Transkript
ERNÄHRUNG IN DER MIGRATIONSBEVÖLKERUNG
Entwicklung und Evaluation eines transkulturellen Hilfsmittels für die Ernährungsberatung von tamilischen Migrantinnen mit Gestationsdiabetes
Leila Sadeghi, Susanne Müller, Augustina Ewere Ayogbe, Helena Jenzer
Für eine erfolgreiche Behandlung von Migrantinnen in der Ernährungs- und Diabetesfachberatung wie im Gesundheitsbereich generell sollten sprachliche und kulturelle Barrieren berücksichtigt werden. Die Entwicklung des Tools «MigMapp©» (Migrationsmappe) mit multidisziplinärem Ansatz zum Thema transkulturell kompetente Ernährungs- und Lifestyleberatung tamilischer Migrantinnen mit Gestationsdiabetes bietet eine praxistaugliche Lösung: Es sensibilisiert auf die kulturell kompetente Behandlung der Migrationsbevölkerung mit spezifischen Bedürfnissen. Zusätzlich fungiert es als nützliches Hilfsmittel für die Praxis.
Leila Sadeghi
Tamilinnen, eine Risikobevölkerung für Gestationsdiabetes
Mit einer steigenden Anzahl von Migranten in der Schweiz ist die Betreuung von ausländischen Patienten ein wichtiger Teil des Praxisalltags in der Ernährungsberatung (ERB) und Diabetesfachberatung (DFB) sowie in anderen Gesundheitssektoren geworden. Eine grosse Migrationsgruppe in der Schweiz stellen seit den 1980er-Jahren Tamilen aus Tamil Nadu, einem südindischen Bundesstaat, sowie aus dem Osten Sri Lankas (1). Heute leben rund 50 000 Tamilen in der Schweiz – das ist eine der weltweit grössten Tamilen-Diasporagemeinschaften (2). Betrachtet man diese Gruppe genauer, zeigt sich, dass die tamilische Bevölkerung tendenziell andere Vorstellungen in Bezug auf Gesundheits- und Krankheitsverständnis im Vergleich zu der in der Schweiz gängigen Sicht hat (1). Diese unterschiedlichen Perspektiven können sich zu Barrieren in sonst erfolgreichen Präventionsmassnahmen im Gesundheitsfeld entwickeln. Nebst unterschiedlichem kulturellem Hintergrund verfügt das Gesundheitsfachpersonal oft über zu wenig Erfahrung im Umgang mit Migranten, wobei auch die Sprachbarriere eine wichtige Rolle spielt. Diese Herausforderungen hemmen eine erfolgreiche Kommunikation, was letztendlich eine adäquate Therapie der Patienten erschwert. Eines der Hauptgesundheitsprobleme bei tamilischen Migranten der ersten Generation ist die hohe Prävalenz, einen Diabetes mellitus zu entwickeln (1). Gestationsdiabetes (GD), genauer der Diabetes, der sich in der Schwangerschaft entwickelt, zählt dazu. Bei dieser Risikopopulation sind bis zu 17,8 Prozent aller schwangeren Frauen betroffen (3). Im Vergleich dazu liegt die allgemeine Prävalenz bei GD bei 5 bis 10 Prozent (4). Die Ursachen sind einerseits genetisch bedingt, andererseits werden sie durch den veränderten
Lebensstil in der westlichen Kultur hervorgerufen (4). Die Behandlung von GD erfolgt meist durch eine adäquate Ernährungsumstellung (5). Einige Punkte, welche individuelle Empfehlungen und Anpassungen der Ernährungsgewohnheiten von tamilischen Migrantinnen mit GD besonders herausfordernd machen können, sind folgende: 1. Bei GD muss die Kohlenhydratzufuhr eingeschränkt werden, die Ernährung der tamilischen Bevölkerung ist traditionsgemäss jedoch sehr reislastig, was die Umsetzung der Empfehlungen erschwert. 2. Die Ernährungsumstellungen bei GD sind für tamilische Migrantinnen oft schwierig mit ihrem Glauben oder ihrer Religion zu vereinbaren. 3. Für tamilische Migrantinnen kann die Ernährungsberatung und -umstellung besonders herausfordernd sein, da es in der Schweiz bisher keine offiziellen Hilfsmittel gibt, welche die tamilischen Ernährungsund Bewegungsgewohnheiten berücksichtigen.
Zielsetzungen des Projektes NutriGeD
Das Hauptziel des Projektes NutriGeD (Nutrition Gestational Diabetes) war die Entwicklung des Beratungshilfsmittels «MigMapp©» mit multidisziplinärem
Prof. Leila Sadeghi1, PhD, Dozentin, Stv. Leiterin aF&E Ernährung und Diätetik Susanne Müller1, BSc Ernährung und Diätetik, wissenschaftliche Assistentin aF&E Ernährung und Diätetik Augustina Ewere Ayogbe2, Masterkandidatin, MSc in Life Science Food, Nutrition and Health Prof. Dr. Helena Jenzer1, Dr. pharm., Dozentin, Leiterin aF&E Ernährung und Diätetik
1 Bern University of Applied Sciences, Health Division, aR&D Nutrition & Dietetics, 3008 Bern 2 School of Agricultural, Forest and Food Sciences HAFL, 3052 Zollikofen
Susanne Müller Augustina Ewere Ayogbe
Helena Jenzer
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2017 13
ERNÄHRUNG IN DER MIGRATIONSBEVÖLKERUNG
Ansatz zum Thema Gestationsdiabetes (GD) im Zu-
sammenhang mit Ernährung und Lifestyle für eine
optimale Beratung von Migrantinnen tamilischer
Herkunft.
Folgende Forschungsfragen wurden bearbeitet:
• Wie können wesentliche Informationen bezüglich
transkultureller Kompetenz für den Dialog mit
schwangeren Migrantinnen mit GD in einem be-
nutzerfreundlichen und berufsalltagstauglichen
Hilfsmittel für Gesundheitsfachpersonal erfasst
werden?
• Welche attraktiven und praxistauglichen
Développement et évaluation d’un outil d’assistance transculturel pour le conseil nutritionnel chez des immigrées tamoules atteintes de diabète gestationnel
Hilfsmittel sollten für die Behandlung der Zielgruppe (Prävention, Beratung, Nachbetreuung) entwickelt werden, die gleichzeitig die Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten und Präferenzen der tamilischen Bevölkerung mitberücksichtigen?
Mots clés: Migration – Tamouls – conseil nutritionnel – outil d’assistance – diabète gestationnel
• Was sind die Bedürfnisse und Erwartungen von schwangeren Migrantinnen mit GD, die die ERB/ DFB besuchen? (Ed.: Aufgrund der kleinen Anzahl Betroffener
Le développement de l’outil «MigMapp©» (dossier migrations) avec son approche multidisciplinaire consacré à un conseil nutritionnel et hygiéno-diététique transculturel compétent pour des immigrées tamoules atteintes d’un diabète gestationnel a abouti à une solution utilisable dans la pratique. Il facilite l’activité de conseil
zur Zeit der Studie wurde entschieden, diesen Bedarf durch Migrantinnen tamilischer Herkunft mit oder ohne GD-Selbsterfahrung zu sondieren.) Eine Liste aller beteiligten Akteure ist in Tabelle 1 zu finden. Die Hilfsmittel wurden vom NutriGeD Team erstellt. Der tamili-
pendant toute sa durée et doit sensibiliser les sche Verein Nordwestschweiz unterstützte
professionnels de santé travaillant dans le do- das Projektteam bei Übersetzungen, Fragen
maine de la nutrition à une prise en charge cul- zu Kultur, Religion und Kulinarischem
turellement compétente d’une population immi- sowie dem Gesundheitsverständnis der ta-
grée ayant des besoins spécifiques.
milischen Bevölkerung, besonders der
Frauen. Zudem hat der Verein die tamili-
sche Lebensmittelpyramide für ein Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Diese Zusammenarbeit hat dem Projektteam sehr dabei geholfen, die Erwartungen dieser Bevölkerungsgruppe besser zu verstehen.
Inhalte der MigMapp©
Technische Angaben: Diese erste Version der MigMapp© für das Fachpersonal im Gesundheitswesen wurde auf Deutsch im Printformat entwickelt. Es besteht aus einem ansprechend gestalteten Handbuch im praktischen A5-Format, welches Informationen für die beratende Fachperson beinhaltet, sowie einem separaten Aufsteller in A4, der die einzelnen Hilfsmittel gleichzeitig in Deutsch und Tamil zeigt. Als Zielgruppe wurde das Fachpersonal im Gesundheitswesen definiert, welches sich mit dem Thema GD und Ernährung/Bewegung in Zusammenhang mit Migration beschäftigt. Dies sind konkret: Ärzte/ Ärztinnen, Diabetesfachberater/-innen (DFB), Ernährungsberater/-innen (ERB), Hebammen und Pflegepersonal. Die MigMapp© beinhaltet folgende Informationen und Hilfsmittel (Abbildung): • Allgemeine Angaben zum Krankheitsbild des GD
(Definition, Pathophysiologie, Epidemiologie, Folgen, Diagnostik, Therapie) • Informationen zur transkulturellen Kompetenz für den Dialog mit schwangeren Migrantinnen mit GD. Dies beinhaltet eine allgemeine Einführung und einen besonderen Fokus auf Tamilinnen: kulturelle, soziale und religiöse Aspekte der tamilischen Bevölkerung, die mit Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten und Präferenzen verbunden sind • Good practice/Behandlung der Zielgruppe (Präventionsmassnahmen, Beratung, Nachbetreuung)
Tabelle 1:
Akteure im Projekt NutriGeD
Berner Fachhochschule Fachbereich Gesundheit, aF&E Ernährung und Diätetik
Link: www.gesundheit.bfh.ch/
Die Forschung an der BFH zeichnet sich durch zwei charakteristische Merkmale aus: Einerseits weist sie einen hohen Praxisbezug
aus, andererseits kennzeichnet sie sich durch eine grosse Vielfalt. Diese Vielfalt gestattet es der BFH, Verbindungen mit den
unterschiedlichsten Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft einzugehen und Synergien zu schaffen.
Die Forschenden entwickeln interdisziplinäre Problemlösungen und marktfähige Innovationen.
Projektleiterin Projekt NutriGeD: Prof. Dr. Leila Sadeghi, aF&E Ernährung und Diätetik
diabetesschweiz (SDG/ASD)
Link: www.diabetesschweiz.ch/
Diabetesschweiz wurde 1957 gegründet mit dem Ziel, die Lage der Diabetikerinnen und Diabetiker in der Schweiz zu verbessern.
Heute zählen die 19 regionalen Diabetes-Gesellschaften rund 22 000 Mitglieder.
Nalavalvu (Netzwerk tamilischer Fachpersonen im schweizerischen Gesundheitswesen)
Link: www.nalavalvu.ch/
Nalavalvu ist ein Zusammenschluss tamilischer Fachpersonen im schweizerischen Gesundheitswesen. Diese Gesellschaft wurde
2007 als Verein gegründet und setzt sich aus Ärzten, Naturheilpraktikern, Pflegefachkräften und anderen im Gesundheitswesen
tätigen Personen zusammen. Der Verein zählt auch auf viele freiwillige Mitarbeiter und Gönner.
Tamilischer Verein Nordwestschweiz
Link: www.tamilischeverein.ch/
Der Tamilische Verein Nordwestschweiz hat sich zum Ziel gesetzt, mit seinem gesamten Angebot von Aktivitäten und Anlässen
die Integration der hier in der Nordwestschweiz wohnhaften Tamilen zu fördern.
Die Integration ist nicht nur auf Tamilen beschränkt, sie wendet sich an alle Interessierten, die sich mit fremden Kulturen be-
fassen. Sie umfasst alle Ethnien, Religionen und Volksgruppen.
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Abbildung: Beispielseite des Aufstellers
• Hilfsmittel, mit denen das Fachpersonal die Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten und Präferenzen der tamilischen Bevölkerung berücksichtigen kann, wie zum Beispiel: ein auf die besonderen Bedürfnisse abgestimmtes Tellermodell (Abbildung); Lebensmittelpyramide, welche die Nahrungsmittel der Bevölkerungsgruppe mit den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung verknüpft; tamilische Menüs, die im Kohlenhydratanteil für Diabetiker angepasst wurden, und so weiter. Diese sind in Form eines Aufstellers dargestellt (Tabelle 2).
MigMapp© im Spital und in der Praxis: Studienergebnisse
Eine Evaluation des Umsetzungspotenzials wurde im Rahmen einer Masterthese durchgeführt. Handbuch wie auch Aufsteller wurden beide von Gesundheitsexperten aus verschiedenen Bereichen (Ernährungsfachleuten, Diabetesfachleute, Ärzte und Hebammen) auf ihr Einführungspotenzial in der Praxis evaluiert.
Charakteristika der Teilnehmenden
Von 163 kontaktierten Gesundheitsfachpersonen füllten 50 Experten den Fragebogen komplett aus, was eine Antwortquote von 31 Prozent ergibt. 96 Prozent der Teilnehmer waren weiblich, die am meisten vertretene Altersgruppe war zwischen 35 und 54 Jahre alt (72%). 40 Prozent der Teilnehmer wählten «nachträglichen FH-Titel» als höchste Ausbildungsstufe. Der Grossteil (64%) der Teilnehmer waren registrierte Ernährungsberater, gefolgt von Diabetesfachpersonen (26%). Der Grossteil der Teilnehmer war in einem Spitalsetting tätig (90%), 36 Prozent arbeiteten zwischen 10 und 19 Jahre in ihrem Beruf, 28 Prozent 20 Jahre und mehr. 40 Prozent der Teilnehmer arbeiteten bis zu 80 Prozent, 28 Prozent arbeiteten Vollzeit (Tabelle 3).
Evaluation des Handbuchs Aufgrund der erhaltenen Antworten auf die Umfrage lässt sich sagen, dass die allgemeine Bewertung des transkulturellen Tools positiv ausfiel. Das Handbuch beinhaltet fünf Kapitel, die von den Experten evaluiert wurden. Bei Kapitel 1, welches Gestationsdiabetes, Pathophysiologie, Diagnose und therapeutische Möglichkeiten behandelt, stimmten 64 Prozent (n = 32) der Experten zu, dass der Inhalt wissenschaftlich schlüssig ist, während 30 Prozent völlig zustimmten. Beim Unterkapitel von Kapitel 1, welches die Konsequenzen von GD für Mutter und Kind erklärt, stimmten 96 Prozent der Experten zu oder völlig zu, dass die Information detailliert genug vermittelt wird. 92 Prozent der Experten stimmten zu, dass das transkulturelle Tool gutes Potenzial für die Praxis bietet, und 90 Prozent empfehlen seine Verfügbarkeit im Gesundheitsbereich. Zu den unterschiedlichen Kapiteln wurden von den Teilnehmern verschiedene Verbesserungsvorschläge gemacht. Zum Beispiel wurden noch umfangreichere Informationen zum Thema transkulturelle Kompetenz im Umgang mit tamilischen Patienten gewünscht. Gemäss Rückmeldungen sollte das zweite Kapitel detaillierter ausgearbeitet sein und mehr im Zentrum der Entwicklung und Anwendung des transkulturellen Tools stehen. Trotzdem stimmen 96 Prozent der Teilnehmer zu oder völlig zu, dass der Inhalt dieses Kapitels übersichtlich und verständlich ist. Bei den anderen Kapiteln wurde der Inhalt generell als ausreichend eingeschätzt. Zum Beispiel stimmten 64 Prozent (n = 32) der Befragten zu, dass die Informationen der Methoden zur Ermittlung von GD ausreichend waren, während 30 Prozent völlig zustimmten. 48 Prozent (n = 24) stimmten der Übersichtlichkeit und Vollständigkeit der Information aus Kapitel 5 zum Thema Ernährungstherapie während der Schwangerschaft bei GD zu, während 38 Prozent (n = 19) völlig zustimmten.
Evaluation des Aufstellers Der Aufsteller erhielt viele positive Rückmeldungen. 76 Prozent (n = 38) der Experten stimmten zu oder völlig zu, dass die bereitgestellte Information wichtig und hilfreich war. Der Grossteil der Teilnehmer (68% [n = 34]) stimmte zu oder stimmte völlig zu, dass der Inhalt genau und benutzerfreundlich ist und dass er im klinischen Setting verwendet werden kann. 60 Prozent stimmten zu oder stimmten völlig zu, allgemein mit dem Aufsteller zufrieden zu sein, und würden ihn im Falle einer Beratung von tamilischen Patienten benutzen. Fast genauso viele Teilnehmer empfehlen die Einführung in der klinischen Praxis allgemein.
Schlussfolgerungen und Zukunftsaussichten
Die kontinuierlich wachsende Zahl der Migranten in der Schweiz (6) und die gesundheitlichen Konsequenzen, die einer Migration folgen (1), verlangen nach er-
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höhter transkultureller Kompetenz des Fachpersonals im Gesundheitswesen. Langfristig gelingende Konzepte in Prävention und Gesundheitsförderung durch Ernährung und Bewegung für die Migrationsbevölkerung sind notwendig. Die im vorliegenden Projekt entwickelte MigMapp© eröffnet diesbezüglich neue Möglichkeiten für eine wirksame und effiziente ERB/DFB von schwangeren Migrantinnen tamilischer Herkunft mit GD. Momentan gibt es in der Schweiz
keine offiziellen Hilfsmittel, welche die tamilischen Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten berücksichtigen. Mit dem Projekt NutriGeD wurde ein Hilfsmittel entwickelt, welches die Bedürfnisse der Klientinnen berücksichtigt und mit dem das Fachpersonal arbeiten kann. So werden die Fachpersonen im Gesundheitsbereich zum Thema transkulturelle Kompetenz sensibilisiert. Es wird erwartet, dass die bis jetzt oft aufwendige Kommunikation zwischen Fachperso-
Tabelle 2:
Beispiele der Inhalte des Aufstellers
«Was bedeutet Gestationsdiabetes?»
Deutsch/Tamil
Dank dieses Hilfsmittels werden die Frauen mehr über Gestationsdiabetes mit Ursachen, Risikofaktoren sowie die Folgen für
Mutter und Kind erfahren. Ziel des Hilfsmittels ist, den Betroffenen die Krankheit und ihre Begleiterscheinungen mit einfachen
Worten zu vermitteln. Dieses Tools ist eins von mehreren, die im Rahmen der Beratung den Austausch zwischen Fachpersonen
und Patientinnen vereinfachen werden. So verwendet die Fachperson die «gleiche Sprache» wie die Laien, um über ein sonst
komplexes Thema zu sprechen. Die tamilische Version wird der deutschen Version gegenübergestellt, sodass die Frauen den
Erklärungen problemlos folgen und an einem Austausch teilnehmen können.
«Eine Lebensmittelpyramide für Schwangere mit GD»
Deutsch/Tamil
Eine tamilische Version der Lebensmittelpyramide wurde vor einigen Jahren in Zusammenarbeit zwischen dem Tamilischen
Verein Nordwestschweiz und der Gesundheitsförderung Schweiz entwickelt. Diese Pyramide enthält Lebensmittel, welche in
der tamilischen Bevölkerung bekannt sind und tagtäglich verwendet werden. Unser Projektpartner, der Tamilische Verein Nord-
westschweiz, hat uns diese Lebensmittelpyramide zur Verwendung für unser Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Es wurden zu-
sätzlich einige Hinweise auf Basis der SGE-Empfehlungen neben jeder Pyramidenebene hinzugefügt.
«Was gibts in der Schweiz?»
Deutsch/Tamil
Eine durchgeführte Fokusgruppe mit tamilischen Migrantinnen zum Thema Erfahrungen und Bedürfnisse bei Gestationsdiabetes
im Gesundheitswesen allgemein zeigte den Bedarf, typisches Schweizer Gemüse auf dem Markt in unser Hilfsmittel einzubauen
und die Zubereitungsmöglichkeiten zu erwähnen. Daher wurde eine kleine Auswahl an Gemüsesorten getroffen, welche mit
Foto und Kurzbeschreibung erklärt werden.
«Ausgewogener Teller»
Deutsch/Tamil
Aufgrund der SGE-Empfehlungen zur Aufteilung eines Tellers mit den verschiedenen Makronährstoffen – für Diabetesbetroffene
wie auch für Schwangere – wurde ein Teller grafisch dargestellt und die am «Kochtag» fotografierte Komponente den entspre-
chenden «Makronährstofffeldern» zugeteilt. Bei dieser Version des Tellermodells ist zu erwarten, dass die Patientin sich eher
angesprochen fühlt als mit den herkömmlichen europäischen Menükomponenten, die sie unter Umständen gar nicht isst/zube-
reitet. Sie wird die Lebensmittel auf dem Teller wiedererkennen und einordnen können, welche Menge einer empfohlenen
Standardportion entspricht.
«Wie viel Zucker steckt in meinen Lebensmitteln?»
Deutsch/Tamil
Getreu dem Motto «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» wird der Zuckergehalt von gängigen Lebensmitteln und Getränken
dargestellt. Dieser wird in Gramm angegeben und mit einer dementsprechenden Menge an Zuckerwürfeln visualisiert. Für das
Projektteam war wichtig, nicht nur Süssigkeiten und Softdrinks, sondern auch «gesunde Produkte» wie Joghurt und frische
Früchte aufzuführen, deren Zuckergehalt meist unterschätzt oder als «gesund, weil Fruchtzucker» wahrgenommen wird.
«Ich entscheide aktiv»
Deutsch/Tamil
Dieses Tool zielt darauf ab, die alltägliche Bewegung zu fördern, ohne unrealistische Ziele für die Frauen zu setzen. «Nehmen
Sie die Treppe, nicht den Lift», «Gehen Sie zu Fuss, anstatt den Bus zu nehmen», dies sind einige Änderungen, die das Tool vor-
schlägt. Ein tamilisches «Model» wurde dafür rekrutiert, sodass die Aktivitäten von jemandem gezeigt wird, mit dem sich die
Patientinnen identifizieren können. Die Bilder präsentieren einerseits die suboptimalen Aktivitäten und andererseits (gegen-
übergestellt) die «zu fördernden» Aktivitäten. Die Bilder sprechen für sich selbst und der Titel lautet «Ich entscheide aktiv» –
was noch einmal die Selbstbestimmung der Frau betonen soll.
«Gesund essen mit Gestationsdiabetes»
Deutsch/Tamil
Vier Menüs und ein Snack wurden von Mitgliedern des Tamilischen Vereins vorgeschlagen. Diese Gerichte wurden durch Er-
nährungsberater in diabetesfreundliche Versionen konvertiert, wobei die Kohlenhydratmenge jeweils entsprechend angepasst
wurde. Ausserdem wurde die Fettqualität (Rapsöl anstelle von Sonnenblumenöl) und -menge angepasst. Zusätzlich wurde eine
Eiweisskomponente bei jedem Menü hinzugefügt (vegetarisch und fleischhaltig). Die Menüs wurden dann in das Nährstoffpro-
gramm Nuts eingetragen und kalkuliert. Diese Daten ergeben das Nährstoffprofil, welches bei jeder Rezeptur zu finden ist. Die
optimierten Menüs wurden im Rahmen eines Kochtages zusammen mit Mitgliedern des Tamilischen Vereins Nordwestschweiz
hergestellt und professionell fotografiert. Die Menübilder wurden neben den entsprechenden Rezepturen abgebildet. Zusätzlich
wurden einzelne Spezialitäten aus Sri Lanka für ein vorgesehenes Food Lexikon fotografiert (zurzeit in Bearbeitung).
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nal und Patientin durch das geplante Tool optimiert wird. Sie werden unter anderem mit sozioökonomischen und kulturellen Aspekten der Migrationsbevölkerung mit tamilischem Hintergrund vertraut und werden deshalb ein besseres Verständnis der vielfältigen Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und Barrieren zur erfolgreichen Behandlung gewinnen können. Durch die auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Beratungsunterlagen fühlen sich die Klientinnen mit ihrem kulturellen Hintergrund wahrgenommen, daher wird auch eine erhöhte Motivation der Patientin in Hinblick auf ihr Diabetesmanagement erwartet. Letztendlich sollte dieses Hilfsmittel die Kommunikation zwischen Patientin und Fachperson fördern und bessere Therapieergebnisse ermöglichen. Wie in der Evaluationsstudie gezeigt, bekundete ein Grossteil der Schweizer Gesundheitsfachpersonen grosses Interesse am transkulturellen Tool MigMapp©. Die konstruktiven Bemerkungen zu kleinen Anpassungen wurden berücksichtigt und vor der Einführung in die Praxis überarbeitet. Zusammenfassend bietet dieses Tool einen neuen Denkansatz zur Einführung von transkulturellen Ernährungsberatungen, und es könnte ein vielversprechender Anfang für die Entwicklung von weiteren Tools für die klinische Praxis für verschiedene Migrantengruppen sein. Sobald das Tool fertiggestellt ist, wird es verschiedenen Spitälern und Kliniken zugänglich gemacht. Damit es auch in den französischsprachigen Teilen der Schweiz Anwendung finden kann, wird es übersetzt. Das Team diskutiert zurzeit eine internationale Zusammenarbeit, um ähnliche Tools für andere Migrantengruppen zu entwickeln, die auf ihre jeweiligen Erkrankungen und Lebensumstände zugeschnitten sind.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Leila Sadeghi Berner Fachhochschule Fachbereich Gesundheit aF&E Ernährung und Diätetik Murtenstrasse 10 3008 Bern E-Mail: leila.sadeghi@bfh.ch
Interessenkonflikte: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.
Danksagung Die Autorinnen bedanken sich ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung der folgenden Institutionen: Das Staatsekretariat für Migration (SEM) Schweiz und die BFM Stiftung für das Projekt NutriGeD, respektive die NutriGeD-Evaluation-Studie.
Literatur: 1. Moret J, Efionayi D, Stants F: (2007) Die srilankische Diaspora in der Schweiz. Bundesamt für Migration. Abgerufen am 4. August 2014 von www.bfm.admin.ch//content/dam/data/migration/publikationen/diasporastudie-srilanka-d.pdf 2. Gesellschaft für bedrohte Völker (2013): 30 Jahre Tamilen in der Schweiz: Schutz der Menschen statt Wegweisungen!. Abgerufen am 4. August 2014 www.gfbv.ch/de/kampagnen_projekte/sri_lanka_kriegsverbrecher_mussen_strafrechtlich_verfolgt_werden.cfm?517/1/30-Jahre-Tamilen-in-der-Schweiz-Schutz-der-Menschen-statt-Wegweisungen
Tabelle 3:
Charakteristika der Teilnehmenden zur Evaluation der MigMapp©
Geschlecht: männlich weiblich Alter: bis 24 25–34 35–54 55–64 65 und älter Höchster Bildungsgrad: Ausbildung Fachhochschule Bachelorabschluss Masterabschluss Doktortitel (MD, PHD) Andere Beruf: Ernährungsberatung BSc/MSc Ernährungswissenchafter Diabetesexperte Facharzt Medizin Pflegefachpersonal (FH/HF) Hebamme Andere Arbeitsort: Spital Praxis für Ernährungsberatung Industrie Forschung Bildungswesen Non-Profit-Organisation Andere Berufserfahrung: Weniger als 5 Jahre 5–9 Jahre 10–19 Jahre 20 Jahre oder mehr Arbeitspensum: bis 20% bis 40% bis 60% bis 80% Vollzeit 100%
%
4% 96%
2% 16% 72% 8% 2%
12% 40% 22% 4% 4% 18%
64% 0% 26% 4% 8% 4% 2%
90% 14% 0% 0% 10% 2% 2%
20% 16% 36% 28%
4% 10% 18% 40% 28%
n
2 48
1 8 36 4 1
6 20 11 2 2 9
32 0 13 2 4 2 1
45 7 0 0 5 1 1
10 8 18 14
2 5 9 20 14
3. Rajput R, Yadav Y, Nanda S, Rajput M: Prevalence of gestational diabetes mellitus & associated risk factors at a tertiary care hospital in Haryana. Indian Journal of Medical Research. 2013; 137: 728–733. 4. Metzger BE, Buchanan TA, Coustan DR, De Leiva A, Dunger DB, Hadden DR, Zoupas C: Summary and Recommendations of the Fifth International Workshop-Conference on Gestational Diabetes Mellitus. Diabetes Care, 2007; 30, 251–260. doi: 10.2337/dc07-s225. 5. Lehmann R, Troendle A, Brändle M: Neue Erkenntnisse zur Diagnostik und Management des Gestationsdiabetes. Therapeutische Umschau, 2009, 66, 695–706. doi: 10.1024/0040-5930.66.10.695. 6. Bundesamt für Statistik (2014): Migration und Integration – Indikatoren Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Abgerufen am 4. August 2014 von www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/ 04.html
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