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Immer häufiger genutzt und kommerziell erhältlich
Sind nutrigenetische Tests bereit für den Alltag?
Klazine van der Horst
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Klazine van der Horst, Ferdinand von Meyenn, Serge Rezzi, Guy Vergères
Eine Familie sitzt im Restaurant MyFood und möchte bestellen (Abbildung). Ungewöhnlich ist nur, dass die Bestellung von einem Wissenschafter aufgenommen wird, der den einzelnen Familienmitgliedern, abgestimmt auf ihr genetisches Profil, unterschiedliche Getränke und Speisen empfiehlt, und dass im Hintergrund ein Labor zu sehen ist. Ist diese Szene Science oder Fiction? Eigentlich müssen das Labor und der Wissenschafter nur gedanklich auf die andere Strassenseite gebracht werden, dann lässt sich erahnen, dass die auf das genetische Profil gestützte personalisierte Ernährung bereits gängige Wissenschaft und Realität ist. Die Autoren dieses Artikels möchten eine kritische Sicht auf dieses Thema ermöglichen und dabei den Aspekt von Adipositas (Fettleibigkeit) beleuchten.
Ferdinand von Meyenn Serge Rezzi Guy Vergères
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Thema Ernährung wieder aktuell
Die westlichen Gesellschaften sind gerade dabei wiederzuentdecken, dass die Ernährung einen wichtigen Beitrag zur menschlichen Gesundheit, zur Krankheitsprävention und zur therapeutischen Behandlung leisten kann (1). Ein Teil dieses wieder erwachten Interesses ist der personalisierten Ernährung zu verdanken, welche die Gesundheit des Einzelnen verbessern will, indem sie zu individuellen genetischen und nichtgenetischen Merkmalen Empfehlungen gibt. Die Schweiz ist von diesem Gesellschafts- und Marketingtrend nicht ausgeschlossen, wie verschiedene Artikel der grossen Tageszeitungen über personalisierte Ernährung zeigen (2, 3). Indikatoren für diesen Trend sind die weltweit steigende Zahl von Unternehmen, die personalisierte Ernährungsdienstleistungen anbieten (über 400 bis Ende 2021) (4), und ein Markt, der in den nächsten Jahren auf über 10 Milliarden Franken wachsen wird (5).
Was ist Nutrigenetik
Panagiotou und Nielsen definieren Nutrigenetik als «Auswirkung genetischer Unterschiede zwischen Individuen auf deren Reaktion auf ein bestimmtes Ernährungsmuster, ein funktionelles Lebensmittel oder ein Nahrungsergänzungsmittel mit einem spezifischen gesundheitlichen Ergebnis» (6). Das nutrigenetische Konzept geht also davon aus, dass phänotypische Merkmale (z. B. Adipositas) nicht nur durch die Ernährung (z. B. übermässige Kalorienzufuhr) und die genetische Konstellation (z. B. genetische Varianten, die Risikofaktoren für Adipositas sind) beeinflusst
werden, sondern dass die Auswirkungen der Ernährung je nach dem genetischen Profil der einzelnen Personen unterschiedlich sind (7). Die Wissenschaft interpretiert diese Definition mit dem Konzept der Gen-Diät-Interaktion: Die Auswirkungen einer bestimmten Diät auf einen bestimmten Phänotyp können durch eine oder mehrere genetische Variationen quantitativ und statistisch signifikant verändert sein (7, 8).
Nutrigenetische Tests kommerziell erhältlich
Die meisten dieser Tests werden als sogenannte Direct-To-Consumer-(DTC-)Tests angeboten. Die Kundschaft dieser DTC-Tests wird vor allem über Websites und Werbungen erreicht, die Informationen zu diesen Tests liefern. Immer mehr Unternehmen weiten ihre Dienstleistungen nun auch auf Ernährungsberaterinnen und -berater aus. Die angebotenen Tests bewerten den genetischen Status einer Reihe von Einzelnukleotid-Polymorphismen (sogenannte SNP – die häufigste Form der genetischen Variation) in mehr als 100 Genen, von denen angenommen wird, dass sie für phänotypische Merkmale der Gesundheit (z. B. Herz-Kreislauf-System, Muskeln oder Verdauungssystem) und die Verarbeitung der wichtigen Nahrungsbestandteile (Fett, Kohlenhydrate, Proteine, Mineralien, Vitamine, Allergene, toxische Schadstoffe ...) relevant sind (9). Der Kunde bestellt ein Kit und entnimmt selbst eine Probe (z. B. Speichel), die anschliessend zur Analyse an ein Labor geschickt wird (9). Zusammen mit der Probe für die Genanalyse erheben die Unternehmen mithilfe von Fragebögen Informatio-
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Abbildung: Personalisierte Ernährung auf der Grundlage nutrigenetischer Tests: Science oder Fiction?
nen über Verhaltens- und Ernährungsgewohnheiten. Inzwischen bieten Dutzende von Unternehmen nutrigenetische DTC-Tests an (9). Zu den Unternehmen, die auf dem Nutrigenetikmarkt in der Schweiz aktiv sind, gehören ProGenom, Soledor, Gene Predictis, Karmagenes und MyMuesli (10). Die Unternehmen bieten die Analyse einer kleinen Gruppe spezifischer genetischer Varianten an, wobei bewährte Laborverfahren angewendet werden. Je nach Labormethode können grössere Teile des menschlichen Genoms und/oder ein breiteres Spektrum an genetischen Varianten untersucht werden (11). Innerhalb weniger Wochen erhält der Kunde vom Unternehmen oder von einem beteiligten Ernährungsberater einen Bericht, der eine Beschreibung der genetischen Varianten und eine Ernährungsempfehlung enthält, durch die sich ein bestimmtes phänotypisches Merkmal verbessern lassen soll (9).
Nutrigenetik bei monogenetischen Merkmalen
In einigen Fällen, wie z. B. Laktoseintoleranz (LI) und Phenylketonurie (PKU), ist das nutrigenetische Konzept nicht neu, ist von medizinischen Fachpersonen seit Längerem anerkannt und in die klinische Routinepraxis integriert. Bei LI besteht das System Gen-Diät-Phänotyp aus dem LCT-Gen (das für das Laktaseenzym kodiert, welches Laktose hydrolysiert), aus der Laktose (ein in Milch enthaltenes Disaccharid) und Beschwerden des Verdauungssystems. Im Gegensatz zu Milchkonsumenten mit anhaltender Laktaseaktivität im Erwachsenenalter (Laktasepersistenz), produzieren Erwachsene mit Laktasenonpersistenz aufgrund ihrer genetischen Veranlagung, keine Laktase mehr im oberen Teil ihres Darms. Die Laktose wird deshalb unverdaut in den Dickdarm transportiert, wo sie durch ihre osmotische Aktivität sowie die Gase,
die bei ihrem mikrobiellen Abbau entstehen, Symptome von Darmbeschwerden wie Durchfall und Blähungen verursacht (12). Bei PKU setzt sich das System Gen-Diät-Phänotyp aus dem PAH-Gen (das für das Enzym Phenylalaninhydroxylase kodiert, das Phenylalanin umwandelt), das Phenylalanin aus der Ernährung sowie der Neurotoxizität zusammen. Etwa 1 von 10 000 Personen weist eine angeborene Veränderung des PAH-Gens auf, weshalb Phenylalanin nicht umgewandelt werden kann. Wenn keine Phenylalanin-arme Diät befolgt wird, reichert sich Phenylalanin in Geweben zu toxischen Konzentrationen an und verursacht Störungen der geistigen Entwicklung (13). Sowohl LI als auch PKU sind sogenannte monogenetische Krankheiten, deren pathophysiologischer Phänotyp weitgehend von einem einzigen Genprodukt abhängt und deshalb relativ einfach wissenschaftlich zu charakterisieren ist. Im Falle der PKU ist die Penetranz der fehlerhaften genetischen Variante, das heisst ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie mit einem schweren Krankheitszustand einhergeht, so hoch, dass bei Neugeborenen routinemässig ein molekularbiologischer Test durchgeführt wird. Falls dabei die genetische Variante nachgewiesen wird, muss eine personalisierte Diät eingehalten werden. Obwohl die mit LI zusammenhängenden Symptome des Verdauungstrakts weniger dramatisch sind als bei PKU, ist die Penetranz in der Regel ebenfalls hoch, da bei Konsumierenden von Milchprodukten ohne Laktasepersistenz Durchfall und Blähungen auftreten. Selbst bei den scheinbar eindeutigen Systemen wie LI ist es jedoch nicht so einfach, wie man vermuten könnte, da auch nicht genetische Effekte, z. B. epigenetische Effekte, die Laktaseaktivität im Erwachsenenalter verändern können (14). So sind etwa ein Drittel der Personen, die von sich glauben, dass sie unter LI leiden, in Wirklichkeit Laktase-persistent, und rund ein Drittel der Erwachsenen ohne Laktasepersistenz wissen nichts von ihrer LI (12).
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Nutrigenetische Tests für chronische polygenetische Krankheiten: Hoffnung, Gewicht zu verlieren
Das Beispiel von LI deutet bereits darauf hin, dass nutrigenetische Tests möglicherweise nicht immer so eindeutige Ja/Nein-Antworten bieten, wie von den Unternehmen, die nutrigenetische Produkte verkaufen, suggeriert wird. Tatsächlich sind die meisten phänotypischen Merkmale, die in nutrigenetischen Tests untersucht werden, polygenetisch, das heisst mehrere – oft viele – Gene und genetische Varianten sind daran beteiligt. In diesen Fällen ist die Penetranz einzelner genetischer Varianten sehr begrenzt, und die genauen Mechanismen hinter diesen «Gen-DiätPhänotyp»-Systemen sind möglicherweise noch unzureichend bekannt. Im weiteren Verlauf dieses Artikels wird dieser Punkt am Beispiel nutrigenetischer Tests für die Behandlung von Adipositas mittels Diät, namentlich mit dem Ziel der Gewichtsabnahme, veranschaulicht.
Adipositas – polygenetisch bedingt
Aktuelle Arbeiten legen nahe, dass Adipositas zu 40 bis 70 Prozent auf genetische Variationen zurückzuführen ist (15). Der genetisch bedingte Anteil von Adipositas lässt sich jedoch nicht mit einigen wenigen Genen erklären. Mehr als 1000 SNP wurden in aktuellen Studien mit Adipositas in Zusammenhang gebracht, wobei jeder dieser SNPs nur einen geringen Beitrag leistet (16). In einer aktuellen systematischen Übersichtsarbeit prüften Bayer et al. (7) den Einfluss der Interaktionen zwischen Nährstoffen und individuellen genetischen Variationen auf die Gewichtsabnahme. Die Autoren verglichen 8 Studien am Menschen, in denen die Wechselwirkung zwischen 91 SNP in 63 Genloci und Ernährungsgewohnheiten untersucht wurde, wobei der Einfluss einer veränderten Aufnahme von Fett, Kohlenhydraten oder Proteinen auf die Gewichtsabnahme bewertet wurde. Meist lag der Fokus dieser Studien auf dem Einfluss der Wechselwirkung zwischen Genen und Fettaufnahme auf die Gewichtsabnahme. Nur ein Genlocus (HNF1A; siehe Einzelheiten unten) hatte in 2 Studien einen statistisch signifikanten Einfluss, und nur das nach 6-monatiger Intervention, nicht aber nach 12-monatiger Intervention. In den meisten Fällen waren die Ergebnisse nach der Intervention nicht signifikant und konnten im Rahmen anderer Studien nicht reproduziert werden. Die Autoren dieser systematischen Übersichtsarbeit kamen deshalb zu dem Schluss, dass die Ergebnisse nicht für die Hypothese einer einfachen Gen-Diät-Interaktion als Hauptdeterminante für den Erfolg einer Adipositasbehandlung sprechen.
Gene und Effizienz einer Diät
Der genannte Fall eines Einflusses der Interaktion zwischen HNF1A-Genlocus und Fettaufnahme auf die Gewichtsabnahme ist erwähnenswert, da in 2 Stu-
dien unabhängig voneinander eine statistische Signifikanz nachgewiesen wurde. Sowohl in der POUNDSLost- als auch in der DIRECT-Studie wurde bei einer fettreichen und kohlenhydratarmen Diät bei Teilnehmenden mit dem T-Allel, das heisst einem spezifischen SNP im HNF1A-Locus, ein grösserer Gewichtsverlust beobachtet als bei Teilnehmenden ohne das T-Allel. Bei einer fettarmen Diät wurden jedoch keine Auswirkungen der genetischen Variation beobachtet. Diese Studien sind für nutrigenetische Tests interessant, da mit dem Gentest Personen identifiziert werden könnten, die am stärksten von dieser spezifischen Diät profitieren. Interessanterweise haben in-vitround in-vivo-Studien gezeigt, dass die untersuchten SNP des HNF1A-Gens die Insulinwirkung beeinflussen und dass ein kausaler Zusammenhang zu Erwachsenendiabetes, der im Jugendalter auftritt (MODY), besteht (17). Zu beachten ist, dass die systematische Übersichtsarbeit von Bayer et al. (7) nur Publikationen mit Gewichtsabnahme als phänotypischem Merkmal berücksichtigte und keine Studien zu anderen Merkmalen im Zusammenhang mit Adipositas wie BodyMass-Index (BMI) oder Körperfettanteil. Für 6 genetische Polymorphismen innerhalb des FTO-Genlocus wurde z. B. bei westlicher Ernährung ein Einfluss auf den BMI nachgewiesen (18). Diese Ergebnisse sind interessant, da das FTO-Gen die stärkste genetische Determinante für Adipositas ist, obwohl es nur für 1 Kilogramm zusätzliches Gewicht bei fettleibigen Personen verantwortlich zu sein scheint (19). Möglicherweise aufgrund des eher bescheidenen Effekts wurde in anderen Studien allerdings kein signifikanter Einfluss des FTO-Gens und der Ernährung auf Merkmale in Zusammenhang mit Adipositas nachgewiesen (20). Die Studie zum FTO-Gen ist insofern bemerkenswert, als sie genetische Polymorphismen in mehr als einem Allel untersuchte, was angesichts des polygenen Charakters von Adipositas sinnvoll ist. In diesem Sinne wird die Multi-Allel-Strategie jetzt von Nutrigenetikforschenden mit der Begründung bevorzugt, dass die Daten zu polygenetischen Scores zusammengefasst werden können, mit denen die Auswirkungen der Interaktion zwischen Genen und Ernährung auf phänotypische Merkmale besser abgeschätzt werden können. In einer retrospektiven Studie zeigten 2018 Cha et al. (21), dass eine positive Korrelation zwischen einem aus 100 genetischen Polymorphismen zusammengesetzten Score und der Neigung der Studienteilnehmenden bestand, bei einer kalorienreduzierten (44 SNP), kohlenhydratreduzierten (37 SNP) bzw. fettreduzierten (19 SNP) Ernährung sowie bei körperlicher Betätigung (25 SNP) Körperfett abzubauen. Diese Ergebnisse wurden kürzlich von derselben Gruppe in einer prospektiven Längsschnittstudie bis zu einem bestimmten Mass reproduziert (22). Die Autoren dieser zweiten Studie kamen jedoch zu dem Schluss, dass ihre Ergebnisse mit einer unabhängigen Kohorte validiert werden müssen. Interessanterweise betrug in den oben genannten Studien (21, 22) der Unterschied bezüglich der Abnahme an Körperfett zwischen den genetischen Gruppen weniger als 1 Ki-
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logramm, was darauf hindeutet, dass selbst Ernährungsstrategien, die einen erheblichen Teil des genetischen Beitrags zu Adipositas berücksichtigen, nur bescheidene Auswirkungen auf die Gewichtsabnahme haben. Da der genetische Beitrag zu Adipositas auf 40 bis 70 Prozent geschätzt wird, sollten die Auswirkungen der Umwelt, deren Beitrag damit bei den restlichen 30 bis 60 Prozent liegt, ebenfalls in das personalisierte Management der Gewichtsabnahme einbezogen werden (23).
Ethik und Gesetzgebung
Oft werden medizinisch relevante Gene und SNP von Anbietern nutrigenetischer Tests analysiert, was offensichtliche sowie kritische ethische und regulatorische Fragen aufwirft. Die Verwendung der Ergebnisse muss sorgfältig abgewogen werden. Gegenwärtig wird in der Schweiz die Gesetzgebung im Zusammenhang mit genetischen Tests überarbeitet, und die revidierte Verordnung über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMV) wird demnächst in Kraft treten (24). Einige für nutrigenetische Tests relevante Punkte dieser Verordnung sind im Kasten wiedergegeben. Die Anwendung der neuen Bestimmungen der GUMV auf einige der in diesem Artikel vorgestellten Fälle ist aufschlussreich: Ein Gentest zur LI würde in den medizinischen Bereich fallen und könnte nur von Ärzten bei Patienten durchgeführt werden. Dagegen würde ein HNF1A-Test mit dem Ziel einer Gewichtsabnahme ausserhalb des medizinischen Bereichs liegen und könnte den Kunden über die Ernährungsberatung angeboten werden, unter der Bedingung allerdings, dass keine Informationen zu Risiken oder Krankheiten im Zusammenhang mit der untersuchten Genvariante abgegeben werden. Bemerkenswerterweise sind die in der nutrigenetischen Forschung analysierten HNF1A-Polymorphismen unabhängig vom Ernährungsverhalten mit einem erhöhten Risiko für Adipositas und Diabetes verbunden (17). Daraus ergeben sich hohe Ansprüche an die Art und die Qualität der Informationen, welche die Ernährungsberatung oder die Anbieter nutrigenetischer Tests ihren Kunden abgeben. Der aktuelle Trend zu Gentests in Bereichen ausserhalb der Medizin, z. B. in Ernährung, Forensik oder Genealogie, hat die Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung, TA Swiss, veranlasst, eine Forschungsarbeit zu diesem Thema zu finanzieren, die in Form des Buchs «Neue Anwendungen der DNA-Analyse: Chancen und Risiken» veröffentlicht wurde (10). In Bezug auf nutrigenetische Tests kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es an Informationen zu den Tests mangelt, die es den Kunden ermöglichen würden, fundierte Entscheidungen über den Kauf dieser Leistungen zu treffen. Sie wiesen ausserdem darauf hin, dass die Testergebnisse und die vorgeschlagenen Diäten nicht nur kaum aussagekräftig seien, sondern sogar negative Auswirkungen auf das Verhalten der Kunden haben könnten (z. B. «Da ich gute Gene habe, muss ich mir keine Gedanken über meine Ernährung machen.»).
Kasten:
Ausgewählte Information aus der Verordnung
Art. 1. Die Verordnung regelt die Berechtigung zur Veranlassung genetischer Untersuchungen im medizinischen Bereich und genetischer Untersuchungen zur Abklärung besonders schützenswerter Eigenschaften der Persönlichkeit ausserhalb des medizinischen Bereichs.
Art. 4 Wer im Rahmen von genetischen Untersuchungen genetische Daten bearbeitet, muss sicherstellen, dass der Schutz der Daten insbesondere vor unbefugter oder versehentlicher Bekanntgabe, Veränderung, Löschung, Erstellung von Kopien sowie vor Verlust gewährleistet ist.
Art. 35 Genetische Untersuchungen physiologischer Eigenschaften wie genetische Untersuchungen des Stoffwechseltyps, die dazu dienen, mittels geeigneter Ernährung das Körpergewicht zu regulieren, Untersuchungen betreffend die Neigung zu Übergewicht, Untersuchungen zur Reaktion des Körpers auf Stoffe wie Alkohol, Nikotin, Koffein und Umweltgifte gehören zu genetischen Untersuchungen besonders schützenswerter Eigenschaften der Persönlichkeit ausserhalb des medizinischen Bereichs. Sie dürfen keine Auskunft geben über allfällige Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands der betroffenen Person oder über andere medizinisch relevante Eigenschaften. Abklärungen von Nahrungsmittelunverträglichkeiten gelten als Untersuchungen im medizinischen Bereich.
Art. 37 Genetische Untersuchungen zur Abklärung von physiologischen Eigenschaften im Ernährungsbereich dürfen von Ernährungsberater/innen FH veranlasst werden.
Klinischer Nutzen von genetischen Tests
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die aktuelle Wissenschaft zur Nutrigenetik von hoher Qualität und wichtig ist, um den menschlichen Stoffwechsel und die Gesundheit besser zu verstehen. Die klinische Forschung und die Grundlagenforschung haben eindeutig gezeigt, dass Ernährung und Gene zusammenwirken und Einfluss auf die menschliche Physiologie haben (18). Doch selbst wenn sich die wissenschaftliche Qualität der nutrigenetischen Forschung durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zeigt, müssen sowohl die klinische Validität als auch der Nutzen von nutrigenetischen Tests in grösseren Kohorten nachgewiesen werden, bevor diese Tests die Gesundheit der Konsumenten wesentlich beeinflussen können. Der Nachweis der klinischen Validität nutrigenetischer Tests bedeutet, dass die Auswirkungen spezifischer Gen-Diät-Wechselwirkungen, z. B. auf die Gewichtsabnahme, in einer Reihe von gut konzipierten, randomisierten und kontrollierten Studien in verschiedenen Populationen reproduzierbar beobachtet werden. Mit Ausnahme einiger weniger Fälle, wie LI und PKU, konnte die Validität bisher für die von der Nutrigenetikforschung untersuchten Gen-DiätPhänotyp-Systeme nicht nachgewiesen werden. Die Verwendung von polygenen Scores anstelle der Untersuchung einzelner Gene könnte diese Entwicklung in Zukunft erleichtern. Sehr oft wird der Einfluss der Wechselwirkungen zwischen Genen und Ernährung auf phänotypische Merkmale nur aufgrund statistischer Assoziationen festgestellt, und die Kausalität wird nicht untersucht. Der Mangel an Studien zum Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen birgt die Gefahr, dass Gen-Diät-Phänotyp-Systeme identifiziert werden, bei denen keine ursächlichen
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Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Klazine van der Horst Departement Gesundheit, Ernährung und Diätetik, Berner Fachhochschule, Bern; E-Mail: klazine.vanderhorst@ bfh.ch Prof. Dr. Ferdinand von Meyenn Labor für Ernährung und Metabolische Epigenetik, Institut für Lebensmittelwissenschaften, Ernährung und Gesundheit, Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie, ETH Zürich, Zürich; E-Mail: vonmeyenn@hest.ethz.ch Dr. Serge Rezzi Swiss Nutrition and Health Foundation, Epalinges; E-Mail: serge.rezzi@ nutritionhealthfoundation.ch PD Dr. Guy Vergères Agroscope, Bern; E-Mail: guy.vergeres@ agroscope.admin.ch
Zusammenhänge bestehen und die deshalb aus klinischer Sicht irrelevant sind. Schliesslich ist es wichtig zu erkennen, dass nicht genetische Faktoren bei der personalisierten Ernährung berücksichtigt werden müssen. So wurde kürzlich nachgewiesen, dass die epigenetische Regulierung der Genexpression und der mikrobielle Stoffwechsel im Verdauungstrakt die Auswirkungen der Ernährung auf den menschlichen Stoffwechsel, einschliesslich Adipositas, stark beeinflussen (25). Selbst bei nachgewiesener klinischer Validität müsste noch der klinische Nutzen nutrigenetischer Tests gezeigt werden. Wegen der schweren pathophysiologischen Auswirkungen der PKU ist es z. B. sinnvoll, Neugeborene auf diesen metabolischen Risikofaktor zu testen. Schlechter nachvollziehbar ist es dagegen, dass Personen im Rahmen eines Programms zur Gewichtsreduktion auf genetische Variationen in Hunderten von Genen getestet werden, wenn der mögliche Nutzen einer auf ihrem genetischen Profil basierenden Diät nur in der Gewichtsabnahme von 1 Kilogramm besteht – insbesondere da ihr genetisches Profil eine Reihe von Krankheitsrisiken aufzeigen könnte, die Ernährungsberater und andere nicht medizinische Anbieter ihnen wegen der geltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht mitteilen dürften. Voraussetzung für eine sinnvolle Anwendung nutrigenetischer Tests sollte deshalb die Empfehlung im Rahmen der ärztlichen Betreuung sein. Das würde bedeuten, dass nutrigenetische Tests mit dem Ziel einer Gewichtskontrolle nicht mehr dem nichtmedizinischen, sondern dem medizinischen Bereich gemäss GUMV zugeordnet würden.
Zukünftige Ernährungsforschung
Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die Ernährungsforschung derzeit in einer sehr spannenden Phase befindet und durch neue Erkenntnisse in Molekularbiologie und Bioinformatik vorangetrieben wird. Die Nutrigenetik ist ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Entwicklung und zweifellos ein Bereich, der in Zukunft interessante Ergebnisse liefern wird. Damit die Ergebnisse nutrigenetischer Tests in einem Vertrauensverhältnis an die Konsumentinnen und Konsumenten kommuniziert werden können, müssen jedoch die Grenzen berücksichtigt werden. Ausserdem müssen die klinische Validität und der Nutzen nutrigenetischer Tests, unabhängig von der Attraktivität des Marktes für Anbieter genetischer Dienstleistungen und Technologien, nachgewiesen werden. Diese Überlegungen werfen die provokative Frage auf,
ob Fachleute aus der Ernährungsberatung und der Ernährungsforschung bereit sind, aufgrund des aktuellen Wissensstands zu diesen Tests beizutragen.
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