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ERNÄHRUNG UND DEMENZ
Ernährung bei fortgeschrittener Demenz
Simeon Schietzel, Florian Riese
Bei einer demenziellen Erkrankung tritt mit Fortschreiten der Erkrankung bei Betroffenen häufig ein körperlicher Substanzverlust im Sinne einer Gebrechlichkeit auf, der zumindest teilweise auf einer inadäquaten Ernährung beruht. Dies erfüllt Angehörige und Fachpersonal nicht selten mit Sorge. Betreuerisch ist eine suffiziente Ernährung das Ziel, allerdings schränkt die fortgeschrittene demenzielle Erkrankung das Bedürfnis nach Essen und Trinken oftmals ein. Zudem sind die Urteilsfähigkeit und die Fähigkeit beeinträchtigt, über den eigenen Zustand Auskunft zu geben. Dieser Artikel beleuchtet die diagnostischen, therapeutischen, rechtlichen, sozialen und auch praktischen Aspekte einer adäquaten Ernährung bei fortgeschrittener Demenz.
Simeon Schietzel
Fortgeschrittene Demenz bezeichnet die Spätphase der Erkrankung, die mittel- und schwergradige Demenz bis hin zum Endstadium. In dieser Phase besteht bei den Betroffenen ein hoher Pflege- und Betreuungsaufwand, da sie in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens weitgehend auf fremde Hilfe angewiesen sind – auch im Bereich der Ernährung. Aus internationalen Studien ist bekannt, dass ein Zusammenhang zwischen Gewichtsverlust und Demenzschweregrad besteht (1, 2). Unsere eigenen Daten aus Schweizer Pflegeheimen zeigen, dass praktisch alle Pflegeheimbewohner mit fortgeschrittener Demenz Unterstützung bei der Ernährung benötigen (Abbildung 1). Die Ursachen dafür sind vielfältig und individuell sehr unterschiedlich, beruhen aber doch zumeist auf den demenzassoziierten kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensveränderungen und auf einer allfällig begleitenden Multimorbidität. Einige konkrete Beispiele für Ernährungsschwierigkeiten sind: «Vergessen zu essen oder zu trinken», Schwierigkeiten, mit Besteck zu essen bei zunehmender Apraxie, schwere Agitation, Kau- oder Schluckstörungen. Angesichts solch unterschiedlicher Ursachen ist es verständlich, dass die zu wählenden Massnahmen sehr unterschiedlich sein können – und durchaus nicht immer zum Erfolg führen werden (Fallbeispiel in Abbildung 2). Um angesichts der oft komplexen Problematik sinnvolle Massnahmen treffen zu können, ist zunächst eine Beschreibung und Analyse anhand konkreter Situationen erforderlich. Eine detaillierte Beschreibung von Pflegefachkräften wie: «Es ist schon schwierig, Herrn X überhaupt in den Speisesaal zu begleiten, weil er umherläuft. Wenn er erst einmal am Tisch sitzt, kann er nicht allein essen. Ich zerschneide ihm
dann das Essen, aber er ist schon wieder aufgestanden und weggegangen. Den Cake zum Zvieri nimmt er regelmässig einfach mit und isst ihn im Gehen», ermöglicht ein anderes Vorgehen als «Herr X isst nicht richtig.» Oft kommen auch von Angehörigen wichtige Hinweise, oder es ergeben sich in der Verhaltensbeobachtung oder der körperlichen Untersuchung weiterführende Anhaltspunkte.
Diagnostischer Prozess bei Ernährungsproblemen
Florian Riese
Konkret orientiert sich der diagnostische Prozess bei
Ernährungsproblemen im Rahmen fortgeschrittener
Demenzen an den im Kasten skizzierten Faktoren.
Sorgfältige Fremdanamnese und körperliche Unter-
suchung sind essenziell, ebenso wie die wiederholte
direkte Beobachtung der Problematik. Im Verlauf
können auch empirische Behandlungsversuche zum
Beispiel im Sinne eines probatorischen Schmerzmit-
teleinsatzes oder Antiemetikums sinnvoll sein. Selbst-
verständlich besteht das diagnostische Hauptanliegen
darin, modifizierbare Faktoren zu finden
(z.B. Obstipation, Schmerzen im Mundbe-
reich, ungeeignete Kostform usw.), während unmodifizierbare Faktoren allenfalls teilkompensiert werden können (z.B.
Alimentation en cas de démence avancée
Apraxie durch Fingerfood oder Essenseingabe). Eine sehr wirkungsvolle Intervention ist häufig die Information und Schulung von Angehörigen, gerade wenn diese
Mots-clés: modifications comportementales – fragilité – comportement alimentaire insuffisant – approche de traitement palliatif
viel Zeit mit dem Betroffenen verbringen. Der Unterstützungsbedarf macht darüber hinaus deutlich, dass Ernährung bei fortgeschrittener Demenz nicht selbstständig und autonom erfolgt, sondern ein inter-
L’article illustre les aspects diagnostiques, thérapeutiques, juridiques et sociaux ainsi que pratiques d’une alimentation adéquate en cas de démence avancée.
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ERNÄHRUNG UND DEMENZ
Abbildung 1: Ernährungssituation bei Schweizer Pflegeheimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz (Quelle: RAI-MDS-Datensatz der ZULIDAD-Studie)
Abbildung 2: Gewichtsverlauf eines 75-jährigen Patienten mit fortgeschrittener Demenz und schwerer Agitation (Bewegungsunruhe). Selbst unter Berücksichtigung der individuellen Ernährungspräferenzen, flexiblen Essenszeiten, Einsatz von hochkalorischer Trinknahrung und Fingerfood, täglichem mehrstündigem Einsatz der Ehefrau und Ernährungsunterstützung im Gehen konnte der errechnete Grundumsatz von etwa 1270 kcal/Tag auf einer spezialisierten Demenzspitalabteilung (Aufenthalte hellblau hinterlegt) kaum gedeckt werden. Bei aktimetrisch gemessener durchschnittlicher Schrittzahl von 15 500 pro Tag (entsprechend 7 bis 16 km täglicher Gehstrecke) lag der tatsächliche Energiebedarf bei rund 2500 bis 3000 kcal/Tag mit folglich schwer negativer Energiebilanz.
Tabelle:
Einflussfaktoren auf die Ernährung bei fortgeschrittener Demenz
Persönliche Faktoren • Präferenzen oder Essgewohnheiten
(z.B. kein Frühstück, vegetarisch) • Schmerz • Mundgesundheit (z.B. Prothesensitz) • Gastrointestinale Beschwerden
(z.B. Nausea, Obstipation) • Wohlbefinden/unerfüllte Bedürfnisse • Kognitiver und motorischer Zustand • Appetitlosigkeit wegen Medikamenten
Umgebungsfaktoren • Essensförderliche Atmosphäre:
– Speisesaal – Restaurant – Gesellschaft – Esstisch • Ablenkungen vermeiden • Foodstations • Essen im Laufen eingeben • Flexibilität der Essenszeiten
Nahrungsfaktoren • Kostform:
– püriert – eingedickt – visuell verständlich – Fingerfood • Präferenzen (z.B. süss) • Komplexität des Menüs • Adäquate Würzung • Qualität der Nahrung
Unterstützende Faktoren • Personenzentrierung • Verfügbare Zeit
(z.B. um später wiederzukommen) • Erfahrung • Fertigkeiten und Kenntnisse • Innere Einstellung/Werte • Kreativität
personales Geschehen ist. Beteiligt ist zunächst die – in der Regel nicht mehr urteilsfähige – an fortgeschrittener Demenz erkrankte Person, die allerdings in der konkreten Situation durchaus noch ihren Willen äussert (z.B. durch Hingreifen zum Essen oder Verschliessen des Mundes). Zweitens sind pflegerisches Fachpersonal oder Angehörige involviert, die in der konkreten Ernährungssituation Unterstützung leisten. Angehörige oder Beistände sind zusätzlich in ihrer Funktion als medizinische Entscheidungsvertreter beteiligt. Zuletzt haben auch Ärzte, Ernährungsberater sowie Hotellerie und Küche von Institutionen Einfluss auf die Ernährung. Anhand dieser Aufzählung wird erkennbar, dass rund um die Frage der Ernährung ein Spannungsfeld aus unterschiedlichen Sichtweisen entstehen kann. Durch Ernährung wird beispielsweise auch Zuwendung ausgedrückt. Es bestehen Ängste bezüglich Verhungern oder Verdursten (lassen). Fachleute sehen sich in einer Versorgungsverantwortung, und Institutionen haben ihre schwer veränderbaren Abläufe. Ein Ausgleich in diesem Spannungsfeld lässt sich nur durch fortlaufenden Austausch unter allen Beteiligten erreichen. Grundlagen im Austausch und der Entscheidungsfindung sind der Respekt vor dem beobachtbaren, mutmasslichen oder in der Patientenverfügung niedergelegten Patientenwillen, zudem die Besinnung auf das Patientenwohl und ein Verständnis für die begrenzte Lebenserwartung. Unrealistische Therapieziele müssen hinterfragt werden, da das Festhalten an ihnen invasive, belastende medizinische oder pflegerische Massnahmen oder sogar den Einsatz von Zwang erfordern würde. Das Wohlbefinden steht in dieser Erkrankungsphase als Behandlungsziel im Vordergrund. Die Zusammensetzung der Ernährung in Bezug auf Makro- und Mikronutrienzien wird weniger wichtig. Eine verringerte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ist Teil des Lebensendes und der damit verbundene Gewichtsverlust ein Prädiktor für die Sterbewahrscheinlichkeit (3–5). Ob dabei dieser Gewichtsverlust einer terminalen Verschlechterung ursächlich vorausgeht oder ob beide Folge eines unterliegenden Sterbeprozesses sind, ist Gegenstand aktueller Forschung (6). Darüber hinaus scheint ein niedriger Body-Mass-Index (BMI) auch ein Langzeitprädiktor für Mortalität bei Demenz zu sein (7). Im Sinne eines palliativen Behandlungsansatzes betonen die neuen medizinethischen Richtlinien «Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz» der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaft (SAMW), dass die Anlage einer PEG-Sonde (PEG steht für perkutane endoskopische Gastrostomie) zur Sicherstellung der Ernährung bei fortgeschrittener Demenz nicht sinnvoll ist (8). Dies gilt insbesondere deshalb, weil es keine Hinweise darauf gibt, dass PEG-Sonden die Sterblichkeit reduzieren, das Wohlbefinden fördern oder das Eintreten von Komplikationen wie Pneumonien verringern oder die Mortalität beeinflussen (9, 10). Unsere eigenen, unveröffentlichten Daten aus der ZULIDAD-Studie (The
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Zurich Life and Death with Advanced Dementia Study) zeigen, dass PEG-Sonden in Schweizer Pflegeheimen zu diesem Zweck kaum zum Einsatz kommen (< 2% gemäss RAI-MDS-Daten). Auch in den USA ist der Einsatz bei fortgeschrittener Demenz stark zurückgegangen, betrifft aber immer noch 5,7 Prozent der Pflegeheimbewohner mit Demenz (11). Der Einsatz von nasogastralen Ernährungssonden wird von Patienten als eher noch belastender beschrieben (12) und sollte deswegen nur im Sonderfall zum Einsatz kommen. In ähnlicher Weise gilt Zurückhaltung beim Einsatz von künstlicher Flüssigkeitszufuhr. Besteht zusätzlich zur Demenz ein Delir oder eine sonstige akute Komplikation, kann eine vorübergehende intravenöse oder subkutane Substitution gerechtfertigt sein. Nicht sinnvoll ist jedoch eine dauerhafte Infusionstherapie der nicht mehr trinkenden Person mit Demenz im Endstadium. Zwar liegen keine Daten aus randomisierten Studien bei Demenz vor, bei onkologischen Palliativpatienten mit unzureichender Flüssigkeitszufuhr zeigte sich aber durch Infusionstherapie weder ein Überlebensvorteil noch eine bessere Symptomkontrolle (13, 14). Palliative Massnahmen wie intensivierte Mundpflege stehen hier stattdessen eher im Vordergrund. Selbstverständlich muss Personen mit fortgeschrittener Demenz, die eine Nahrungsaufnahme ablehnen, aber immer wieder auf geeignete Weise Essen und Trinken angeboten werden. Dies darf gemäss den SAMW-Richtlinien auch nicht durch eine Patientenverfügung von vornherein untersagt werden (8). Umgekehrt ist die beobachtete Ablehnung eines konkreten Essensangebots auch bei der durch Demenz urteilsunfähigen Person eine Willensäusserung, die in der Situation respektiert werden muss. Die Ablehnung rechtfertigt keinesfalls therapeutischen Nihilismus, sondern ist als Ausgangspunkt des diagnostischen Prozesses, allfälliger Interventionsversuche und einer gemeinsamen Klärung der Gesamtsituation zu verstehen, wie sie hier in diesem Artikel skizziert wurde. Literatur: 1. Albanese E, Taylor C, Siervo M, Stewart R, Prince MJ, Acosta D: Dementia severity and weight loss: a comparison across eight cohorts. The 10/66 study. Alzheimers Dement 2013 Nov; 9(6): 649–656. 2. Luchsinger JA, Patel B, Tang MX, Schupf N, Mayeux R: Body mass index, dementia, and mortality in the elderly. J Nutr Health Aging 2008 Feb; 12(2): 127–131. 3. Locher JL, Roth DL, Ritchie CS, Cox K, Sawyer P, Bodner EV et al.: Body mass index, weight loss, and mortality in community-dwelling older adults. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2007 Dec; 62(12): 1389–1392. 4. Mitchell SL, Miller SC, Teno JM, Kiely DK, Davis RB, Shaffer ML: Prediction of 6-month survival of nursing home residents with advanced dementia using ADEPT vs hospice eligibility guidelines. JAMA 2010 Nov 3; 304(17): 1929–1935. 5. de van der Schueren MAE, de Smoker M, Leistra E, Kruizenga HM: The association of weight loss with one-year mortality in hospital patients, stratified by BMI and FFMI subgroups. Clin Nutr 2017 Aug 31. pii: S02615614(17)30307-2. doi: 10.1016/j.clnu.2017.08 .024. (Epub ahead of print). 6. Alley DE, Metter EJ, Griswold ME, Harris TB, Simonsick EM, Longo DL et al.: Changes in weight at the end of life: characterizing weight loss by time to death in a cohort study of older men. Am J Epidemiol 2010 Sep 1; 172(5): 558–565. 7. Faxén-Irving G, Basun H, Cederholm T: Nutritional and cognitive relationships and long-term mortality in patients with various dementia disorders. Age Ageing 2005 Mar; 34(2): 136–141. 8. SAMW: Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz. 2017 Dec. www.samw.ch/dam/jcr:8859a70b-7c464796.../richtlinien_samw_demenz.pdf 9. Finucane TE, Christmas C, Travis K: Tube feeding in patients with advanced dementia: a review of the evidence. JAMA 1999 Oct 13; 282 (14): 1365–1370. 10. Sampson EL, Candy B, Jones L: Enteral tube feeding for older people with advanced dementia. Cochrane Dementia and Cognitive Improvement Group, editor. Cochrane Database Syst Rev. John Wiley & Sons, Ltd; 2009 Apr 15; 20(2): CD007209. 11. Mitchell SL, Mor V, Gozalo PL, Servadio JL, Teno JM: Tube Feeding in US Nursing Home Residents With Advanced Dementia, 2000–2014. JAMA, American Medical Association; 2016 Aug 16; 316 (7): 769–770. 12. Gomes CAR, Andriolo RB, Bennett C, Lustosa SAS, Matos D, Waisberg DR et al.: Percutaneous endoscopic gastrostomy versus nasogastric tube feeding for adults with swallowing disturbances. Cochrane Upper GI and Pancreatic Diseases Group, editor. Cochrane Database Syst Rev. John Wiley & Sons, Ltd; 2015 May 22; 194(5): CD008096. 13. Morita T, Hyodo I, Yoshimi T, Ikenaga M, Tamura Y, Yoshizawa A et al.: Association between hydration volume and symptoms in terminally ill cancer patients with abdominal malignancies. Ann Oncol 2005 Apr; 16(4): 640–647. 14. Bruera E, Hui D, Dalal S, Torres-Vigil I, Trumble J, Roosth J et al.: Parenteral hydration in patients with advanced cancer: a multicenter, double-blind, placebo-controlled randomized trial. Journal of Clinical Oncology 2013 Jan 1; 31(1): 111–118. Korrespondenzadresse: Dr. med. Florian Riese Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Alterspsychiatrie Oberarzt Lenggstrasse 31 8032 Zürich E-Mail: florian.riese@bli.uzh.ch Keine Interessenkonflikte. Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2018 15