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KIND UND ERNÄHRUNG
Foto: zVg
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Wenn Eltern eine vegane Ernährung wünschen
Beratung von vegan ernährten Schulkindern und ihren Eltern
Pascal Müller, Angelika Hayer
Der Trend zu einer veganen Ernährung im Kindesalter nimmt zu. Haus- und Kinderärzte sowie Ernährungsfachpersonen übernehmen diesbezüglich eine wichtige Rolle. Es bedarf einer kompetenten Beratung hinsichtlich potenzieller Risiken und Handlungsoptionen bieten, um den Kindern eine sichere und nährstoffdeckende Entwicklung zu ermöglichen.
Im «Trendreport Ernährung 2022» ist eine klimafreundliche und nachhaltige Ernährung der Trend Nummer 1, eine vegane und pflanzenbasierte Ernährung der Trend Nummer 2. Sie werden von den befragten Ernährungsexperten als die wichtigsten und unumkehrbaren Entwicklungen dieser Dekade eingeschätzt (1). Die Bedeutung dieser Themen widerspiegelt sich in der Zahl der wissenschaftlichen Publikationen, womit die Präsenz in der Fachwelt verdeutlicht wird. Repräsentative Zahlen der sich in der Schweiz vegan ernährenden Bevölkerungsanteile existieren nicht. SchweizVeg publizierte 2017 eine von einem unabhängigen Marktforschungsinstitut durchgeführte Befragung von knapp 1300 Personen zwischen 15 und 74 Jahren in der Schweiz. Diese nennt eine Prävalenz von 3% sich vegan ernährenden Jugendlichen und Erwachsenen. In der deutschen Ernährungserhebung der KiGGS-Studie von 2015 bis 2017 (EsKiMo II) geben 3,4% der befragten Kinder und Jugendlichen an, einen vegetarischen Lebensstil zu führen, das entspricht einer Verdopplung im Vergleich zur selben Befragung von 2007 (2, 3). Bei der Nennung von Motivationen für die Wahl einer veganen Ernährung werden meist ethisch-moralische und ökologische Aspekte aufgeführt, danach folgt die gesundheitliche Motivation (4). Somit gehen die wichtigsten Trends im «Trendreport 2022» in verschiedenen Teilen Hand in Hand.
Vegane Ernährung bei Schulkindern
Infolge der grossen und raschen Veränderungen beim Wachstum und bei der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter ist diese Alterskategorie besonders empfindlich für eine inadäquate Nährstoffversorgung. In verschiedenen Fallberichten wurden unterschiedliche Mangelernährungszustände im Zusammenhang mit einer veganen Ernährung beschrieben, welche im Einzelfall irreversible Entwicklungsstörungen zur Folge hatten, insbesondere bei unzureichender Vitamin-B12-Substitution. Zwischenzeitlich haben aber neuere Studien gezeigt, dass eine gut geplante, diversi-
fizierte und supplementierte vegane Ernährung auch im Kindesalter nährstoffdeckend in Bezug auf Makrowie auf Mikronährstoffe sein kann (VeChi-Youth-Studie; 5, 6). Diesen Studien ist jedoch entgegenzuhalten, dass die untersuchte Population nicht repräsentativ ist, einen höheren sozioökonomischen Status aufweist und insbesondere vegane Ernährung aus eigener Überzeugung gewählt und sich so intrinsisch mit Ernährungsthemen aktiv auseinandergesetzt hat. Ebenso erlaubt das Design einer Querschnittsuntersuchung keine Aussagen zu einem Langzeitverlauf, ausserdem sind Angaben zu anthropometrischen Daten selbst deklariert, was zu einem Reporting-Bias führen kann. Das Thema bedarf somit weiterer Forschung. Das Gebiet der nahrungsbedingten Beeinflussung der intestinalen Mikrobiota ist in Bezug auf vegane versus omnivore Ernährung derzeit ebenfalls noch nicht ausreichend beforscht – werden doch durch unsere Enterotypen epigenetische Phänomene, immunologische und inflammatorische Prozesse, aber auch emotionale und kognitive Aspekte einer Person geprägt (7). Die unter diesem Aspekt langfristigen Folgen einer veganen Ernährung im Kindesalter sind nach wie vor unzureichend beforscht, sowohl hinsichtliche gesundheitlicher Vorteile als auch möglicher Risiken. Die wissenschaftliche Datenlage zu nachhaltigen gesundheitlichen Vorteilen einer bereits im Kindesalter begonnenen veganen Ernährung ist nach wie vor sehr dünn (8). In Erwachsenenkohorten zeigt eine pflanzenkostreiche Ernährung einen Vorteil in der Prävention von nicht übertragbaren Erkrankungen wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen und bei einzelnen Krebserkrankungen (systematische Beurteilung in [9]). Kontrovers diskutiert wird aber noch immer der Aspekt, ob die gesundheitlichen Vorteile als Folge der Meidens jeglicher Nahrungsmittel tierischen Ursprungs oder als Folge einer Ernährung, die reich an pflanzlichen Quellen (mit kleinen Mengen tierischer Nahrungsmittel) ist zustande kommen (10). Deswegen empfehlen europäische Fachgesellschaften eine vegane Ernährung im Kindesalter nicht generell
Pascal Müller Angelika Hayer
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Tabelle 1:
Laboruntersuchungen bei einer veganen Ernährung von Schulkindern
Zu evaluierender Nährstoff
Eisenstoffwechsel
Vitamin B12
Knochenstoffwechsel
Jod Zink Kursiv: bei gegebener Indikation
Laborbiomarker
Hämoglobin, MCH, MCV Ferritin (+ CRP)
Holo-Transcobalamin II Methylmalonsäure (Spoturin)
Kalzium, Phosphat, Kreatinin (Serum und Urin) alkalische Phosphatase, Parathormon Vitamin D (25-OH-Cholecalciferol)
TSH (Jod im Spoturin, unterliegt Tagesschwankungen)
Zink im Serum
(9, 11). Entscheiden sich Eltern im Individualfall für diese Ernährung, soll diese gut geplant, diversifiziert zusammengesetzt und zwingend mit Vitamin B12 und bei Bedarf mit weiteren Mikronährstoffen supplementiert werden; eine Begleitung durch eine Ernährungsfachperson und regelmässige Laborkontrollen werden empfohlen (9, 11, 12). In der ärztlichen oder ernährungsberatenden Konsultation soll der Wunsch der Eltern respektive des Kindes nach einer veganen Ernährung respektiert, der Informationsstand der Eltern bezüglich Kinderernährung und deren Informationsquellen exploriert und potenzielle Risiken und das Vermeiden derselben sollen besprochen und diskutiert werden.
Versorgung mit Nährstoffen
Eine pflanzenbasierte Ernährung zeichnet sich durch eine reiche Abdeckung von β-Carotin, Vitamin C, Folat und Magnesium sowie von Nahrungsfasern und sekundären Pflanzenstoffen aus. Letztere werden vor allem als protektive Modulatoren in der Pathogenese von inflammatorischen und kanzerogenen Prozessen diskutiert. Bei den potenziell kritischen Nährstoffen werden der tendenziell tiefere Energiegehalt, die geringere Proteinqualität und eine problematische Versorgung von langkettigen Fettsäuren, von Eisen, Zink, Vitamin D, Riboflavin, Selen, Jod, Kalzium und insbesondere Vitamin B12 aufgeführt (8, 9). Das Wissen um diese eventuell heiklen Nährstoffe erlaubt Eltern, welche für sich und ihre Kinder eine vegane Ernährung planen, eine bewusste Auswahl von Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Tendenziell weisen pflanzliche Proteine eine niedrigere Qualität auf als tierische Proteine, da sie weniger unentbehrliche (früher: essenzielle) Aminosäuren enthalten und die Bioverfügbarkeit aufgrund antinutritiver Substanzen in pflanzlichen Lebensmitteln (z. B. Phytate, Tannine, Enzyminhibitoren) herabgesetzt ist (13). Getreide hat generell wenig Lysin, bei Hülsenfrüchten gilt Methionin als limitierende Aminosäure. Unter den pflanzlichen Proteinquellen liefert nur Sojaprotein alle unentbehrlichen Aminosäuren. Durch eine vielseitige Auswahl an verschiedenen
pflanzlichen Proteinquellen sowie eine geschickte Kombination von Quellen mit unterschiedlichen limitierenden Aminosäuren lässt sich die Qualität des aufgenommenen Proteins verbessern (z. B. durch den Verzehr von Hülsenfrüchten und Getreide zur gleichen Mahlzeit oder am gleichen Tag). Die Bioverfügbarkeit von pflanzlichen Proteinen lässt sich unter anderem durch langes Einweichen von Hülsenfrüchten und Getreide, lange Gärung (Sauerteigbrot), Kochen und Keimen steigern (14). Um eine ausreichende Zufuhr an unentbehrlichen Aminosäuren quantitativ und qualitativ sicherzustellen, wird bei einer veganen Ernährung eine höhere Proteinzufuhr empfohlen als bei einer Mischkost. Bei Schulkindern ab 6 Jahren wird eine Steigerung um 15 bis 20% diskutiert (15). Gleichzeitig ist eine ausreichende Energiezufuhr unerlässlich, damit das Nahrungsprotein nicht zur Energiegewinnung, sondern wie gewünscht zur Synthese von Körperprotein (z. B. Muskeln, Immunkörper, Hormone) genutzt werden kann. Essenzielle, mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie die Omega-3-Fettsäuren α-Linolensäure (ALA), Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) sind für die neurologische Entwicklung zentral (z. B. Synaptogenese, Retinaentwicklung). Da DHA und EPA vor allem in tierischen Produkten vorkommen, müssen vegan ernährte Kinder genügend mit deren Vorstufe, der ALA, versorgt werden. Leinsamen, Baumnüsse, Leinöl, Rapsöl und anderes können zur Versorgung mit ALA beitragen. Zur vollständigen Deckung des DHA- und des EPA-Bedarfs braucht es allenfalls noch Supplemente bzw. angereicherte Lebensmittel. Eisen spielt neben der Hämoglobinsynthese eine wichtige Rolle in der Myelinisierung der Nervenscheiden und bei der Synthese von Neurotransmittern. Der Eisenbedarf ist im Vergleich zu Erwachsenen in der frühen Kindheit und während der Adoleszenz erhöht. Die Bioverfügbarkeit von Hämeisen (Fe2+), wie es typischerweise im Fleisch vorkommt, ist mit 15 bis 35% besser als jene des Non-Hämeisens (Fe3+), welches in Abhängigkeit von der gleichzeitig konsumierten Nahrung nur zwischen 2 und 20% liegt. Es muss also darauf geachtet werden, dass Hemmer der Eisenabsorption wie Phytate aus Hülsenfrüchten, Oxalsäuren aus Rhabarber oder Spinat oder Kalziumverbindungen z. B. aus angereicherten Pflanzendrinks nicht gleichzeitig mit eisenhaltigen Nahrungsquellen eingenommen werden. Hingegen ist bekannt, dass Vitamin C oder Säuren aus Früchten und Säften die Eisenabsorption intestinal verbessern. Auch Zink wird durch die Phytinsäure, welche in Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten reichlich vorkommt, in der Absorption gehemmt. Ein Zinkmangel macht sich klinisch häufig erst bei deutlich erniedrigtem Serumspiegel bemerkbar – nebst Zeichen von Wundheilungsstörungen, Nagelbrüchigkeit, Haarausfall oder Infektanfälligkeit sind die chronische Diarrhö oder eine Gedeihstörung ein mögliches klinisches Zeichen eines Zinkmangels. Zu
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zinkreichen Nahrungsquellen gehören Getreideprodukte, Hülsenfrüchte, Samen, Kerne und Nüsse. Selen ist ein essenzielles Spurenelement mit verschiedenen Funktionen in Enzymaktivitäten und mit antioxidativer Wirkung. Bei veganer Ernährung besteht ein Risiko für einen Selenmangel, insbesondere bei der Wahl von regionalen Getreideprodukten, da europäische Böden im Gegensatz zu nordamerikanischen weniger Selen enthalten (16, 17). Bei einer veganen Ernährung sollte besonders darauf geachtet werden, selenreiche Lebensmittel wie z. B. Nüsse,
Sesamsamen, Haferflocken, Pilze oder Hülsenfrüchte zu verzehren. Vitamin D kommt zwar grundsätzlich in Nahrungsmitteln tierischer Herkunft wie Milchprodukten oder fetthaltigem Fisch vor, der Bedarf wird aber vor allem über die endogene Produktion UV-B-bestrahlter Haut gedeckt. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) empfiehlt Kindern ab 3 Jahren und Jugendlichen eine Zufuhr von 600 IE/Tag, was während der sonnenärmeren Monate am ehesten in Form einer Supplementierung erreicht werden kann.
Tabelle 2:
Allgemeine Empfehlungen zur Ernährung von Schulkindern im Alter von 7 bis 12 Jahren (omnivor) sowie ergänzende Empfehlungen bei einer veganen Ernährung
Allgemeine Empfehlungen für 7- bis 12-Jährige (omnivor)
Ergänzende Empfehlungen bei einer veganen Ernährung
Getränke
Täglich ca. 1 l ungesüsste Getränke
• Kalziumreiches Mineralwasser bevorzugen (> 300 mg Kalzium/Liter)
Gemüse und Früchte
Täglich 3 Portionen Gemüse und 2 Portionen Früchte Abwechslung beachten (z. B. verschiedene Sorten und Farben)
• Eisenreiche Lebensmittel (z. B. Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Sojaprodukte) zusammen mit Vitamin-C-reichen Früchten bzw. Gemüse (z. B. Peperoni, Brokkoli, Zitrusfrüchte) verzehren
Stärkereiche Lebensmittel (z. B. Getreideprodukte, Kartoffeln)
Täglich 3–4 Portionen, bei Getreideprodukten Vollkorn bevorzugen
• Abwechslung beachten • Bei Getreide idealerweise immer Vollkornprodukte wählen • Regelmässig Hülsenfrüchte (sie liefern neben Stärke auch Protein) • Bioverfügbarkeit von Nährstoffen verbessern (z. B. Hülsenfrüchte einweichen und
ausreichend kochen, Sauerteig lange gären lassen)
Proteinreiche Lebensmittel Nüsse, Samen und Kerne
Täglich 2–3 Portionen Milch/Milchprodukte und zusätzlich 1 Portion eines weiteren proteinreichen Lebensmittels (z. B. Fleisch, Fisch, Eier, Tofu, Quorn, Seitan oder eine zusätzliche Portion Käse oder Quark)
• Tierische Produkte durch Hülsenfrüchte und andere pflanzliche Proteinlieferanten ersetzen (z. B. Sojadrink, -joghurt, Tofu, Soja-Gehacktes, Kichererbsen, Linsen, Bohnen, Seitan, Mykoprotein usw.)
• Als Milchersatz eignet sich mit Kalzium angereicherter Sojadrink (Mandel-, Haferund Reisdrink enthalten kaum Protein)
• Abwechslung beachten (z. B. nicht nur Sojaprodukte) • Hülsenfrüchte mit Getreide/Pseudogetreide kombinieren (verbesserte Proteinqualität) • Möglichst wenig verarbeitete Lebensmittel, bei Fleischalternativen Zutatenliste
und Nährwerte beachten (insbesondere Gehalt an Protein, Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz), nicht alle veganen Alternativen enthalten relevante Proteinmengen (z. B. Käseersatz) • Zur Deckung des Kalziumbedarfs sind neben (mit Kalzium angereicherten) Sojaprodukten weitere Quellen nötig (z. B. kalziumreiches Gemüse und Wasser, mit Kalzium angereicherte Lebensmittel) • Tofu mit dem Gerinnungsmittel Kalziumsulfat anstelle von Nigari wählen (gute Kalziumquelle)
Täglich 20 g
• Grössere Mengen wünschenswert • Sorten mit hohem Gehalt an Alpha-Linolensäure (Omega-3-Fettsäure) täglich ver-
zehren (z. B. Baumnüsse) • Für weitere Nährstoffe: Abwechslung beachten
Öle und Fette
Täglich 2 Esslöffel (20 g) hochwertiges Pflanzenöl • Pflanzenöle mit hohem Gehalt an Alpha-Linolensäure (Omega-3-Fettsäure) bevorZusätzlich können sparsam (1–2 Kaffeelöffel) But- zugen (z. B. Leinöl, Leindotteröl, Hanföl, Baumnussöl, Rapsöl) ter, Margarine, Rahm usw. verwendet werden.
Süsses und Salziges Maximal 1 Portion am Tag
Weitere Lebensmittel
Mögliche Ergänzungen: Weizenkeime, Hefeflocken und angereicherte Lebensmittel (z. B. Fruchtsaft mit Kalzium, ohne Zuckerzusatz)
Supplementation
Jodiertes und fluoridiertes Speisesalz
Zusätzlich täglich Vitamin B12 und je nach Bedarf weitere Nährstoffe supplementieren
Aufenthalt im Freien für die Vitamin-D-Produktion,
ggf. Supplemente
Quellen (12, 18, 19)
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Mit dem Meiden von Milch und Milchprodukten in der Nahrung fallen wichtige Kalziumquellen weg, welche gezielt ersetzt werden müssen. Dem optimalen Erreichen der maximalen Knochendichte (peak bone mass) im Alter von zirka 25 Jahren und somit der suffizienten Kalziumzufuhr kommen eine bedeutende Rolle zu. In der veganen Ernährungspalette kommen hier oxalatarmes Gemüse (z. B. Brokkoli, Federkohl, Pak Choi), Nüsse, Tofu, angereicherte Pflanzendrinks und kalziumreiche Mineralwasser zum Zuge. Jod ist essenziell für die Bildung der Schilddrüsenhormone und reguliert metabolische Aktivitäten im Körper. Ein Jodmangel führt zu einer Schilddrüsenunterfunktion und klinisch zu Müdigkeit, Obstipation, Haarveränderungen, kognitiven Entwicklungsstörungen, Wachstums- und Pubertätsverzögerung. In der Schweiz gilt die Verwendung von jodiertem Kochsalz als wichtigster Faktor, um der zuvor endemisch vorkommenden Hypothyreose vorbeugen zu können. Nichtveganer nehmen Riboflavin hauptsächlich über Milch und Milchprodukte auf, sodass es bei einer veganen Ernährung zu einer unzureichenden Zufuhr an Vitamin B2 kommen kann. Geeignete pflanzliche Quellen sind Hülsenfrüchte, Pilze, Vollkorngetreide, Nüsse und Samen. Vitamin B12 (Cobalamin) kann nicht in biologisch aktiver Form aus nicht tierischen Quellen zugeführt werden und muss deshalb bei einer veganen Ernährung regelmässig supplementiert zu werden. Vitamin B12 ist essenziell für verschiedene Körperfunktionen, unter anderem in der Erythropoese im Knochenmark, der Myelinsynthese, der Axon-Homöostase und dem Energiemetabolismus der Mitochondrien. Somit kann ein Mangel nebst Blutbildveränderungen zu einer schweren, zum Teil irreversiblen neuropsychologischen Entwicklungsverzögerung führen. Der Bestimmung des Vitamin-B12-Status kommt deshalb eine zentrale Rolle zu. Die beste Sensitivität, um einen (funktionellen) Cobalamin-Mangel auszuschliessen, ist die Bestimmung des Vitaminsubstrats (wobei das Holo-Transcobalamin II die höhere Sensitivität hat) gemeinsam mit der Methylmalonsäure im Urin als sensitivem Metabolit des Cobalamin-Stoffwechsels. Die Cobalamin-Tagesdosis, welche oral als Supplement im Kindes- und Jugendalter zugeführt werden muss, ist noch nicht etabliert. Da bei der oralen Vitamin-B12-Substitution keine tolerable Upper Limit besteht und die Resorptionsrate bei oral eingenommener Supplementierung im tiefen Prozentbereich liegt, empfiehlt sich eine grosszügige tägliche Einnahme. Für Kinder werden häufig Tagesdosen von 25 bis 50 µg vorgeschlagen (13). Kommerzielle Produkte verwenden zum Teil Applikationswege, welche bezüglich sicherer Absorption im Kindesalter noch zu wenig gut untersucht sind (z. B. mit Vitamin B12 supplementierte Zahnpasten, Nasensprays u. a.). Eine Übersicht über die Basis- und die erweiterte Labordiagnostik bei veganer Ernährung gibt Tabelle 1.
Empfehlungen zur Umsetzung bei Schulkindern
Neben der ärztlichen Begleitung zur Kontrolle der
Nährstoffversorgung sowie des Wachstums- und Entwicklungsverlaufs des Kindes ist die Beratung durch eine/n Ernährungsfachperson unbedingt zu empfehlen. Eine Ernährungsanamnese (z. B. anhand von Ernährungsprotokollen oder Fragebögen) hilft dabei, einen Einblick in das aktuelle Ernährungsverhalten zu gewinnen und mögliche Risiken sowie einen Handlungsbedarf aufzudecken. Die Ernährungsberatung kann die Familie bei der praktischen Umsetzung im Alltag individuell unterstützen und dabei helfen, wenn gewisse Rahmenbedingungen (z. B. Unverträglichkeiten, Lebensmittelaversionen oder Stoffwechselerkrankungen) die Lebensmittelauswahl zusätzlich einschränken. Tabelle 2 gibt Auskunft zu den allgemeinen Ernährungsempfehlungen für Schulkinder. In der mittleren Spalte sind die Empfehlungen zur omnivoren Mischkost aufgeführt. In der rechten Spalte ist angegeben, wie diese Empfehlungen bei einer veganen Ernährung adaptiert werden können bzw. was zusätzlich zu beachten ist.
Zusammenfassung
• Eine vegane Ernährung wird aufgrund der möglichen Risiken (Nährstoffmangel, Entwicklungsstörungen) derzeit nicht für die allgemeine Bevölkerung und insbesondere nicht für Kinder empfohlen.
• Falls Eltern ihr Kind dennoch vegan ernähren möchten, soll eine Beratung durch Fachpersonen erfolgen, welche ihre Anliegen und Fragen ernst nehmen und sowohl Risiken als auch Handlungsoptionen für eine bedarfsgerechte vegane Ernährung aufzeigen.
• Eine vegane Ernährung von Schulkindern bedarf einer regelmässigen ärztlichen Kontrolle (Nährstoffversorgung, Wachstum und Entwicklung) sowie einer Begleitung durch eine qualifizierte Ernährungsfachperson (Ernährungsanamnese).
• Voraussetzung sind ausserdem die Supplementation von Vitamin B12 und ggf. weiteren Nährstoffen, ein sehr gutes Ernährungswissen bei den Eltern (und Schulkindern), eine sehr sorgfältige Planung und bewusste Lebensmittelauswahl und eine gute Compliance bei den Kindern.
• Mittel- und langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit und die Entwicklung von vegan ernährten Schulkindern sind noch zu wenig bekannt. Hierzu bedarf es weiterer Forschung.
Autoren: Dr. med. Pascal Müller, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Angelika Hayer, Diplom-Oecotrophologin, Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE Korrespondenzadresse: Dr. med. Pascal Müller Chefarzt Adoleszentenmedizin und päd. Psychosomatik Päd. Gastroenterologie und Hepatologie FMH Ostschweizer Kinderspital 9006 St.Gallen E-Mail: pascal.mueller@kispisg.ch
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