Transkript
PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Gewichtszunahme durch Psychopharmakotherapien – eine Herausforderung für die Ernährungsberatung
Helena Jenzer
Helena Jenzer1,2 Sandra Andrea Weber3, Nadia Leuenberger1, Jessica Stetter1, Leila Sadeghi1
Gewichtszunahmen sind eine häufige unerwünschte Wirkung pharmazeutischer Wirkstoffklassen zur Behandlung der Erkrankungen des Zentralnervensystems. Insbesondere sedierende Psychopharmaka sind oftmals (Mit-)Ursache von Gewichtszunahmen bei Klienten der Ernährungsberatung. Bei Kombinationstherapien, wie sie häufig in der Psychiatrie anzutreffen sind, wird die Interpretation zunehmend schwieriger und zur Herausforderung für das interdisziplinäre Team aus Gesundheits- und Medizinalpersonen. Ein interdisziplinärer Ansatz zur Abstimmung von Pharmakotherapie und Ernährung plus Diätetik ist deshalb ein valables Mittel, um die unerwünschten Wirkungen zu kontrollieren. Drei Fallbeispiele zeigen mögliche Vorgehensund Adaptationsweisen beim interdisziplinären Gewichtsmanagement in der Folge von Psychopharmakotherapien. Zur Fallbewertung sollten in jedem Fall die pharmakokinetischen und -dynamischen Situationen in Bezug auf Interaktionen im hepatischen Metabolismus durch die CYP-450-Isoenzyme und kompetitive Antagonismen an den Rezeptoren evaluiert werden.
Sandra Andrea Weber
Nadia Leuenberger
1 Berner Fachhochschule Gesundheit, aF&E Ernährung und Diätetik 2 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich 3 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Ernährungsberatung
Problemstellung
Die Ernährungsberatung stützt sich generell auf die mit den Patienten gemeinsam und individuell erstellte Gestaltung der Energie- und Nährstoffzufuhr, um das Ziel der Gewichtsanpassung zu erreichen. Dies wird schwierig bei iatrogen-pharmakologisch verändertem Appetitempfinden. Unter den relevanten Neurotransmittern nehmen die biogenen Amine (wie Acetylcholin, Katecholamine [Noradrenalin, Adrenalin, Dopamin], Serotonin) und die inhibitorischen Aminosäuretransmitter (wie GABA) in der Psychiatrie einen besonderen Stellenwert ein: Lösliche Gase: Stickstoffmonoxid, Kohlenstoffmonoxid; biogene Amine: Acetylcholin, Katecholamine (Noradrenalin, Adrenalin, Dopamin); Serotonin: Dimethyltryptamin, Histamin; Aminosäuren: inhibitorische Aminosäuretransmitter (γ-Aminobuttersäure = GABA = 4-Aminobuttersäure, Glycin, β-Alanin, Taurin), exzitatorische Aminosäuretransmitter (Glutaminsäure, Asparaginsäure, Cystein, Homocystein); Neuropeptide: Endorphine und Enkephaline, Substanz P, Somatostatin, Insulin, Glucagon, α-Endopsychosin; Endocannabinoide: Anandamid, 2-Arachidonylglycerol, O-Arachidonylethanolamid. Gewichtszunahmen werden vor allem durch den Stoffwechsel der biogenen Amine (Acetylcholin und Katecholamine) und der Aminosäuren (GABA) beeinflusst. Da Gewichtszunahmen erst im Verlauf der Pharmakotherapie auftreten und nicht schon direkt mit der Grunderkrankung, müssen die unerwünsch-
ten Wirkungen der eingesetzten Wirkstoffe sorgfältig auf ein gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis evaluiert werden. In der Psychiatrie verwendete Wirkstoffe greifen in die pathophysiologischen und pathobiochemischen Vorgänge der Neurotransmitter an deren Rezeptoren ein. Dabei wird der Effekt von First Messengers, das heisst physiologischen Neurotransmittern oder partiellen Agonisten der Wirkstoffe, über eine Kaskade von Second, Third und Fourth Messengers in den Zellkern auf Response-Elemente übertragen. Antagonisten blockieren diese Signalkaskaden in unterschiedlichem Mass. Die Signalweitergabe erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten: • Andockung der First Messengers auf der Zellober-
fläche, zum Beispiel: G-Protein-Dockingstellen; Ionenkanäle der Zellmembran; transmembranäre Transporter für Serotonin; Noradrenalin, Dopamin, GABA, Glycin, exzitatorische Aminosäuren; Rezeptor-Tyrosinkinasen (Neurotrophin, Insulin-like Growth Factor, etc.) • Übertragung des Signals oder direkte Bindung der membranpassierenden First Messengers im Cytosol an: nukleären Hormon-Rezeptor-Komplex; Enzyme wie Kinasen der Cell-Signaling-Kaskade; Transporter; Second und Third Messengers (c-AMP, Calmodulin, Kalzium-Calmodulin-anhängige Kinase, Mitogen-aktivierte Proteinkinase, extrazellulär-Signal-regulierte Kinase, Glykogen-Synthase-Kinase) • Bindung der First, Second oder Third Messengers an Response-Elemente und genetische Strukturen im
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Zellkern mit Auslösung von Proteinsynthesen: Fourth Messengers, Hormon-Response-Elemente, Gene (Wirkungseintritt frühestens nach einigen Stunden -> Langzeiteffekte). Generell verlaufen die Signaltransduktionen geordnet in diesen Bahnen ausgehend vom First Messenger. Multiple Signalwege können parallel oder durch Kurzschlüsse aktiviert werden, was die Komplexität verstärkt. Neurotransmitter und Wirkstoffe können aufgrund der Vielzahl von Rezeptoren mehr als nur den gewünschten Effekt auslösen und zu vielen unerwünschten Wirkungen führen. Auf Stufe Gene öffnen und schliessen Methylierungen und Acetylierungen von Histonen und von DNA kurz- bis mittelfristig molekulare Türen (Activation = Anschalten und Silencing = Abschalten von Genen durch epigenetische Vorgänge). Eine der unerwünschten Wirkungen bei Psychopharmaka betrifft meist die Gewichtszunahme, seltener gibt es Gewichtsverluste. Das tetrazyklische Antidepressivum Mirtazapin kann zu Gewichtszunahmen von 3 bis 10 kg führen. Neuroleptika wie Clozapin, Olanzapin oder Quetiapin können zu Gewichtszunahmen von bis zu 25 kg führen. Man beobachtet eine solche Zunahme ebenfalls häufig bei Betablockern, Muskelrelaxanzien und Spasmolytika, Antikonvulsiva sowie Hypnotika. All diese Wirkstoffgruppen wirken sedierend und führen indirekt auch über Bewegungsmangel beziehungsweise verminderten Energieverbrauch zu Gewichtszunahme. Je nach Dosis sind unerwünschte Wirkungen wie Xerostomie, Dysgeusie, Stomatitis, Mukositis, Übelkeit, Erbrechen, reduzierte Darmmotilität oder Sphinkterfunktionseinschränkungen zu beobachten, welche eine indirekte Appetitminderung bewirken. Eine direkte Appetitminderung ergeben Quellstoffe (durch Simulation der Magenfüllung) und Anorektika vom Amphetamintyp durch Monoaminfreisetzung im Hypothalamus (1). Pharmakologisch gesehen lassen sich diese unerwünschten Wirkungen mit direkten antiadrenergen, antinoradrenergen, antidopaminergen, GABAergen Effekten auf den Antrieb, die Verzögerung des Sättigungsgefühls und die Steigerung des Appetits erklären. Die indirekte Appetitsteigung ergibt sich bei Antidepressiva und Benzodiazepinen durch die psychovegetative Entspannung, die direkte Appetitsteigerung bei tri- und tetrazyklischen Antidepressiva, Neuroleptika, Cyproheptadin, Cannabinoiden durch die Wirkung auf den Noradrenalin-, Serotonin- und Dopaminstoffwechsel. Dieser Effekt lässt sich therapeutisch bei mangelernährten Patienten nutzen. Gewichtszunahme tritt namentlich auf bei sedierenden ZNS-Wirkstoffen wie: • α- und β-Sympatholytika • GABAAerge Stoffe wie Barbiturate, Benzodiazepine (Diazepam etc.) • GABABerge Muskelrelaxanzien wie Baclofen • Acetylcholinwirkung an muskarinischen M1-Rezeptoren (Hemmung von K+-Kanälen = gefährliche unerwünschte Wirkung der Neuroleptika!) • Acetylcholinwirkung an nikotinischen Rezeptoren: Antagonismus durch Muskelrelaxanzien
• D1-antidopaminerge Neuroleptika: L-Dopa (AntiParkinsonikum)
• D2-, D3- und D4-antidopaminerge Neuroleptika: neben der Striatumwirkung von L-Dopa (Anti-Parkinsonikum) treten auch Wirkungen auf das limbische System auf, insbesondere auf das Verhalten. Hemmende Wirkung zeigen die Neuroleptika der Gruppen Phenothiazine (Fluphenazin), Butyrophenone (Haloperidol) (antipsychotische Wirkung), Thioxanthen-Typ (Clozapin) (antipsychotische and antischizophrenische-Wirkung).
Während sedierende Psychopharmaka mit Gewichtszunahme assoziiert sind, tragen die adrenergen und noradrenergen Wirkungen der Antidepressiva vom Typ der Serotinin- und Noradrenalin-Reuptakehemmer zu Antriebssteigerung, Appetithemmung, erhöhter körperlicher Aktivität und somit zu Gewichtsverlust bei. Gewichtsreduktion tritt deshalb auf bei antriebssteigernden Antidepressiva wie SerotoninNoradrenalin-Reuptakehemmern (Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram, Escitalopram, Fluvox-amin, Trazodon). Bei Kombinationstherapien wird die Übersicht mit steigender Anzahl der beteiligten Komponenten und wegen pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Interaktionen wiederum zunehmend kompliziert. Dabei können die Vorgänge bei Adsorption, Distribution, Metabolismus und Exkretion verändert werden (Pharmakokinetik), oder die verschiedenen Wirkstoffe können synergistisch oder antagonistisch an den Rezeptoren wirken (Pharmakodynamik). Mehrere Wirkstoffe können durch Wirkung an verschiedenen Rezeptoren additive Effekte generieren. Für Dopamin sind 5 Rezeptoren bekannt, für Serotonin 15. Anstatt für die physiologischen Neurotrans-
Jessica Stetter Leila Sadeghi
Tabelle 1:
Anzahl Targets, Enzyme, Carriers, Transporter der in den Fällen 1–3 verwendeten Wirkstoffe
Amisulprid (Solian®) Chlorprothixen (Truxal®) Cholecalciferol (Vi-De 3®) Escitalopram (Cipralex®) Gabapentin (Neurontin®) Lamotrigin (Lamictal®) Levothyroxin (Eltroxin®) Lithium-Ionen (Quilonorm®) Lorazepam (Temesta®) Mirtazapin (Remeron®) Olanzapin (Zyprexa®) Quetiapin (Seroquel®) Risperidon (Risperdal®) Trazodon (Trittico®) Valproat Natrium (Orfiril®) Valsartan (Diovan®) Venlafaxin (Efexor®)
Targets auf Zelloberfläche
4 12 1 6 7 1 2 4 2 20 34 26 15 7 10 1 3
Enzyme
1 3 1 2 2
1 5 6 5 4 4 18 1 5
Carriers
1
1 3
2
1 1 1 2
Transporter
1 1
9
1 1 1 1 5 2
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mitter können ebenso pro Wirkstoff die Rezeptoren (Targets) bezeichnet werden (Tabelle 1). Agonisten und Antagonisten sind nicht selektiv und weisen unterschiedliche Affinitäten zu mehreren Rezeptoren auf. Dies führt zu schwierig zu antizipierenden unerwünschten Wirkungen, je nach den an der Kombination beteiligten Wirkstoffen.
Fallbeispiele zum Thema Gewichtszunahme
Drei typische Fallbeispiele aus der Ernährungsberatung einer universitären psychiatrischen Klinik (Tabellen 1–3), welche sich um starke Gewichtszunahmen in der Folge der Psychopharmakotherapie drehen, werden anhand der Profile der verabreichten Wirkstoffe und mithilfe von Laborwerten analysiert. Neben den Wirkprofilen selbst wird den aufgetretenen unerwünschten Wirkungen und Interaktionen nachgegangen, und Zusammenhänge und Abhängigkeiten werden gesucht. Die Unterteilung richtet sich nach dem pharmakokinetischen und dem pharmakodynamischen Vorgang. Die Analyse soll die Klarheit verbessern, die Hauptträger der Gewichtszunahme identifizieren und Erklärungen zu den beobachteten Effekten liefern. Mechanismen und Informationen werden aus gängigen Datenbanken bezogen. Bei den Markennamen zu den Wirkstoffen werden die Originalpräparate berücksichtigt. Dies ist rein praktisch bedingt und ohne Wertung. Die Medikamenteninformationen bei Originalpräparaten sind generell weitreichender als bei Generika.
Fall 1: Patient, männlich, 61-jährig. Diagnose: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischem Symptom; Medikamente: bei Eintritt begonnen mit: Chondrosulf® Tabl. 400 mg, Movicol® Trinklösung, Remeron® 40 mg (1 Tabl. täglich), Solian® (400 mg) (initial 0,5 Tabl., dann 1 Tabl. täglich), Temesta® 1 mg (1 Tabl. abends), Truxal® Filmtabl. 50 mg (3 Tabl. täglich), Venlafaxin® retard Kapseln
Prise pondérale consécutive à des effets indésirables et à des interactions médicamenteuses de psychotropes – un défi délicat pour le conseil nutritionnel
Mots clés: pharmacocinétique et -dynamique – messagers – psychiatrie – transductions de signaux – psychotropes – porteur – transporteur – prise pondérale
La prise pondérale est un effet indésirable fréquent des différentes classes de médicaments destinés au traitement des pathologies du système nerveux central. Les psychotropes à effet sédatif en particulier sont souvent à l’origine de prises de poids – ou y contribuent – chez les clients en conseil nutritionnel. En cas de traitements combinés, qui sont fréquemment utilisés en psychiatrie, l‘interprétation en devient de plus en plus difficile et constitue un défi pour l‘équipe interdisciplinaire. Une approche interdisciplinaire lors du choix de la pharmacothérapie et de la prise en charge nutritionnelle & diététique est par conséquent un moyen valable pour contrôler les effets indésirables. Trois cas tirés de la pratique illustrent les manières de procéder et l’adaptation au cours de la prise en charge interdisciplinaire du poids comme conséquence de traitements par des médicaments psychotropes.
150 mg (1 Kapsel täglich), Vi-De3®-Tropfen, Zyprexa® 10 mg (1 Tabl. täglich), dann Zyprexa® 5 mg (2 × täglich). Später zusätzlich verordnet: Quilonorm retard (0,5 Tabl. täglich; bei Austritt dann 0,5 und 1 Tabl. täglich). Ernährungsberatung: Die Anmeldung für die Ernährungsberatung erfolgte zirka 1 Monat nach Klinikeintritt aufgrund starker Gewichtszunahme. Eine Anamnese zeigte, dass der Patient in der Klinik innerhalb von 1 Monat 4 kg zugenommen hatte. Die bereits rund 2 Jahre dauernde Psychopharmakotherapie mit zum Teil nicht bekannten Psychopharmaka hatte bereits vor dem Klinikeintritt eine Gewichtszunahme von 12 kg mit sich gebracht. Der Patient empfindet vermehrt Appetit und verspürt kein Sättigungsgefühl mehr. Er nimmt drei Hauptmahlzeiten pro Tag zu sich und konsumiert laufend süsse und salzige Snacks. Intervention: Essprotokoll, Einplanen von fixen Zwischenmahlzeiten (Stopp snacking), Klinikkostumstellung auf nährstoffdefinierte Ernährung. Laborwerte: Bei Lithium werden schwankende Plasmaspiegelwerte rund um den minimalen therapeutischen Wert, bei Amisulprid deutlich höhere Werte als der maximale therapeutische Grenzwert ausgewiesen, dies bei sinkenden Werten im Verlauf. Das Venlafaxin-Monitoring zeigt Werte im therapeutischen Bereich. Erhöht sind ferner Transaminasen, Triglyzeride und HDL-Cholesterol, während Erythrozyten (EC) und Hämoglobin (Hb) knapp unter den Normwerten liegen. Chondrosulf® (Chondroitinsulfat, Bestandteil von Knorpel- und Knochensubstanz) und Movicol® (Macrogola, Polyethylenglykole) können durch Füllung des Magens unter Umständen zum Sättigungsgefühl beitragen, jedoch sicher weniger als Quellstoffe. Sonst sind keine Interaktionen zu erwarten. Vitamin D3 kann auf Stufe Pharmakokinetik durchaus Interaktionen bewirken, besitzt jedoch nicht dieselben Targets (Rezeptoren) wie die Psychopharmaka. Vi-De 3® wird bei den Interaktionen berücksichtigt, jedoch nicht bei den Targets.
Fall 2: Patientin, weiblich, 82-jährig. Diagnose: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode und psychotisches Syndrom. Medikamente: Bei Eintritt: Diovan® 160 mg (0,5 Tabl. täglich), Magnesiocard® Filmtabl. 2,5 mmol (3 Tabl. täglich), Metamucil®-Granulat, Remeron® 30 mg (0,5 Tabl. täglich), Risperdal® 1 mg (0,5 Tabl. täglich). Im Verlauf Stopp und neu: Venlafaxin 150 mg (1 × täglich), Temesta® (0,5 Tabl. täglich), Trittico® 50 mg (3 Tabl. täglich). Nach 2 Wochen zusätzlich: Quilonorm® retard (0,5 Tabl. täglich, im Verlauf 2 × täglich). Ernährungsberatung: 5 Wochen nach Eintritt erfolgte die Überweisung an die Ernährungsberatung. Seit Eintritt hat die Patientin 7,5 kg zugenommen auf 81,5 kg (bei Normalgewicht 74 kg). Eine Anamnese zeigte vermehrten Appetit und kein Sättigungsgefühl, gesteigerte Nahrungsaufnahme gegenüber zu Hause, verbunden mit grösseren Portionen zu den Hauptmahlzeiten. Getränke: Süssmost, wenig Wasser. Intervention: Um-
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stellung der Klinikkost auf nährstoffdefinierte Ernährung. Beratung bezüglich Getränken und Frühstücksbuffet (wie soll Frühstück zusammengestellt sein?). Im Verlauf Reduktion auf 80 kg, bis Austritt konnte dann das Gewicht stabil gehalten werden. Laborwerte: Im Schilddrüsenstoffwechsel liegt der T4Wert am unteren Schwellenwert. TSH (Thyreoideastimulierendes Hormon) ist stark erhöht. Lithium liegt deutlich unter dem definierten therapeutischen Bereich. Die Venlafaxinwerte sind normal. Leicht erhöhte Werte ergeben sich bei Harnsäure und Monozyten. Leicht tiefere bis deutlich tiefere Werte zeigen sich bei totalem Protein und Albumin, Kreatinkinase, Transferrin, Hb, Ec. Das Blutbild entwickelt sich zu den Normwerten hin. Magnesiumsalze werden zwar nicht an den Rezeptoren Modulationen bewirken, jedoch in der Pharmakokinetik. Metamucil® (Flohsamenpulver, Quellstoff) wird durch Füllung des Magens einen Beitrag zum Sättigungsgefühl leisten.
Fall 3 Patient, männlich, 51-jährig. Diagnose: bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome. Medikamente: Diovan® 160 mg (0,5 Tabl. täglich), Eltroxin® 0,05 mg (1 Tabl. täglich), Magnesiocard®-Filmtabl 2,5 mmol (3 Tab. täglich), Neurontin® 300 mg (2 × 2 Kapseln
täglich, im Verlauf gesteigert auf 2 × 3 täglich), Orfiril® long Ret Kaps. 150 mg (1 × täglich, im Verlauf gesteigert auf 2 × täglich), Orfiril® long Ret Kaps 300 mg (1 × täglich), Redormin® 250 mg (2 × täglich). Im Verlauf zusätzlich: Lamictal® Disp Tabl. 25 mg (im Verlauf gesteigert auf 100 mg 2 × täglich), Seroquel® 100 mg, im Verlauf gesteigert auf 200 mg 3 × täglich + Seroquel XR Ret Tabl. 200 mg 1 × täglich, Escitalopram® 10 mg (0,5 Tabl. täglich). Ernährungsberatung: Anmeldung zur Ernährungsberatung bei Eintritt zur Unterstützung bei Gewichtskontrolle. Im Verlauf der folgenden Tage trat Obstipation auf. Beim letzten stationären Aufenthalt wurde eine Gewichtszunahme um 13 kg auf 118 kg verzeichnet. Seither stand der Patient in ambulanter Ernährungsberatung, wobei das Gewicht bis auf 90,4 kg reduziert werden konnte. Ziel: stabiles Gewicht während Aufenthalt. Intervention: Beratung bezüglich Klinikkost, Auswahl von Hauptund Zwischenmahlzeiten, Portionengrösse, Bewegung. Im Verlauf zusätzlich Problematik der Obstipation. Beratung bezüglich Nahrungsfasern, Flüssigkeit und Bewegung. Austritt mit 92,4 kg und Weiterführung der ambulanten Ernährungsberatung. Laborwerte: Lamotrigin- und Quetiapinplasmaspiegel befinden sich im Normalbereich, während Valproat knapp unterhalb liegt. Triglyzeride, Cholesterol, HDL-Cholesterol sind durchwegs erhöht. Die Hämatologiewerte sind unauffällig.
Amisulprid (Solian®) Chlorprothixen (Truxal®) Cholecalciferol (Vi-De 3®) Chondroitinsulfat (Chondrosulf®) Escitalopram (Cipralex®) Flohsamen (Metamucil®) Gabapentin (Neurontin®) Lamotrigin (Lamictal®) Levothyroxin (Eltroxin®) Lithium-Ionen (Quilonorm®) Lorazepam (Temesta®) Macrogola (Movicol®) Magnesiumaspartat (Magnesiocard®) Mirtazapin (Remeron®) Olanzapin (Zyprexa®) Quetiapin (Seroquel®) Hopfen/Baldrian (Redormin®) Risperidon (Risperdal®) Trazodon (Trittico®) Valproat Natrium (Orfiril®) Valsartan (Diovan®) Venlafaxin (Efexor®)
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Tabelle 2:
Interaktionen der in Fall 1 bis 3 involvierten Wirkstoffe: vorwiegend Wirkstoff A wird verstärkt (A↑); vorwiegend Wirkstoff A wird abgeschwächt (A↓); vorwiegend Wirkstoff B wird verstärkt (B↑); vorwiegend Wirkstoff B wird abgeschwächt (B↓)
Wirkstoff B (horizontal)
Wirkstoff A (vertikal)
Amisulprid (Solian®)
A↑
A↑ A↑ A↑ A ↑ A↑ A↑ B↑ A↑ A↑ A↑ A↑ A↑
A↑
Chlorprothixen (Truxal®)
B↑
A↑
A↑ B ↑
A↑ A↑
A↑ B↑ B↑ B↑
B↑ A↑ A↑
B↑
Cholecalciferol (Vi-De 3®)
A↑
B↑ B↑ B↑
B↑ B↑ B↑ B ↑ A↑
Chondroitinsulfat (Chondrosulf®)
Escitalopram (Cipralex®)
B↑ B↑ A↑
A↑ A↑ B↓ A↑ A↑
A↑ A ↑ A↑ B↑
B↑ A↑ A↑
A↑
Flohsamen (Metamucil®)
Gabapentin (Neurontin®)
B↑
B↑
A↑
B↑
Lamotrigin (Lamictal®)
A↑ A↑
B↑ A↑
A↑ A↑ A↑ B↑ B↑ A↑ A↑ A↑
A↑
Levothyroxin (Eltroxin®)
A↓ A↓
A↓ B↑ B↓ B↓
B↓
A↓
Lithium-Ionen (Quilonorm®)
B↑ B↑
B↑ A↑ B↑
A↑ A↑ B↑ B↑ B↑ B↑ A↑ A↑ A↑ B↑
Lorazepam (Temesta®)
B↑ B↑
B↑ B↑ B↑ B↑
A↑ B↑ B↑ B↑
B↑ B↑ A↑ A↑ B↑
Macrogola (Movicol®)
Magnesiumaspartat (Magnesiocard®)
B↑ B↑
B↑
B↑ B↓ B↑ B↑
B↑ B↑ B↑
B↑ B↑ B↑
B↑
Mirtazapin (Remeron®)
A↑ A↑ A↓
B↑
A↑ A↑ A↑ A↑ A↑
A↑
A↑ A↑
B↓ A↑ A↑ A↓ A↑
Olanzapin (Zyprexa®)
B↑ A↑ A↓
B↑
B↑ A↑ A↓ A↑ B↑
A↑ B↑
B↑
B↑ A↓ A↓
A↑
Quetiapin (Seroquel®)
B↑ A↑ A↓ A↑ A↑ B↑ A↑ A↑ A↑ B↑ A↑
B↑ A↑ A↑ A↑ A↑
Hopfen/Baldrian (Redormin®)
Risperidon (Risperdal®)
B↑ A↑ A↓ A↑ A↑ B↑ A↓ A↑ A↑ A↑ A↓ A↑ A↑
A↓ A↑ A↑ A↓
Trazodon (Trittico®)
B↑ B↑ A↓ B↑ B↑ B↓ B↑ A↑ A↑ B↑ B↓ B↑ B↓ B↑
A↑
Valproat Natrium (Orfiril®)
B↑ B↑ A↓ B↑ B↑ B↑ B↑ B↓ A↑ B↑ B↓ B↑ B↑ B↑ A↓ A↓
Valsartan (Diovan®)
A↓
A↑ B↑ A↑
A↑ B↑ B↓
B↓
Venlafaxin (Efexor®)
B↑ A↑
B↑ A↑ B↑ B↓ A↑ A↑ A↑ B↑ B↑ B↑ B↓ B↑ A↓ A↓
PSYCHE UND ERNÄHRUNG
Tabelle 3:
Pharmakokinetische Interaktionen der Medikamente aus den Fallbeispielen. Substrate (S), Induktoren (Ind) und Inhibitoren (Inhib) der CYP-450-Isoenzyme, bezogen auf die Fallbeispiele
Fall 1
Amisulprid (Solian®) Chlorprothixen (Truxal®) Cholecalciferol (Vi-De 3)
1A2 Inhib
2B6
Lithium-Ionen (Quilonorm®) Lorazepam (Temesta®) Mirtazapin (Remeron®) Olanzapin (Zyprexa®) Venlafaxin (Efexor®) Lebensmittel
Inhib Inhib S, Inhib
Broccoli: Ind
Rosenkohl: Ind
Grillfleisch: Ind Tabak: Ind Koffein: S
2C8 2C9
2C19 2D6
2E1
3A4,5,7 andere
S
S, Inhib
S
Inhib Inhib
Inhib Inhib
S 2B6: Inhib, 1A1: Inhib,
11A1: S, 2J1: S, 2R1:
S, 27A1: S, P-GP:
S, MDRP: Inhib
P-GP: S
S
SS
Ind, S, Inhib
S, Inhib
P-GP: S
Inhib Inhib S, Inhib
Inhib P-GP: Inhib
S S S, Inhib
S, Inhib
P-GP: S
Johannis-
kraut: Ind
Johannis- Johannis-
Ethanol: Ind
kraut: Ind kraut: Ind
Grapefruit: Inhib
Koffein: S
Bei Fall 1 hemmen mehrere Wirkstoffe das Isoenzym CAP1A2. Da vor allem die Isoenzyme CYP2D6 und CYP3A4,5,7, aber auch CYP2C8, CYP2C9 und CYP2C19, welche die entsprechenden Wirkstoffe alternativ metabolisieren könnten, ebenfalls durch Substrate gehemmt werden, besteht für alle eingesetzten Wirkstoffe das Risiko der Kumulation und somit einer relativen Überdosierung. Das relative Überdosierungsrisiko steigt mit gewissen Lebensmitteln wie Broccoli, Rosenkohl und vor allem Grapefruit, aber auch Tabak an. Das «Perfide» am CYP3A4,5,7 ist die doppelte Lokalisation im Bürstensaum des GI-Traktes und in der Leber. Somit werden bereits weniger CYP3A4,5,7-Substrate im Darm metabolisiert und in höherer Menge in die Zirkulation eingeschleust. Aufgrund der erhöhten Lipidwerte ist die Ernährungsberatung hinreichend indiziert. Gesamthaft beurteilt kann die unerwünschte Wirkung «Gewichtszunahme» durch die tendenziell erhöhte Dosierung erklärt werden. Es empfiehlt sich, alle Wirkstoffe auf die Möglichkeit zur Dosissenkung zu prüfen. Nicht betroffen von besonderen Risiken ist Vitamin D3, weil für dessen Metabolisation das spezifische CYP27A1 zur Verfügung steht.
Fall 2
1A2
2B6 2C8 2C9
2C19 2D6
2E1
Lithium-Ionen (Quilonorm®)
Lorazepam (Temesta®)
Inhib
Magnesiumaspartat
(Magnesiocard®)
Mirtazapin (Remeron®)
Inhib
SS
Ind, S, Inhib
Risperidon (Risperdal®)
S, Inhib
Trazodon (Trittico®)
S
Valsartan (Diovan®)
S, Inhib
Inhib
Lebensmittel
Broccoli: Ind
Rosenkohl: Ind
Grillfleisch: Ind
Tabak: Ind Koffein: Ind
Johanniskraut: Ind
Johanniskraut: Ind
Ethanol: Ind
3A4,5,7 S
andere P-GP: S
S, Inhib S S
P-GP: S P-GP: S P-GP: S, MDRP: Ind
Johanniskraut: Ind Grapefruit: Inhib
Koffein: S
Bei Fall 2 ist das Risiko der relativen Überdosierung klein, solange keine Grapefruit konsumiert und für Mirtazapin die übliche Dosierung nicht erhöht wird. Das Isoenzym CYP3A4,5,7 metabolisiert zirka 80 Prozent der Xenobiotika. Dessen Kapazität wird knapp reichen, um mit den bestehenden Wirkstoffen umgehen zu können. Im Worst Case wird ein Steady State auf höherem Niveau erreicht, bei welchem ein moderates Risiko für Gewichtszunahme besteht. Handlungsbedarf scheint beim Grundumsatz beziehungsweise dem Schilddrüsenhormon-Stoffwechsel zu bestehen. Ein höherer Grundumsatz würde zum besseren Gewichtsmanagement beitragen. Die Ernährungsberatung kann signifikant zum wirksamen Gewichtsmanagement beitragen. Die Gewichtszunahme scheint nicht primär durch die Psychopharmaka bedingt zu sein. Sartane wie Valsartan können pharmakokinetisch interagieren, indem die Reabsorption von Lithium aus dem Tubulus erhöht und damit die toxischen Lithiumeffekte verstärkt werden, zum Beispiel Polyurie, Polydipsie, Tremor, Tinnitus, Durchfall, Erbrechen, Muskelschwäche, erhöhter Muskeltonus, Müdigkeit, Koordinations-, Konzentrations- und Artikulationsstörungen, Konfusion, Schwindel, Nystagmus, verschwommenes Sehen, Ataxie, Apathie, kardiovaskuläre Störungen (QT-Verlängerung, ventrikuläre Tachykardien, Kreislaufkollaps), Nierenfunktionsstörungen und Koma.
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Magnesiumsalze werden zwar nicht an den Rezeptoren Modulationen bewirken, jedoch in der Pharmakokinetik, und werden deshalb mitevaluiert. Redormin® enthält Hopfen und Baldrianextrakte. Es ist dahingehend zu prüfen, ob und inwieweit additive Effekte hinsichtlich der Psychopharmaka vorliegen.
Analyse und Bewertung der Medikationen
Identifikation der vorliegenden Interaktionen: Gewichtsrelevante unerwünschte Wirkungen bei Psychopharmaka und anderen Wirkstoffen zur Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems finden sich bei den Gruppen mit dämpfender Wirkung auf das periphere sympathische Nervensystem und das Zentralnervensystem. Es sind vor allem die Metaboliten des Phenylalanins und des Tyrosins, physiologische Neurotransmitter, nämlich Dopamin, Noradrenalin und, Adrenalin zu betrachten. Diese Katecholamine werden durch antidopaminerge, anti-
noradrenerge, antiadrenerge und anticholinerge Wirkstoffe kompetitiv vom Rezeptor verdrängt, was generell eine Dämpfung und Sedierung ergibt. Die entsprechenden therapeutischen Gruppen umfassen Antipsychotika/Neuroleptika, Muskelrelaxanzien und Anti-Parkinsonika. Für die Wirkstoffkombinationen der Fälle 1 bis 3 lassen sich aus den gängigen Kompendien der zugelassenen pharmazeutischen Produkte Übersichten oder aus «Digest»-Datenbanken extrahieren, welche jedoch nur halbquantitative Angaben liefern und den Wirkungsmechanismus nur andeutungsweise über den Effekt erahnen lassen (2). Für einfache Beurteilungen reichen solche Übersichten. Details sind in den Monografien der Wirkstoffe bei Bedarf zu finden. Erklärungen müssen jedoch ganzheitlich gesucht werden, um der gesamten Komplexität der Psychopharmakotherapie gerecht zu werden. Die Übersichtstabelle der Interaktionen allein zeigt schon bei den in den Fällen 1 bis 3 verwendeten Me-
Tabelle 3: Fall 3
Escitalopram (Cipralex®) Gabapentin (Neurontin®) Lamotrigin (Lamictal®) Levothyroxin (Eltroxin®) Magnesiumaspartat (Magnesiocard®) Quetiapin (Seroquel®) Hopfen, Baldrian (Redormin®) Valproat Natrium (Orfiril®) Valsartan (Diovan®) Lebensmittel
1A2 2B6
Inhib Inhib S Broccoli: Ind Rosenkohl: Ind
Grillfleisch: Ind
Tabak: Ind Koffein: S
2C8 2C9 Inhib
Inhib
2C19 S, Inhib
2D6 S, Inhib
Inhib
2E1
Inhib
Inhib S, Inhib S, Inhib
S, Inhib S, Inhib
S, Inhib Inhib
Johanniskraut: Ind
Johanniskraut: Ind
Ethanol: Ind
3A4,5,7 S
andere
S MDRP: Ind
S, Inhb S, Inhib
MDRP: S 2A6: S, 2C18: Inhib
Johanniskraut: Ind Grapefruit: Inhib
Koffein: S
Bei Fall 3 besteht ein erhebliches Risiko für die Kumulation von Escitalopram, Quetiapin und Valproat. Dieses Risiko würde bei hohem Konsum von Grapefruit verstärkt. Nach Möglichkeit sollten die Dosen von Quetiapin und Valproat klein gehalten werden, damit CYP3A4,5,7 die annähernd volle Kapazität erreichen kann. Die Gewichtsprobleme sind durch Quetiapin mitverursacht, zurzeit aufgrund der NA-5HT-Reuptake-Hemmung zur Depressionsbehandlung kompensiert. Bei Reduktion dieser Komponente könnte das Gewicht wieder steigen. Die hohen Lipidwerte können durch Ernährungsberatung therapiert werden. Olanzapin, Mirtazapin, Valproat und Lamotrigin sind Agranulozytose/Granulozytopenie auslösende Stoffe und dürfen nicht zusammen verabreicht werden. In Fall 3 sind Valproat und Lamotrigin verordnet. Eine additive Wirkung auf die Granulozyten ist wahrscheinlich und sollte evaluiert werden. Valproinsäure verstärkt die Wirkungen von Lamotrigin innerhalb weniger Tage. Toxische Symptome wie Erbrechen, Tremor, Ataxie, Müdigkeit und Lethargie, Konfusion sowie eine erhöhte Inzidenz von teilweise schweren makulopapulösen Hautausschlägen wurden beobachtet. Die Hautreaktionen (Hypersensitivitätssyndrom) treten meist während der ersten 6 bis 8 Wochen der Behandlung mit Lamotrigin auf. Der Mechanismus besteht aus einer Hemmung der UDP-Glucuronosyltransferase 1–4 (UGT1A4). Details der pharmakodynamischen Interaktionen Der Wirkstoffanteil, welcher die Pharmakokinetik unverändert übersteht, schafft in der Folge eine Kompetitivssituation an den Rezeptoren (Pharmakodynamik, Tabelle 4). Sollen additive oder eventuell potenzierte Effekte identifiziert werden, so sind die Situationen an den Rezeptoren zu betrachten. Anschaulich erklärt, ähneln die Wirkstoffe mit multiplen Rezeptoraffinitäten Passepartoutschlüsseln, welche in viele Schlösser eingesteckt werden können und einen Effekt bewirken oder das Schloss blockieren. Gewünscht wären spezifische und selektive Substrate mit einem bis wenigen Targets. Wirkstoffe, welche nicht mit den Targets der Psychopharmaka konkurrenzieren, sind nicht berücksichtigt (z.B Vitamin D3, Magnesiumsalze). Die unerwünschten Wirkungen äussern sich nicht nur im psychiatrischen Symptomenkreis, sondern können auch somatische Effekte zeigen. Quetiapin mit Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon, Mirtazapin und trizyklischen Antidepressiva sowie Analoga interagieren synergistisch und erhöhen das Risiko für ventrikuläre Tachykardien. Sowohl Antidepressiva als auch Neuroleptika haben kardiotoxische, anticholinerge und zentraldämpfende Nebenwirkungen und senken die Krampfschwelle. Diese Effekte können sich dosisabhängig additiv verstärken.
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PSYCHE UND ERNÄHRUNG
dikamenten die Komplexität des Zusammenspiels der Wirkstoffe auf. Bei zusätzlichen Therapeutika für den somatischen Bereich würde der Komplexitätsgrad weiter erhöht. Für detaillierte Interpretationen und die Mustererkennung der unerwünschten Wirkungen sind eine systematische Analyse und eine vernünftige Gruppierung zielführend. Deshalb empfiehlt es sich, die Bewegungen der Wirkstoffe im Organismus (Pharmakokinetik) und das Andocken an die Rezeptoren (Pharmakodynamik) als Systematisierungsgrundlage darzustellen (Tabelle 2) (3).
Details der pharmakokinetischen Interaktionen
Die Interaktionsprofile sind weitgehend definiert durch die Prozesse der Freisetzung von Wirkstoffen aus der Matrix (z.B. aus der Arzneiform oder aus dem Lebensmittel), der Absorption der Wirkstoffe durch die Bürstensaumzellen des Gastrointestinaltraktes, deren Verteilung in die Gewebe, der Metabolisation der körperfremden Stoffe zur Erhöhung der Wasserlöslichkeit sowie der Exkretion über Ausscheidungsorgane wie die Niere oder die Lunge. In der Darmwand und in der Leber finden sich die wichtigsten Enzyme, welche für die Erhöhung der Wasserlöslichkeit sorgen. Das System lässt sich als verzweigtes Röhrensystem auffassen, durch welches die Wirkstoffe geordnet fliessen. Ein massiver Zufluss von Wirkstoffen oder ein zu kleiner Durchmesser der Rohre (bzw. eine zu geringe Kapazität der Enzyme) lässt die Substrate anstauen und verstärkt die Wirkung und/oder die unerwünschte Wirkung (Überdosierung durch Inhibition der Metabolisierung). Die Gewichtszunahme bei der Psychopharmakotherapie könnte durch solche begrenzten Kapazitäten bedingt sein. Umgekehrt führen gross bemessene Rohre (bzw. überdurchschnittlich funktioneller Umsatz) zu einem zu schnellen Abfluss der Wirkstoffe und zu geringerer Wirkung (Pharmakokinetik, Tabelle 3). In der Pharmakologie sind die polyvalenten Isoenzyme der Zytochrom-P-450-Enzymfamilie (CYP1 bis CYP3) hinreichend, um die wichtigsten Interaktionsanalysen durchführen zu können. Im Falle von Lebensmitteln müssen zusätzlich die spezifischen Isoenzyme (CYP4 bis CYP51) mitbetrachtet werden. Diese metabolisieren hauptsächlich physiologische Steroide, Vitamine und strukturanaloge therapeutische Derivate. Auch das Ernährungsverhalten kann dazu beitragen, dass die Wirkungen verstärkt werden, sobald die Enzymaktivität durch einen massiven Anfall von Substraten ausgeschöpft ist. In dieser Hinsicht ist die Rolle von Grapefruit allgemein bekannt. Im Falle von somatischen Erkrankungen, welche durch weitere Wirkstoffe zusätzlich zu den Psychopharmaka behandelt werden müssen, sind weitere Interaktionen sorgfältig zu prüfen (4, 5). Eine Hemmung des oxidativen Metabolismus der trizyklischen Antidepressiva und der Neuroleptika erfolgt zum Teil über CYP2D6. Die Konkurrenz um das Enzym kann den Abbau beider Substanzen verlang-
Tabelle 4:
Pharmakodynamik: Effekte der Medikamente aus einem Fallbeispiel als Agonisten und Antagonisten
Antagonistische pharmakologische Hauptwirkung Antagonistischer Begleiteffekt Partiell agonistische pharmakologische Hauptwirkung Partiell agonistischer Begleiteffekt Agonistische, potenziatorische oder modulatorische pharmakologische Hauptwirkung Agonistischer, potenziatorischer oder modulatorischer Begleiteffekt
Mirtazapin nimmt eine Schlüsselstellung ein. Durch selektive Blockade von spezifischen Serotoninrezeptoren und als Antagonist an präsynaptischen α2-Rezeptoren werden negative Feedbacks gehemmt und dadurch die Ausschüttung von Noradrenalin erhöht. Der multiple Antagonismus an verschiedenen Serotoninrezeptoren trägt zu einer im Vergleich geringeren Anzahl unerwünschter Wirkungen wie Angst, Schlaflosigkeit und Schwindel bei. Die Wirkung auf den H1-Rezeptor bewirkt Sedierung und kann die Gewichtszunahme erheblich beeinflussen. Die Effekte auf Noradrenalin und Serotoninwiederaufnahme fehlen. Die Affinitäten zu Dopamin- und Muskarinrezeptoren sind schwach. Hingegen wirken Amisulprid, Chlorprothixen und Olanzapin additiv ausgeprägt antidopaminerg und teilweise antihistaminerg. Die Gewichtszunahme wird dadurch wesentlich begünstigt und zudem verstärkt durch die anticholinergen, antagonistischen Wirkungen von Chlorprothixen und Olanzapin an den muskarinischen M1-Rezeptoren, vor allem dem M1-Rezeptor. Der antagonisierende Effekt von Lithium sowohl auf die zytosolische Glykogen-Synthasekinase 3Beta (GSK3β), kompetitiv auf monovalente Kationentransporte und potenzialisierend auf den Glutamat-Rezeptor 3, konkurrenziert die Neuroleptikatargets nicht. Ebenfalls wirkt das Benzodiazepin Lorazepam allein an einem GABA-Rezeptor. Es gibt hier keine additive Verstärkung am Rezeptor selbst und keinen kompetitiven Antagonismus. Dennoch können gleichgerichtete Effekte als Synergismus empfunden werden. Die Gewichtserhöhung kann durch Dosisverminderungen verbessert werden, wobei die Beibehaltung des Therapiezieles, nämlich die Reduktion der Depression und des psychotischen Syndroms, nicht kompromittiert ist.
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samen. CYP2D6 zeigt eine ausgeprägte Polymorphie in Normal-, Langsam-, Schnell- und Ultraschnellmetabolisierer. Relevanz hat dies vor allem bei den 5 bis 10 Prozent der Patienten, die langsame Metabolisierer von CYP2D6 sind. Die Plasmakonzentrationen werden dabei aber in sehr variablem Ausmass erhöht (10 bis 130%). Neurotoxische Effekte sind pharmakokinetisch bedingt und zeigen sich als Schwäche, Lethargie, Tremor, Mundtrockenheit, Konfusion, Delir, Krampfanfälle, extrapyramidal-motorische Symptome. Wirkungsträger in Baldrianpräparaten sind Lignane. Sie wirken partiell agonistisch an Adenosin-1-Rezeptoren. In dieser Affinität stehen sie im Wettbewerb zum Beispiel mit Koffein, welches diesen Rezeptor antagonistisch blockiert. Obwohl durch Lignane eine Sedierung eintritt, findet die Bindung an einer anderen Stelle statt als bei anderen Psychopharmaka. Eine additive Wirkung besteht deshalb nicht (6). Beim Valproat verläuft einer der Mechanismen über alle Rezeptoren für Peroxisomen-Proliferator-Agonisten, wovon e-Subtypen bestehen, welche mit dem Kohlenhydrat- und Lipidstoffwechsel regulatorisch verlinkt sind. Delikat sind hierbei die Effekte der Zelldifferenzierung und Insulinsensitivität. Mit der Aufnahme von Omega-3-Fettsäuren mit der Nahrung liegt ein additiver Effekt nahe. Voraussagen sind bei der jetzigen Studienlage nicht möglich.
Schlussfolgerungen
In der Psychiatrie sind aufgrund der häufigen Interaktionen und additiven Wirkungen Standardbehandlungen in der Regel patientengerecht zu personalisieren. Die Psychopharmaka zeigen wegen der individuellen Ausprägung des genetischen Codes zum Phänotyp mit verschieden funktionierenden Enzymen, Carriers, Transporters und Rezeptoren uneinheitliche Wirkungs- und Nebenwirkungsspektren. Eine exakte Antizipation einer Response auf eine Behandlung wäre bei einem ISO-normierten Werkstück
denkbar, aber nicht bei Patienten mit eigenem Phänotyp. Diese Antizipation könnte mit nutri- und pharmakogenomischen Analysen verbessert werden. Die komplexe Pharmakokinetik mit dem individuell ausgeprägten oxidativen Arzneistoffmetabolismus erfordert häufigere therapeutische Drug-Monitorings als in anderen medizinischen Disziplinen. Oft additive, seltener potenzierte Wirkungen infolge der multiplen Rezeptoraffinitäten der eingesetzten Wirkstoffe erfordern individuelle Pharmako- und Ernährungstherapieplanungen. Die Psychopharmakologie hätte Interesse an Wirkstoffen, welche nicht über die hepatischen Isoenzyme metabolisiert werden. Interaktionen würden weitgehend wegfallen, und der Fokus könnte allein auf die Pharmakodynamik gelegt werden.
Korrespondenzadresse: Prof. Helena Jenzer Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Internistischer Dienst Spitalapotheke 50%-Pensum, BFH 50%-Pensum Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich E-Mail: helena.jenzer@puk.zh.ch
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