoptionen. Barbara Elke Quelle: Universitätsspital Zürich: 12. Adipositassymposium, 17. März 2022 «Zuckerhöhen und -tiefen nach der OP: Das postbariatrische Hypoglykämiesyndrom», Dr. med. Susanne Hess, Oberärztin, Endokrinologie, Diabetologie, Spital Lachen, Kantonsspital Glarus. Kasten ● Identifikation der auslösenden Mahlzeiten ❍ Z.B. mithilfe eines Ernährungs- und Sympotme tagebuchs ● Meiden von rasch resorbierbaren Kohlenhydraten ❍ Bevorzugen von KH mit tiefem glykämischen Index, komplexe Kohlenhydrate ● Aufteilen des KohlenhydratKonsums auf mehrere kleinere Mahlzeiten ❍ Max. 30 g pro HMZ und 15 g pro ZMZ ❍ Abstand zwsichen Mahl- zeiten von 3–4 h einhalten ● Ausgewogene Mahlzeiten mit ausreichender Proteinzufuhr (ca. 60 – 80 g täglich) Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4|2022 23