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ALLERGIEN UND INTOLERANZEN
Kuhmilch-, Hühnerei- und Erdnussallergie
Orale Immuntherapie bei Kindern
Oliver Fuchs
Eine Lebensmittelallergie führt zu einer beachtlichen Morbidität, sie verringert die Lebensqualität und ist potenziell lebensbedrohend. Für Nahrungsmittelallergien gegen Proteine der Kuhmilch, des Hühnereis und der Erdnuss steht eine orale Immuntherapie (OIT) zur Verfügung. Erfolgreich scheint diese Therapie vor allem bei Kindern zu sein. Für Erwachsene gibt es nur unzureichende Daten.
Die klassische Form der Nahrungsmittelallergie ist IgE-vermittelt (IgE: Immunglobulin E). Mit der OIT wird durch die Einnahme steigender kontrollierter Mengen an möglichen Allergenen versucht, eine Immuntoleranz zu erreichen. Man zielt damit auf das Ausbleiben einer allergischen Reaktion auf Auslöser ab, wie es bei Bienen- und Wespengift- oder bei Pollen- und Hausstaubmilben- seltener bei Tierhaarallergien erreicht wird. Bei der OIT ist die Erfolgsrate mit einer erreichten Immuntoleranz von 30–50% niedriger als bei den anderen genannten Allergien. Zumindest wird aber bei zirka 80% der OIT eine sogenannte Desensitization erreicht, eine Erhöhung der Auslöseschwelle für eine allergische Reaktion (1).
Diagnose verifizieren
Vor einer allfälligen OIT muss wie generell in der Allergologie die Diagnose einer IgE-vermittelten Lebensmittelallergie sichergestellt werden. Eine ausführliche Anamnese dient dazu, die allergische Reaktion zu bestätigen und mögliche Auslöser zu identifizieren. Ein Nachweis der spezifischen IgE gegen das Allergen im Blut und/oder ein positiver Haut-PrickTest vervollständigen die Diagnose (2).
Besprechung von Nutzen und Risiken
Zuerst müssen mit den Patienten und Patientinnen, bei jüngeren Kindern unter Einbezug der Eltern, die Vor- und Nachteile der Therapie besprochen werden. Man muss klären, ob eine Therapie wirklich gewollt ist oder lieber weiterhin die Allergenvermeidung beibehalten wird (2). Als Kontraindikationen für eine OIT gelten beispielsweise eine eosinophile Ösophagitis oder ein nicht gut eingestelltes Asthma bronchiale. Die OIT führt meist zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität. Die Patienten müssen weniger Angst vor einer akzidentellen Aufnahme der
Allergene haben. Auch das Essen in Gesellschaft, wo teilweise eine vollständige Kontrolle über die Speisen schwierig ist, wird einfacher. Man muss im Rahmen der Aufklärung aber die möglichen Risiken der OIT zur Sprache bringen. Allergische Reaktionen sind möglich, am häufigsten treten Jucken in Mund und Rachen oder abdominelle Beschwerden auf. Auch höhergradige allergische oder anaphylaktische Reaktionen sind möglich. Man muss unbedingt darauf hinweisen, dass in bestimmten Situationen – man spricht hier von sogenannten Verstärkungs- oder Kofaktoren – allfällige allergische Reaktionen häufiger auftreten. Das ist der Fall bei starker körperlicher Anstrengung, bei Infekten, bei heissem Duschen, während der Menstruation oder bei Einnahme von bestimmten Schmerzmedikamenten (NSAID). Bei älteren Jugendlichen muss zudem betont werden, dass Alkoholkonsum die Bereitschaft für eine allfällige allergische Reaktion verstärken kann.
Behandlungsphasen einer OIT
Initial wird in der Regel ein Provokationstest unter Überwachung durchgeführt, der die Auslöseschwelle bestimmt. Die initiale Dosis beträgt dann ein Teil, je nach Protokoll bis 10 bis 50% der Auslöseschwelle. Möchten die Betroffenen keinen oralen Provokationstest durchführen, kann man auch die letzte tolerierte Dosis unter der Auslöseschwelle verwenden (3, 4). Wie schnell die Dosis in der Aufbauphase gesteigert wird, hängt wiederum von den verwendeten Protokollen ab. Meist wird eine Steigerung um 20 bis 100% alle 1 bis 2 Wochen in den ersten 4 bis 6 Monaten empfohlen. Unter realen Bedingungen nimmt die Dosissteigerung aber oft einen längeren Zeitraum ein, da wegen äusserer Umstände individuelle Anpassungen nötig sind. Angestrebt wird eine Erhaltungsdosis von täglich 300 mg Protein oder zum Teil mehr. Es
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Die OIT gliedert sich in eine Aufbauphase mit Dosiseskalation und in eine Erhaltungsphase.
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gab auch Studien, die eine höhere Erhaltungsdosis zum Ziel hatten, damit aber keinen grösseren Effekt erreichten. Für die Erdnussallergie hat sich beispielsweise eine Dosis von 300 mg Erdnussprotein als ausreichend herausgestellt. Nach Erreichen der Erhaltungsdosis wird die Allergeneinnahme über eine derzeit noch unbestimmte Zeit fortgeführt. Man weiss noch nicht, wie lange das nötig ist, vor allem mit dem Ziel einer Immuntoleranz – in diesem Bereich müssen noch weitere Erfahrungen gesammelt werden.
Schulung des Patienten
Die Patienten müssen den Therapieablauf verstehen. Sie müssen wissen, dass für den Erfolg der Therapie die Adhärenz sehr wichtig ist. Die Familie spielt eine wichtige Rolle. Sie muss für verschiedene Situationen geschult werden: für den Fall einer anaphylaktischen Reaktion oder für die Dosisanpassung mit teilweise notwendiger Reduktion der Dosis bei speziellen Gegebenheiten. Gewisse Umstände können zu einer zusätzlichen Mastzellaktivierung führen, oder eine gestörte Magen-Darm-Barriere führt zu einer stärkeren Allergenabsorption, deshalb sollte in diesen Fällen (s. o. – Kofaktoren) die tägliche Allergendosis reduziert werden (2) Wichtige Ratschläge für den Patienten (1) • Die empfohlene Dosis täglich einnehmen, um die
gewollten Effekte im Sinne einer Immunmodulation auszulösen und um kein Risiko für einen Toleranzverlust zu generieren, wenn die Zufuhr unterbrochen wird. • Empfohlene Dosis nicht auf den leeren Magen einnehmen. Hier entwickeln die Patienten ein für sie passendes Muster. • Zubettgehen frühestens eine Stunde nach der eingenommenen Dosis.
• Kein Sport, kein heisses Bad, keine Sauna 2 bis 3 Stunden nach eingenommener Dosis.
• Keine Einnahme von NSAID 2 bis 3 Stunden nach der eingenommenen Dosis.
• Reduktion der Dosis während eines Infekts, insbesondere bei Magen-Darm-Infekten, Exazerbation eines Asthma bronchiale und während der Menstruation.
In der Erhaltungsphase sollte der Patient den Proteingehalt «seines» Allergens kennen, vor allem wenn in den jeweiligen Protokollen nicht standardisierte Produkte verwendet werden.
● 1 Erdnuss = 250 mg Erdnussprotein ● 1 Ei = 6 g Eiprotein ● 1 ml Milch = 34,6 mg Milchprotein
OIT-Studie – Resultate bei Erdnussallergie
In der retrospektiven Studie von Wassermann et al. (5) wurden 270 Patienten zwischen 4 und 18 Jahren untersucht, die eine OIT gegen eine Erdnussallergie durchführten. 79% (n = 214) konnten die Therapie bis zur geplanten Zieldosis von 3000 mg durchführen. Das Erreichen der Dosis gelang umso besser, je jünger die Kinder und je tiefer die IgE-Werte waren. Deshalb empfiehlt sich ein frühzeitiger OIT-Beginn, am besten ab dem Vorschulalter. Es traten 100 allergische Nebenwirkungen mit Adrenalinbedarf bei rund 23% der Patienten auf (n = 63), 65% davon einmalig. Die meisten Fälle kamen in der Aufbauphase vor. Es gab aber auch in der Erhaltungsphase noch Reaktionen. Wenn die Zieldosis erreicht wird, ist der Patient gegen eine akzidentelle Exposition geschützt oder sie verläuft nicht so stark (protektive oder partielle Desensibilisierung), solange der Patient das Allergen regelmässig einnimmt. Wird die Allergenzufuhr aber
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gestoppt, kann die Reaktivität wieder langsam steigen. Wichtig ist, einen zusätzlichen Konsum des Allergens oder der Allergenquelle unbedingt zu vermeiden.
Allergen – unterschiedliche Zubereitungsformen
Bei den verschiedenen Nahrungsmittelallergien stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, in welcher Form die Allergene in einer genauen Dosierung der Ernährung im Rahmen der OIT zugefügt werden können. Persönliche Präferenzen, Einfachheit der Zubereitung und die Verfügbarkeit können die Wahl bei Allergie auf Hühnerei- und Kuhmilchallergie bestimmen. (6) Allergie auf Hühnereiprotein • Rohes Hühnereiweiss ist breit verfügbar und
günstig zur weiteren Verarbeitung. Es besteht aber die Gefahr der Kontamination, und die genaue Dosierung ist schwierig – deshalb weniger zu empfehlen. • Pasteurisiertes, dehydriertes und gefriergetrocknetes Eiweiss ist mikrobiologisch sicher. Jede Form hat aber auch hier spezielle Vor- und Nachteile. • Pasteurisiertes Eiweiss muss gekühlt aufbewahrt werden, was beim kommerziell dehydrierten und gefriergetrockneten Ei (als Pulver) nicht nötig ist. Dafür ist das pasteurisierte Eiweiss günstiger und am einfachsten zu dosieren. Allergie auf Kuhmilchprotein • Kommerziell erhältliche Milch (pasteurisiert) enthält zirka 3 g Protein pro 100 ml, ist einfach erhältlich, sie wird beispielsweise in den spanischen Leitlinien empfohlen. • Milchpulver ist ebenfalls einfach erhältlich, der Eiweissgehalt ist höher dosierbar (bis 34,9 g/100 ml). • Bei Bedarf kann Milch ohne Laktose verwendet werden – viele Milchallergiker entwickeln aufgrund des langen Meidens von Milch und deren -produkte eine Laktoseintoleranz. • Wird gebackene Milch (>180 Grad) vertragen, ist das eine Alternative. • Fermentierte Milchprodukte als Alternative bei Abneigung gegen den Geschmack der Milch ist ebenfalls möglich, Umstellung ab 100 ml, wenn diese Menege vertragen wird. • Mischungen verschiedener Säugetiermilchen sind schwierig, da nicht alle kreuzreaktiv sind. (6)
Erdnussallergie Für die OIT bei Erdnussallergie steht nun erstmals ein Erdnussallergenpuder (Palforzia®) zur Verfügung. Es ist das erste standardisierte Produkt für eine OIT, das von Swissmedic im Mai 2021 für das Alter von 4 bis 17 Jahren zugelassen wurde. Die Altersbeschränkung bedeutet, dass nach der Zulassung zwar die OIT nach dem 18. Lebensjahr weitergeführt, aber nicht neu begonnen werden kann. Palforzia ist in verschiedenen Dosierungen von 1 bis 300 mg erhältlich. Man kann die Kapseln/Sachets öffnen und beispielsweise mit einem Joghurt oder mit einer anderen Matrix einnehmen. Wie geht es weiter? In gewissen Zentren hat man nun Versuche gestartet, andere Nahrungsmittelallergien mit einer OIT zu behandeln, zum Beispiel verschiedene Nussallergien. Diese Therapien kommen aber nur individuell oder in kontrollierten Studien zum Einsatz.
Korrespondenzadresse PD Dr. med. Oliver Fuchs, MD PhD Facharzt Allergologie/Klinische Immunologie Facharzt Kinder- und Jugendmedizin Leitender Arzt Allergologie Luzerner Kantonsspital Spitalstrasse, 6000 Luzern 16 Telefon 041-205 2945 E-Mail: oliver.fuchs@luks.ch Internet: luks.ch
Referenzen: 1. Pajno et al.; EAACI Allergen Immunotherapy Guidelines Group. EAACI
Guidelines on allergen immunotherapy: IgE-mediated food allergy. Allergy. 2018; Apr;73(4):799-815. 2. Anderson B et al. Oral Immunotherapy in Children: Clinical Considerations and Practical Management. J Asthma Allergy. 2021;14:14971510 3. Bégin P et al. CSACI guidelines for the ethical, evidence-based and patient-oriented clinical practice of oral immunotherapy in IgE-mediated food allergy. Allergy Asthma Clin Immunol. 2020; Mar18;16-20. 4. Brian P et al. Early oral immunotherapy in peanut-allergic preschool children is safe and highly effective. J Allergy Clin Immunol. 2017 Jan; 139(1):173-181.e8. 5. Wasserman RL et al. Real-World Experience with Peanut Oral Immunotherapy: Lessons Learned From 270 Patients. J Allergy Clin Immunol Pract. 2019 Feb;7(2):418-426. 6. Martorell A et al.; Expert panel selected from members of the Spanish Societies of Pediatric Allergology, Asthma and Clinical Immunology (SEICAP) and Allergology and Clinical Immunology (SEAIC). Oral immunotherapy for food allergy: A Spanish guideline. Immunotherapy egg and milk Spanish guide (items guide). Part I: Cow milk and egg oral immunotherapy: Introduction, methodology, rationale, current state, indications contraindications and oral immunotherapy build-up phase. Allergol Immunopathol (Madr). 2017 Jul-Aug;45(4):393-404. Artikel basierend auf 3. SWICA-Kongress: Allergie und Unverträglichkeiten in der Grundversorgung: «Orale Immuntherapie bei Nahrungsmittelallergien» 24.3.2022, Bern.
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