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Vorschlag für Algorithmus
Handkraftmessung in der Akutgeriatrie
Foto: zVg
Seraina Reiser, Pascal Tribolet
Seraina Reiser Pascal Tribolet
Korrespondenzadressen Seraina Reiser, BSc Ernährungsberaterin SVDE, Spital Lachen AG Oberdorfstrasse 41 8853 Lachen seraina.reiser@spital-lachen.ch Pascal Tribolet, MSc nutr. med., Ernährungsberater SVDE, Dozent Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit Murtenstrasse 10 3008 Bern pascal.tribolet@bfh.ch
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Mangelernährung führt zu einer verringerten Muskelmasse und -funktion. Zur Erhebung der Muskelfunktion eignet sich die Messung der Handkraft (1). Es existieren viele Einflussfaktoren bei der Durchführung der Handkraftmessung. Derzeit sind keine standardisierten Empfehlungen zur Vorgehensweise bei der Durchführung der Handkraftmessung mittels Martin Vigorimeter vorhanden. Im Folgenden wird deshalb eine mögliche Vorgehensweise anhand eines Algorithmus aufgezeigt.
In der Schweiz weisen knapp 20% der hospitalisierten Personen bei Eintrittszeitpunkt ein Risiko für eine Mangelernährung oder bereits eine Mangelernährung auf (2). Durch die katabole Stoffwechselphase können Krankheit und Mangelernährung früh zur Verringerung der Muskelfunktion führen. Die Muskelschwäche ist ein Prädikator für gesundheitsbezogene Outcomes. Die Handkraftmessung hat eine hohe prognostische Bedeutung hinsichtlich Morbidität und Mortalität (3–4). Zur Diagnosestellung der Mangelernährung wird von verschiedenen Fachgesellschaften die Handkraftmessung empfohlen. Gemäss den GLIM-Kriterien kann die Handkraft zur Diagnose der Mangelernährung beitragen (5). Auch die Academy of Nutrition and Dietetics (AND) und die American Society for Parenteral and Enteral Nutrition (ASPEN) ziehen die Handkraft als Kriterium zur Identifikation der Mangelernährung hinzu (6). Zur Diagnosestellung der Sarkopenie muss eine verminderte Muskelkraft, wie zum Beispiel eine verminderte Handkraft, vorliegen (7). Die Handkraft wird ausserdem zur Definition des Frailty-Syndroms beigezogen (8). Ein Messinstrument, welches die Handkraftmessung bei gebrechlichen und kranken Menschen ermöglicht, ist der Martin Vigorimeter. Es stellt ein zuverlässiges und praktikableres Messgerät bei geriatrischen Patientinnen und Patienten dar als beispielsweise das Jamar-Dynamometer. Im Vergleich zum Jamar-Dynamometer werden mit dem Vigorimeter nur minimale Anforderungen an die Position und die Fähigkeit der Testperson gestellt. Diese Vorteile sprechen für die Verwendung des Vigorimeters bei geriatrischen Personen (9).
Was beeinflusst die Messresultate?
Auf die Handkraftmessung mittels Martin Vigorimeter haben verschiedene Faktoren Einfluss, so die Justierung des Messgeräts, die Durchführungsperson, die Anleitung zur Messung, die Tageszeit, die Körperhaltung, die Gummiballgrösse, die Auswahl der Hand, die Anzahl der Messungen, die Verwendung der Messwerte sowie die Zeit zwischen den Messungen.
Wegen der vielen Einflussfaktoren bei der Handkraftmessung sind standardisierte Empfehlungen von grosser Bedeutung. Eine mögliche, durch die Literatur gestützte Vorgehensweise der Handkrafterhebung wird in der Abbildung gezeigt. Im Folgenden wird auf einige Punkte davon näher eingegangen. Es ist anzufügen, dass bewusst Literatur einbezogen wurde, welche die Handkraftmessung mittels Jamar-Dynamometer beschreibt, da nur wenige Studien mit dem Messinstrument Martin Vigorimeter vorhanden sind. Tageszeit: Laut Waldner-Nilsson und Diday-Nolle (2009) beeinflusst die Tageszeit die Kraftfähigkeit, während Crosby und Wehbé (1994) keinen signifikanten Einfluss der Tageszeit auf die Handkraft beobachten konnten (10,11). Es existieren unterschiedliche Ansichten in der Literatur. Sicherheitshalber soll die Handkraftmessung in der gleichen Zeitspanne wiederholt werden. Körperhaltung: Die Position des Schulter-, Ellbogen- und Handgelenks sowie die Sitzhaltung nehmen Einfluss auf die Handkraft. In der Literatur sind zwei mögliche Vorgaben zur Haltung bei der Durchführung der Handkraftmessung beschrieben: das Southampton-Protokoll sowie die Empfehlungen nach der American Society of Hand Therapists (ASHT) (12). Da bei beiden Protokollen gewisse Angaben fehlen, wird im Algorithmus eine Kombination der beiden Protokolle aufgeführt. Dazu werden die Angaben zu Schultern- und Ellbogengelenke, gemäss ASHT empfohlen (13). Das Ablegen des Unterarms auf der Armlehne des Stuhls entspricht jedoch den Empfehlungen des Southampton-Protokolls (12). Laut Hillman et al. (2005) ist die Handkraft bei nicht unterstütztem Ellbogen höher (14). Da in der Praxis nicht jede Person die Messung ohne Ablegen des Unterarms durchführen kann, wird im Algorithmus das Ablegen des Unterarms empfohlen. Somit werden die Messungen in diesem Punkt gleich durchgeführt. Gemäss Empfehlung der ASHT sollte das Handgelenk eine Extensionsstellung von 0 bis 30 Grad einnehmen. Die Knie und die Hüfte sollen einen 90-Grad-Winkel aufweisen und die Füsse vollständig auf dem Boden ruhen (13).
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Gummiballgrösse: Diverse Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen morphologischen Parametern der Hand und des Unterarms und der maximalen Handkraft (15 ,16). Eine Hilfe kann das Messen des Mittelhandumfangs sein. Ist dieser kleiner als 19 cm, wird eine mittlere Ballgrösse empfohlen (17). Auswahl der Hand: In der Literatur werden verschiedene Vorgehensweisen bei der Auswahl der Hand zur Handkraftmessung beschrieben. Zum einen wird die Messung an der dominanten Hand durchgeführt. Zum anderen wird die Kraft an beiden Händen abwechslungsweise gemessen (12). Rechtshänder weisen eine ungefähr 10% geringere Kraft in der linken Hand auf (18). In der Praxis kann es nötig sein, aus medizinischen Gründen auf die nicht dominante Hand auszuweichen. Anzahl Messungen und Verwendung Messwerte: Gemäss Southampton-Protokoll wird an beiden Händen je 3-mal gemessen, anschliessend wird der höchste Wert genommen (12). In Studien wurde der höchste Wert oder der Durchschnitt der Messungen verwendet (9, 12, 19–23). Hamilton und Chenier (1992) fanden eine ähnliche Retest-Reliabilität mit einer alleinigen Messung, dem Durchschnitt von 2 Messungen oder dem Maximalwert von 3 Messungen (24). Gagesch et al. (2019) benutzten den Maximalwert von 3 Messungen (23). Da diese Studie eine gute Referenzgrundlage bei akutgeriatrischen Patientinnen und Patienten darstellt, ist es sinnvoll in der Praxis die gleiche Methodik anzuwenden, damit Vergleiche möglich sind. Zeit zwischen den Messungen: In der Literatur sind Pausen von 30 Sekunden bis zu 1 Minute zwischen den Handkraftmessungen zu finden (4, 9, 14, 20–22, 25). Weitere Studien machen keine Angaben zu einer Pause zwischen den Messungen (19). Im Abstract von Gagesch et al. (2019) werden keine genaueren Angaben zum Abstand zwischen den Messungen gemacht (23). ASHT und das Southampton-Protokoll erwähnen keine Pause (12–13). Von Watanabe et al. (2005) wird eine Pause empfohlen, da die Handkraft bei wiederholten Messungen ohne Pause abnahm, das im Vergleich zu Messungen mit der 1-minütigen Pause (26). Es besteht die Hoffnung, dass mit der Pause der Ermüdungseffekt minimiert wird. Anleitung zur Messung: Viele Studien machen keine Angaben dazu, wie stark die Testpersonen bei der Handkraftmessung ermutigt werden sollen (12). Unterschiedliche Methoden der Instruktion und der verbalen Ermutigung können die Leistung beeinflussen und dadurch zu Messfehlern führen (27). Die ASHT empfiehlt, standardisierte Testanweisungen anzuwenden (13). Bisher wurden hierzu jedoch keine spezifischen Anweisungen gemacht. Mathiowetz et al. (1984) geben standardisierte Instruktionen vor und empfehlen, während der Messung mit «Harder!» zu motivieren (28). Gemäss Southampton-Protokoll soll der Testperson die Handkraftmessung zuvor von der Person, welche die Messung durchführt, vorgeführt werden (12). Dies wird als potenzielle Verbesserungsmöglichkeit zur optimalen Verständlichkeit für die Testperson bei weiteren Messungen angese-
Abbildung: Algorithmus zur Handkraftmessung mittels Martin Vigorimeter auf der akutgeriatrischen Abteilung
hen. Weiter wird das Weglassen von motivierenden Worten als sinnvoll erachtet. Gründe sind, dass je nach Tagesform und Person, welche die Messung durchführt, die Motivation ganz unterschiedlich ausfallen kann und dadurch die Werte beeinflusst werden können.
Fazit
Die Erhebung der Handkraft unterliegt vielen Einflussfaktoren. Eine Standardisierung der Messung trägt dazu bei, die Durchführungsvariationen zu minimieren und Störfaktoren auszuschliessen. Derzeit fehlen konkrete Empfehlungen zur Erhebung der Handkraft mittels Martin Vigorimeter. Der in der Abbildung aufgezeigte Algorithmus zeigt ein mögliches Vorgehen, um die Messung der Handkraft mittels Martin Vigorimeter zu standardisieren. Der Algorithmus sollte in Studien und durch die Anwendung in der Praxis weiter evaluiert werden.
Referenzen in der Onlineversion des Beitrags unter www.rosenfluh.ch/ernaehrungsmedizin-2022-02
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