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ERNÄHRUNG UND SPORT
Essstörungen im Leistungssport: Risikofaktoren, Symptome und Therapieoptionen
1 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich – Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik 2 Forelhaus Zürich
Robin Halioua1, Simon Manuel Ewers2, Malte Christian Claussen1
Im Leistungssport gehören gestörtes Essverhalten und Essstörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und die Prävalenzen variieren in Abhängigkeit von Sportart und Geschlecht. Die Risikofaktoren lassen sich in allgemeine, geschlechtsspezifische sowie sportspezifische und nicht sportspezifische Faktoren einteilen. Ein wesentlicher Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung gestörten Essverhaltens ist die Körperbildstörung. Die unterschiedlichen Phänotypen von Essstörungen im Sport lassen sich auf dem Konzept der «Female Athlete Triad» und auf dem Kontinuum gestörten Essverhaltens abbilden. Neben den klassischen Essstörungen nach ICD-10 und DSM-5 spielen im Leistungssport weitere Phänotypen gestörten Essverhaltens eine wichtige Rolle. Das Vorgehen setzt sich aus Screening, Diagnostik, Risikostratifizierung und Planung der Behandlungsschritte unter Einbezug von Athlet und dessen Umfeld zusammen.
Prävalenzraten und Risikofaktoren
Für weibliche und männliche Athleten wurde, verglichen mit Nichtathleten, eine höhere Prävalenz des gesamten Spektrums gestörten Essverhaltens berichtet (1) (Kasten 1); das Risiko variiert dabei in Abhängigkeit von Sportart und Geschlecht (1, 2). In Ballsportarten, in denen Figur und Gewicht als weniger wichtig erachtet werden, weisen weibliche Athleten ein geringes Risiko auf, ein gestörtes Essverhalten zu entwickeln, dieses ist aber nach wie vor höher als bei Nichtathleten (3). Frauen in ästhetischen Sportarten wie beispielsweise Rhythmischer Sportgymnastik weisen ein besonders hohes Risiko für eine Essstörung auf (4). Studien an norwegischen Eliteathleten berichteten Essstörungs-Prävalenzraten (Bulimia nervosa,
Troubles alimentaires et sport de haut niveau: Facteurs de risque, symptômes et options thérapeutiques
Mots-clés: «female athlete triad» – «male athlete triad» – facteurs de risque – trouble de l’image corporelle – troubles alimentaires classiques et troubles spécifiques du sport
Les comportements alimentaires perturbés et les troubles alimentaires comptent parmi les pathologies psychiques les plus fréquentes chez les sportifs de haut niveau, les prévalences variant en fonction du type de sport et du sexe. Les facteurs de risque peuvent être habituellement répartis en facteurs spécifiques par sexe ainsi qu’en facteurs spécifiques du sport et non spécifiques du sport. Un facteur essentiel pour l’apparition et la persistance d’un comportement alimentaire perturbé est la présence d‘un trouble de l’image corporelle. Les différents phénotypes de troubles alimentaires liés au sport peuvent être décrits à partir du concept de «female athlete triad» (triade de la femme athlète) et du continuum des comportements alimentaires perturbés. A côté des troubles alimentaires classiques selon l‘ICD-10 et le DSM-5, d’autres phénotype de comportement alimentaire perturbé jouent un rôle important.
Anorexia nervosa, Anorexia athletica) von mehr als 30 Prozent für Athleten in ästhetischen Sportarten und 11 Prozent in Ballsportarten (3, 5). Ähnliche Ergebnisse wurden in einer Studie an australischen Eliteathleten berichtet (6). Schaal et al. konnten in einer weiteren Untersuchung an französischen Eliteathleten Geschlechtsunterschiede im Auftreten der Essstörung in Abhängigkeit der Sportart zeigen. Die höchste Prävalenz berichteten sie bei Frauen in Ausdauersportarten (14%) und in ästhetischen Sportarten (14%) und bei Männern in den Gewichtsklassesportarten Ringen und Boxen (7%) (7). Befunde bei norwegischen Eliteathleten zeigten bei Männern die höchste Prävalenz in Antigravitations-Sportarten (22%) und bei Frauen in ästhetischen Sportarten (42%) (5). Eine jüngst veröffentlichte Metaanalyse konnte dagegen keine signifikanten Unterschiede der Symptome gestörten Essverhaltens männlicher Athleten verglichen mit Nichtathleten zeigen (8). Signifikante, moderate Effekte wurden aber in Hinblick auf die Sportart berichtet, so wiesen ebenfalls Ringer eine grössere Inzidenz gestörten Essverhaltens auf. Bis dato fehlen prospektive kontrollierte Langzeitstudien, die eine eindeutige Bestimmung von relevanten Risikofaktoren für ein gestörtes Essverhalten im Leistungssport ermöglichen. Eingeteilt werden können die diskutierten Risikofaktoren für die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens oder einer Essstörung im Sport in allgemeine und geschlechtsspezifische Risikofaktoren, prädisponierende Faktoren, Triggerfaktoren und aufrechterhaltende Faktoren (1) sowie in sportspezifische und nicht sportspezifische Risikofaktoren (1, 11, 12) (Kasten 2).
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Die prädisponierenden Faktoren entsprechen den allgemeinen, nicht sportspezifischen Risikofaktoren gestörten Essverhaltens. Typische Triggerfaktoren sind Diäthalten und Gewichtsschwankungen, frühe Aufnahme sportspezifischen Trainings, traumatische Ereignisse (Verletzungen), Regeln und Regularien sowie Doping. Einige dieser Risikofaktoren treten auch ausserhalb des Sports auf, es wurde jedoch vorgeschlagen, dass die Sportumgebung Athleten anfälliger für diese Risikofaktoren im Vergleich zu Nichtathleten machen könnte (13). Die aufrechterhaltenden Faktoren beinhalten das Trainingsverhalten oder sich nach einem ersten Gewichtsverlust einstellende Erfolge beziehungsweise Leistungssteigerungen. Eine andere Einteilung der Risikofaktoren im Sport ist die in sportspezifische Risikofaktoren und nicht sportspezifische Risikofaktoren (1, 11, 12). Es wird angenommen, dass das erhöhte Risiko von Athleten, ein gestörtes Essverhalten zu entwickeln, durch die sportspezifischen Risikofaktoren (Kasten 2) getriggert wird (14).
Körperbildstörung bei Athleten
Ein wesentlicher Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung gestörten Essverhaltens sowohl bei Athleten als auch Nichtathleten ist die Ausbildung einer Körperbildstörung. Während das vorherrschende Schönheitsideal für die Frauen einen vorwiegend schlanken Körper vorsieht, gilt für die Männer eine austrainierte Muskulatur als erstrebenswert. Ein niedriger Körperfettanteil ist sowohl dem Schönheitsideal der Frauen als auch dem der Männer gemeinsam. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, wieso sich normalgewichtige Frauen eher als zu dick und normalgewichtige Männer sich eher als zu dünn wahrnehmen (15). Während Frauen also eher ein Schlankheitsbestreben aufweisen und versuchen, ein niedriges Gewicht zu erreichen, versuchen Männer durch den Aufbau von Muskulatur an Gewicht zuzunehmen. Diesen Unterschied gilt es zu berücksichtigen, wenn wir uns dem Thema der Körperbildstörung bei Athleten widmen.
Abbildung: «Female Athlete Triad». Komponenten beziehungsweise Spektren: Energieverfügbarkeit, Menstruationsstatus und Knochengesundheit (nach [21])
Als Körperbild definiert man die mentale Repräsentation des eigenen Körpers und der eigenen Figur sowie die Gefühle, Gedanken und das Verhalten, die mit dieser Repräsentation einhergehen (16). Körperbildstörungen sind ein zentrales Symptom von Essstörungen und stellen im DSM-5 ein notwendiges Kriterium für die Diagnose einer Essstörung dar. Zusammenfassend lässt sich die Körperbildstörung als störungstypischer Informationsverarbeitungsprozess gegenüber dem eigenen Körper verstehen, der für die Aufrechterhaltung der Körperunzufriedenheit von Bedeutung ist (17). Eine Körperbildstörung lässt sich hierbei in eine perzeptive, eine kognitiv-affektive und eine verhaltensbezogene Komponente unterteilen. Betroffene über- oder unterschätzen ihre eigenen Körpermasse (perzeptive Komponente), verspüren Ekel oder Ablehnung gegenüber dem eigenen Körper (kognitiv-affektive Komponente) oder weisen eine übertriebene Beschäftigung oder Vernachlässigung in Bezug auf den eigenen Körper auf (verhaltensbezogene Komponente) (17). Athleten sind aber nicht nur mit den Schönheitsidealen der Gesellschaft konfrontiert, sondern auch mit dem vorherrschenden Körperideal der jeweiligen Sportart (18). So unterliegen Athletinnen dem allgemeinen gesellschaftlichen Schlankheitsideal sowie zu-
Kasten 1:
Berichtete Prävalenz gestörten Essverhaltens und/oder Essstörungen im Leistungssport
Auswahl, aus (6). ISO-Ländercodes. KE, Klinische Evaluation/Interview; SB, Selbstbericht: Fragebogen. a Schaal et al., 2011 (7). b Torstveit et al., 2008 (9). c Sundgot-Borgen & Torstveit, 2004 (5). d Byrne & McLean, 2002 (6). e Johnson et al., 1999 (10).
Studie FRa NOb NOc AUd USe
Population (n; Alter)
KE SB
adoleszente und erwachsene, weibl. und männl. Eliteathleten X
(n = 2067; 12–35 Jahre)
adoleszente und erwachsene, weibl. Eliteathleten
X
(n = 186; 13–39 Jahre)
adoleszente und erwachsene, weibl. und männl. Eliteathleten X
(n = 120 bzw. 58; 15–39 Jahre)
adoleszente und erwachsene, weibl. und männl. Eliteathleten X
(n = 155 bzw. 108; 15–36 Jahre)
weibl. und männl. College-Athleten
X
(n = 562 bzw. 883; mean: 19,9 Jahre)
Prävalenz Essstörung (Lifetime): männl.: 4% (5,5%); weibl.: 6% (11,2%)
Essstörung (A = Athleten; K = Kontrollen): A (32,8%) < K (21,4%) Esstörung (A = Athleten; K = Kontrollen): weibl. A (20%) < weibl. K (9%) < männl. A (8%) < männl. K (0,5%) Essstörung (A = Athleten; K = Kontrollen): weibl. A (22%) < weibl. K (5,5%) < männl. A (4%) < männl. K (0%) klinische Essstörung (AN/BN): weibl.: 0/1,1%; männl.: 0/0% subklinische Essstörung (AN/BN): weibl. 2,85/9,2%; männl. 0/0,005%)
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sätzlich dem sportartspezifischen Druck, schlank zu sein, um sportlich erfolgreich zu bleiben (19). Für männliche Athleten muss dies etwas differenzierter betrachtet werden: Das gesellschaftliche Schönheitsideal für Männer beschreibt anders als bei Frauen keinen schlanken, sondern einen muskulösen Körperbau, dessen Auswirkung auf das Essverhalten jedoch bis anhin kaum untersucht wurde. Der sportartspezifische Druck, sich einer entsprechenden Körperform anzupassen, um die sportliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen, gilt für männliche Athleten jedoch ebenfalls. Hierbei zeigt sich deutlich, dass die Prävalenz von Essstörungen bei den Athleten am höchsten war, wo ein geringes Körpergewicht für die Leistungsfähigkeit entscheidend ist (5). Dies verdeutlicht die Rolle des schlanken Körperideals für die Entwicklung von Essstörungen sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Welchen Einfluss das Ideal eines muskulösen Körpers auf die Entwicklung von Essstörungen hat und welche Rolle ihm im Kontext des Hochleistungssports zukommt, ist bisher nicht untersucht. Die Körperideale aus Gesellschaft und Sport können bei Athletinnen und Athleten zu einer Körperunzufriedenheit führen, welche schliesslich in die Überzeugung mündet, dass Figur und Gewicht eine hohe Relevanz für sportlichen Erfolg haben. Tatsächlich stellt diese Überzeugung einen wesentlichen Risiko-
Kasten 2:
Risikofaktoren gestörten Essverhaltens und Essstörungen im Leistungssport (nach [1])
Allgemeine Risikofaktoren Biologie und Genetik • Genetik • Alter • Pubertärer Status Psychologie • Körperunzufriedenheit • Geringes Selbstwertgefühl • Persönlichkeitseigenschaften • Negative Emotionen Soziokulturell • Essstörungen in der Familie • Gruppendruck • Medieneinfluss • Mobbingerfahrungen Körperlicher und/oder sexueller Missbrauch Sportspezifische Risikofaktoren • Diät halten und Gewichtsschwankungen • Persönlichkeit (Perfektionismus, [Over-]Compliance, starke Leistungsorientierung,
Tendenz zu Zwanghaftigkeit) • Frühe Aufnahme sportspezifischen Trainings • Traumatische Ereignisse, Verletzungen • Trainerverhalten • Regeln und Regularien • Doping, Verwendung anabol-androgener Steroide Geschlechtsspezifische Risikofaktoren männlicher Athleten Streben nach einem muskulösen Körperbau Homosexualität
faktor für die Ausbildung einer Essstörung bei Athleten dar (20).
Gestörtes Essverhalten: «Female Athlete Triad» und «Male Athlete Triad»
Hilfreiche Modelle im Kontext von Essstörungen und gestörtem Essverhaltens im Sport sind die «Female Athlete Triad» und das Kontinuum gestörten Essverhaltens, auf welches sich die unterschiedlichen Phänotypen gestörten Essverhaltens gut abbilden lassen. Die «Female Athlete Triad» bezeichnet ein Konzept, dass die wechselseitige Beziehung von Energieverfügbarkeit, Menstruationsstatus und Knochengesundheit beschreibt (Abbildung) (21). Die Energieverfügbarkeit ergibt sich aus der Energieaufnahme durch Nahrung und den Energieaufwand durch Bewegung (22). Die klinischen Manifestationen der Triade und schwerwiegenden klinischen Endpunkte sind geringe Energieverfügbarkeit (mit/ohne klinisch manifeste Essstörung), funktionelle hypothalamische Amenorrhö und Osteoporose. Die Endpunkte der bestmöglichen Gesundheit sind die bestmögliche Energieverfügbarkeit, Eumenorrhö und bestmögliche Knochengesundheit. Sportlich aktive Mädchen und Frauen bewegen sich, abhängig von Ernährungs- und Bewegungsverhalten, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entlang der einzelnen Komponenten der Triade und weisen häufig nicht alle Zustände und klinischen Manifestationen gleichzeitig auf (21). Die Prävalenz aller drei schwerwiegenden klinischen Endpunkte der Triade wird auf lediglich 0 bis 16 Prozent geschätzt, wohingegen sich das Vorliegen von ein oder zwei Komponenten der Triade bei bestimmten Gruppen von Athleten 50 bis 60 Prozent nähert (22). Konsequenzen der Triade sind eine endotheliale Dysfunktion und verbundene kardiovaskuläre Effekte, Stressfrakturen und muskuloskelettale Verletzungen (22). Darüber hinaus hat eine andauernd zu geringe Energieverfügbarkeit einen Einfluss auf die körperliche Leistungsfähigkeit, da muskuloskelettale Verletzungen diese stark beeinflussen und die Teilnahme an Wettkämpfen verhindern können. Vanheest et al. berichteten, das Nachwuchseliteschwimmerinnen mit Störung des Menstruationszyklus und Hinweisen auf eine geringe Energieverfügbarkeit weniger leistungsfähig waren, verglichen mit ihren Kolleginnen mit normalem Zyklus (23). In neueren Untersuchungen wurden die schwerwiegenden klinischen Endpunkte auch bereits bei jugendlichen Athletinnen beschrieben (22). Dies ist besorgniserregend, da 90 Prozent der maximalen Knochenmasse mit 18 Jahren erreicht sind und Jugendliche während dieses Entwicklungszeitraums adäquate Ernährung und normale Hormonfunktion für eine optimale Knochenmineralisation benötigen (24). Entsprechend dem Konzept der «Female Athlete Triad», wurde auch eine «Male Athlete Triad» beschrieben, welche aus den Komponenten Energieverfügbarkeit (und Essverhalten), Testosteronstatus und Knochengesundheit besteht (1). Sie ist aber bisher kaum
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untersucht und findet seltener klinische Beachtung, möglicherweise auch weil die Störungen des reproduktiven Systems durch das erniedrigte Testosteron weniger offensichtlich sind als Störungen der Menstruation und daher häufig nicht erkannt werden (1). Das Kontinuum gestörten Essverhaltens beginnt mit «gesundem», orthorektischem Diäthalten, Reduktion der Energieaufnahme und sukzessivem Gewichtsverlust, schreitet dann fort mit restriktiven Diäten, chronischem Diäthalten, häufigen Gewichtschwankungen, Fasten, passiver Dehydration (z.B. Sauna und heissen Bädern), aktiver Dehydratation (z.B. dem Tragen von Trainingsanzügen während des Sports), Verwendung von Laxanzien und Diuretika, Einnahme von Diätpillen, Erbrechen und/oder exzessivem Sport.
Essstörungen im Leistungssport
Im Sport können die «klassischen» Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa nach ICD-10 oder DSM-5 und sportspezifische Phänotypen gestörten Essverhaltens unterschieden werden. Die klassischen Essstörungen entsprechen den schwerwiegenden klinisch relevanten Endpunkten des Spektrums der Energieverfügbarkeit und des Essverhaltens im Konzept der Triade (Abbildung) und des Kontinuums gestörten Essverhaltens und sind an anderer Stelle gut beschrieben (s. Literaturverzeichnis). Die sportspezifischen Phänotypen gestörten Essverhaltens werden im Folgenden beschrieben. Anorexia athletica: Pugliese et al. führten 1983 den Begriff Anorexia athletica (25) als Konzept einer sportinduzierten, subklinischen Essstörung ein, das durch Sundgot-Borgen in der Folge weiter modifiziert wurde (3) (Kasten 3). Exercise-Bulimie (Synonyme: Sport-Bulimie, WorkoutBulimie): Sie ist charakterisiert durch körperliche Aktivität als aktive kompensatorische Massnahme nach einem Essanfall, aber auch nach «normalem» Essen. Dabei werden ein ausgeprägter Wunsch und die Besessenheit nach Kompensation aller eingenommenen Kalorien mit exakter Berechnung der dafür nötigen Verbrennung berichtet. Die Bezeichnung ExerciseBulimie findet sich hauptsächlich in Internetforen und Sportzeitschriften und entspricht der Beschreibung der Bulimia nervosa. Adipositas athletica: Der Begriff Adipositas athletica wurde 2011 von Berglund et al. (26) eingeführt und bezeichnet eine sportspezifische Essstörung bei Athleten mit grosser Fettmasse. Beispiele hierfür finden sich im Sumōringen oder Freiwasser- und Langstreckenschwimmen. Dieses Konzept wird in Untergruppen unterteilt, basierend auf dem Vorliegen oder Fehlen der Absicht, das Körperfett an sich zu erhöhen. Ein weiterer Faktor ist die Absicht, sowohl die Körpermasse als auch physiologische Faktoren wie Stärke oder Ausdauer zu erhöhen. Orthorexie: Der Begriff Orthorexie wurde 1997 von Bratmann eingeführt und beschreibt eine starke Fixierung auf gesunde Ernährung (27) verbunden mit exzessiver und zeitaufwendiger Beschäftigung (28).
Die Orthorexie ist gegenwärtig keine klinische Diagnose, sondern wird mehr als eine gesundheitsbewusste Einstellung betrachtet. Erst in extremen Fällen ist die Fixierung auf eine gesunde Ernährung als pathologisch einzustufen, das heisst, wenn sehr restriktive Diäten ausgeführt werden, zahlreiche als schädlich angesehene Nahrungsmittel vermieden werden und soziale Isolation damit einhergeht (29).
Prävention, Diagnostik und Behandlung
Essstörungen sind schwere, zu Chronifizierung neigende psychische Erkrankungen, deren Behandlung oft mehrere Monate bis Jahre dauert. Der frühzeitigen Erfassung gestörten Essverhaltens kommt eine wichtige Rolle in der Behandlung und Prävention zu, da frühzeitige therapeutische Interventionen der Entwicklung einer voll ausgebildeten Essstörung entgegenwirken können. Eine entsprechende Schulung der Athleten, Eltern, Trainer, Betreuer und Funktionäre ist hierfür deshalb wichtig. Denn wie schnell ein Athlet mit einem gestörten Essverhalten erfasst wird, hängt wesentlich vom Wissen und der Aufmerksamkeit des den Sportler umgebenden Teams ab. Athleten sollten im Rahmen der sportärztlichen Eignungsuntersuchungen und/oder jährlichen Gesundheitsuntersuchungen gescreent werden (30). Hierzu stehen verschiedene Fragebögen zu Verfügung wie der EDI-2 (31) oder der «Female Athlet Triad»-Fragebogen des Schweizerischen Olympischen Verbandes. Weiterhin soll die Gewichtsentwicklung erhoben und bei plötzlicher Gewichtszunahme oder -abnahme eine genaue Anamnese des Essverhaltens durchgeführt werden. Um eine individuelle Risikoeinschätzung vorzunehmen, eignen sich diese Fragebögen jedoch weniger, da sie entweder keine sportspezifischen oder psychosozialen Risikofaktoren berücksichtigen (20). Ein Fragebogen, der die sportspezifischen Risikofaktoren für essgestörtes Verhaltens bei Sportlerinnen erfasst, ist
Kasten 3:
Kriterien der Anorexia athletica nach Pugliese et al. (25) und Sundgot-Borgen (3)
+ absolutes Kriterium; (+) relatives Kriterium; – kein Kriterium; a > 5% unter dem erwarteten Gewicht; b primäre Amenorrhö, sekundäre Amenorrhö, Oligomenorrhö; c selbstinduziertes Erbrechen, Laxanzienund/oder Diuretikaabusus (nach [24]).
Kriterien Gewichtsverlusta Verspätete Pubertät Menstruationsstörungenb Gastrointestinale Beschwerden Fehlen organischer Erkrankungen oder affektiver Störungen, die den Gewichtsverlust erklären könnten Körperschemastörung übertriebene Angst, zu dick zu werden Nahrungsverweigerung (< 5,028 106 J/Tag (< 1200 kcal/Tag) Abführverhaltenc Essanfälle Zwanghafte körperliche Betätigung Pugliese et al. (+) (+) – – + – + + – – – Sundgot-Borgen + (+) (+) (+) + (+) + + (+) (+) (+) Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2018 9 ERNÄHRUNG UND SPORT Neben dem psychiatrischen Assessment ist eine ausführliche somatische Abklärung durch den betreuenden Sport- oder/und Hausarzt erforderlich. der ATHLETE (32). Er liegt seit 2014 in leicht abgeänderter Version in deutscher Sprache vor (20). Er besteht aus verschiedenen Skalen, wobei sich die Skala «Körper und Sport» am besten zur Risikoabschätzung gestörten Essverhaltens eignen. Sie erfasst sowohl die Überzeugung der Sportler, dass das Aussehen für sportliche Leistung eine hohe Relevanz besitzt, als auch den Druck, einem gewissen Körperideal zu entsprechen. Für das Screening eignet sich diese Skala neben den bereits genannten sehr gut und sollten ebenfalls in die jährlichen Gesundheitsuntersuchungen miteingebunden werden. Ergibt sich im Screening der Verdacht auf ein gestörtes Essverhalten, empfiehlt sich das rasche und niederschwellige Hinzuziehen eines auf Essstörungen spezialisierten psychologischen oder psychiatrischen Psychotherapeuten, um eine umfangreiche Diagnostik inklusive klinischem Interview und ausführlicher psychiatrischer Anamneseerhebung durchzuführen. Neben dem psychiatrischen Assessment ist eine ausführliche somatische Abklärung durch den betreuenden Sport- oder/und Hausarzt erforderlich. Nach Screening und Diagnostik erfolgt in einem dritten Schritt die Risikostratifizierung, bei der das individuelle Risiko für den Athleten anhand seiner Gesamtsituation abgeschätzt wird (33). In sogenannten RoundTable-Gesprächen soll mit dem Athleten und den involvierten Betreuern/Trainern, Therapeuten, Eltern und gegebenenfalls Lehrpersonen das weitere Prozedere geplant und festgelegt werden. Oftmals muss hierbei über eine Begrenzung des Sports entschieden werden: Je nach Schweregrad des gestörten Essverhaltens muss die aktive Wettkampfteilnahme beschränkt oder gar ausgesetzt werden, da sie eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit darstellen und den Therapieprozess stark erschweren kann. Über das Ausmass des regulären Trainings muss ebenfalls entschieden werden, und dies soll individuell mit Athlet und Trainerstab besprochen werden (33). Ein wichtiges Ziel der Behandlung ist die Normalisierung des Essverhaltens, damit Essanfälle reduziert und eine allfällig geringe Energieverfügbarkeit durch Steigerung der Nahrungsaufnahme ausgeglichen werden kann. Hierbei spielt die enge Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten, Sport-/Allgemeinärzten und Ernährungsberatern eine wichtige Rolle. In einem weiteren Schritt sollen die auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren für die Essstörung besprochen und zusammen mit dem Athleten evaluiert werden. Da im Leistungssport vor allem Erfolge massgeblich sind, entwickeln viele Sportler eine Identität, welche durch Siege gestützt wird. Eine sportliche Niederlage kann somit auch eine Niederlage als Mensch bedeuten und den Sportler in seinem Selbstwert massiv erschüttern. Ein Anliegen der Therapie ist deshalb, den Athleten zur Ausbildung einer autonomen und selbstbewussten Persönlichkeit zu verhelfen, welche sich nicht ausschliesslich über sportliche Erfolge definiert (34). Korrespondenzadresse: Dr. med. Malte Christian Claussen Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Lenggstrasse 31, 8032 Zürich E-Mail: malte.claussen@puk.zh.ch Literatur: 1. Bratland-Sanda S, Sundgot-Borgen J: Eating disorders in athletes: overview of prevalence, risk factors and recommendations for prevention and treatment. European journal of sport science 2013; 13(5): 499–508. 2. Tenenbaum G, Eklund RC, editors: Handbook of sport psychology, 3rd ed. Wiley Online Library, 2007. 3. Sundgot-Borgen J: Prevalence of eating disorders in elite female athletes. International journal of sport nutrition 1993; 3(1): 29–40. 4. Thompson RA, Sherman RT: Eating disorders in sport, 1st ed. New York, Routledge, 2010. 5. Sundgot-Borgen J, Torstveit MK: Prevalence of eating disorders in elite athletes is higher than in the general population. 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