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Nutrigenomik: Anlass für neue Empfehlungen?
EDITORIAL
Die Griechen in der Antike stellten fest, dass Zucker im Urin eine krankhafte Erscheinung darstellt, und versuchten, durch Kompensation des Verlustes das Problem zu lösen – leider ohne Erfolg. Heute wissen wir besser um die Bedeutung der Ernährung für die Gesundheit Bescheid – über 20 Milliarden Franken unserer Gesundheitskosten haben einen Bezug zur Ernährung. Doch wo genau Nahrungskomponenten unsere Gesundheit beeinflussen oder gar steuern, wird erst allmählich bekannt. Inwiefern sich die Ausbreitung von chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Störungen oder Krebs durch das Essverhalten beeinflussen lässt, dies bietet bis heute Anlass zu lebhaften Diskussionen. Nun müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass unsere genetische Information während unserer Lebensdauer Veränderungen unterworfen ist, was ein ganzes Wissensgebiet, die Epigenetik, umfasst. Die genetische Prädisposition spielt zwar immer noch eine wichtige Rolle bei der Pathogenese vieler Krankheiten, aber eben nicht ausschliesslich. Die Bausteine für die Modifikationen können wir nicht alle selber synthetisieren, sie müssen mit der Nahrung bereitgestellt werden. Die Konsequenzen einer unzureichenden Zufuhr sind schwierig abzuschätzen, aber es ist zu erwarten, dass vor allem im Alter Unregelmässigkeiten in der Steuerung des Metabolismus sichtbar werden. Die Beiträge in dieser Ausgabe beleuchten das Thema der Nutrigenomik aus verschiedenen Perspektiven. Eine Einführung in die hoch wissenschaftliche Thematik finden Sie im Beitrag von Doreen Gille und Guy Vergères vom Institut für Lebensmittelwissenschaften Bern. Der Beitrag stellt den Zusam-
menhang von Ernährungsmustern und deren Beeinflussung epigenetischer Modifikationen vor. Die Beiträge von Prof. Helena Jenzer und Dr. Leila Sadeghi, Fachhochschule Bern, befassen sich insbesondere mit der Rolle der Ernährungsberatung im Bereich von Nutrigenomics. Wie viel Wissen ist in der Praxis bereits vorhanden, und wie viel und welche Weiterbildung braucht es? Ernährungsfachkräfte werden sicher gefordert sein, damit sie das neue Wissen sinnvoll anwenden können. Ohne Industrie keine Forschung: Prof. Peter Weber von DSM zeigt im Beitrag die Möglichkeiten der heutigen Analysetechniken auf. Sie ermöglichen, die Ernährung individuell anzupassen, und man kann sich fragen, ob die heutigen allgemein abgefassten Ernährungsregeln, wie sie zum Beispiel in der Ernährungspyramide der SGE dargestellt werden, bald durch personifizierte Empfehlungen abgelöst werden müssen. Prof. Martin Kussmann, Leiter der Gruppe «Systems Nutrition, Metabonomics and Proteomics» am Nestlé Institute of Health Sciences (NIHS) in Lausanne, stellt im Interview die Möglichkeiten und Grenzen der heutigen Ernährungsmedizin vor. Die Ernährungswissenschaften, oft stiefmütterlich behandelt, enthüllen auch im 21. Jahrhundert äusserst spannende Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit. Die SGE wird sich mit der Nutrigenomik auseinandersetzen müssen, um allenfalls Empfehlungen neu zu formulieren oder anzupassen. Mit der neu gewählten Präsidentin, Dr. Isabelle Herter, wird ihr das sicher gelingen.
Ulrich Moser Präsident SGE bis Mai 2016
3|2016 SZE 1