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HEALTHY AGING
Gelingendes Altern durch Bewegung und Sport
JULIA SCHMID, ACHIM CONZELMANN*
Alt werden bei körperlichem und seelischem Wohlbefinden, dieses Begehren widerspiegelt sich nicht nur in den Werken so mancher Philosophen, Künstler, Dichter und Naturforscher, sondern ist insbesondere auch ein bedeutsames Thema in unserer heutigen «ergrauenden» Gesellschaft. In den letzten Jahren mehren sich die Hinweise, dass Bewegung und Sport einen bedeutsamen Beitrag für ein gelingendes, ein «erfolgreiches Altern» (1) leisten können (2, 3). Positive Effekte werden sowohl für die körperlich-motorischen Merkmale als auch für das psychische Wohlbefinden im Alter postuliert. Der vorliegende Beitrag referiert den Forschungsstand zu diesen beiden Annahmen aus einer sportwissenschaftlichen Perspektive und geht dabei sowohl auf allgemeine Befunde als auch auf differenzielle, die Unterschiedlichkeit älterer Menschen berücksichtigende Aspekte ein.
Beeinflussung körperlicher Fitness im Alter
Der menschliche Organismus zeichnet sich während der gesamten Lebensspanne durch eine hohe Anpassungsfähigkeit aus. Trainings- und Lerneffekte sind für alle motorischen Fähigkeiten (Ausdauer, Kraft) und Fertigkeiten (z.B. Jonglieren, Skifahren) über die gesamte Lebensspanne möglich. Gleichzeitig führt körperliche Inaktivität insbesondere bei Kraft und Ausdauer zu negativen Anpassungsprozessen und zu einem verstärkten Leistungsrückgang mit einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für die sogenannten Bewegungsmangelkrankheiten wie Übergewicht, Bluthochdruck und Herzinfarkt. Inwiefern verändert sich nun die Anpassungsfähigkeit, die Trainierbarkeit motorischer Fähigkeiten im Laufe des Lebens? Bei der Ausdauer, also der Ermüdungswiderstandsfähigkeit bei lang andauernden Belastungen (z.B. Nordic Walking, Velofahren), handelt es sich um eine relativ
*Prof. Dr. Achim Conzelmann, Institut für Sportwissenschaft, Universität Bern, Ordinarius.
«entwicklungsneutrale» Fähigkeit. Die Trainierbarkeit der Ausdauer ist nicht nur bis ins hohe Alter gegeben, sie unterliegt zudem kaum Veränderungen (vgl. im Überblick [4]). Auch die Kraft ist bis ins hohe Alter trainierbar (5). Selbst nach dem 90. Lebensjahr sind bei beiden Geschlechtern noch erhebliche Kraftzuwächse erreichbar (6). Das gilt ebenfalls für sportliche Späteinsteiger (7). Ebenso ist die motorische Lernfähigkeit im Verlauf des Lebens überraschenderweise relativ konstant. So zeigen ältere Menschen beim Erlernen des Jonglierens ähnliche Lernprozesse wie Kinder und Jugendliche (Abbildung 1). In weit höherem Masse als vom Alter ist die motorische Lernfähigkeit von den sportlichen Vorerfahrungen abhängig. Das konnte Wollny (9) in einem Lernexperiment eindrücklich aufzeigen, bei dem 10- bis 59-jährige Frauen mit unterschiedlicher sportlicher Sozialisation einen Rückhandschupfball erlernten. Im Gegensatz zu Anpassungsprozessen bei den konditionellen Fähigkeiten Kraft und Ausdauer gilt demnach für motorische
Lernprozesse das Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» auch heute noch, wenn auch in der abgeschwächten Version: «Was Hänschen (Gretchen) nicht lernt, lernt Hans (Grete) nicht mehr so gut beziehungsweise schnell.»
Sport und Psyche
Während die positiven Wirkungen sportlicher Aktivitäten auf die körperliche Fitness belegt sind, ist der Forschungsstand über mögliche Wirkungen auf die psychische Gesundheit nicht ganz so eindeutig. Die aktuellste Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen körperlich-sportlicher Aktivität und habituellem Wohlbefinden bei älteren Menschen haben Netz et al. (10) vorgelegt. Sie konnten bedeutsame Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden zwischen Bewegungsaktiven und Bewegungsinaktiven aufzeigen. Besonders die Selbstwirksamkeit («Was glaube ich zu können?»), das allgemeine Wohlbefinden und das Selbstkonzept («Welches Bild habe ich von mir als Person?») wurden durch die körperlichen Ak-
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Abbildung 1: Die Entwicklung des Jonglierens über die Lebensspanne (Mittelwerte und polynomische Trendlinien; [8]). Die Abstände zwischen der Ausgangsleistung (Leistung des 1. Versuchs ohne Tipp) und der Entwicklungskapazitätsreserve (Leistung nach einer Woche Üben mit Anleitung) sind über die betrachteten Altersklassen hinweg nahezu vergleichbar.
Abbildung 2: Herstellung einer optimalen Passung zwischen Person und sportlicher Aktivität. Die Passung zwischen Person und sportlicher Aktivität hängt von vielen Faktoren ab. Für den Gesundheits- und Freizeitsport lohnt sich insbesondere ein Blick auf die Motive und Ziele. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Befriedigung der Motive beziehungsweise das Erreichen der persönlichen Ziele zu Wohlbefinden führt (16–18), und dieses wiederum mit der Aufrechterhaltung eines Sportengagements zusammenhängt (19, 20).
tivitäten positiv beeinflusst. Ausdauertraining führte zu den grössten Effekten, vor von Krafttraining und allgemeinem Fitnesstraining. Moderate Übungen (z.B. zügiges Gehen) zeigten die grössten Effekte, danach folgen solche mit hoher Intensität (z.B. Joggen mit relativ hoher Geschwindigkeit) und Übungen mit sehr geringer Intensität (z.B. gemächliches Spazierengehen). Indirekt geben auch die Befunde der Berliner Altersstudie (11) Hinweise auf die positiven Wirkungen von Sport und Bewegung auf das psychische Wohlbefinden. So konnte gezeigt werden, dass das subjektive Wohlbefinden von Älteren am stärksten durch die subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit beeinflusst wird. Die subjektive Gesundheit wiederum ist, neben der Anzahl der Erkrankungen, vor allem abhängig von der Fähigkeit, im Alter noch (körperlich) mobil zu sein. Da die körperliche Mobilität im Alter unmittelbar mit der körperlich-motorischen Fitness zusammenhängt und diese bei sportlich aktiven Menschen erhöht ist, ist auch ein positiver Einfluss auf die Psyche anzunehmen.
Differenzielle Perspektive
Die Eingangsfrage «Gelingendes Altern durch Bewegung und Sport?» lässt sich eher mit einem Ja als mit einem Nein be-
antworten. Zwei Aspekte dürfen jedoch nicht übersehen werden: Erstens sind sich ältere Menschen sehr unähnlich. Unterschiedliche Anlage- und Umweltbedingungen, die mit der gelebten Lebenszeit ihre Effekte vergrössern, unterschiedliche Biografien sowie Krankheiten, die das «normale» Altern überlagern können, führen zu einer grossen Unterschiedlichkeit zwischen Gleichaltrigen und zu höchst individuellen Formen des Alterns (12, 13). Zweitens sollte der Vielfalt des Sports ausreichend Beachtung geschenkt werden. Sport ist kein einheitliches Phänomen, sondern zeichnet sich durch unterschiedliche Inhalte und Realisierungsformen aus (14, 15). Für Massnahmen zur Förderung sportlicher Aktivität ergibt sich folglich das Ziel, eine Passung zwischen der älteren Person und der sportlichen Aktivität herzustellen (Abbildung 2). Die Motive und die Ziele des Sporttreibens von Menschen im höheren Erwachsenenalter sind vielfältig und lassen sich keineswegs nur auf das Motiv Gesundheit reduzieren. Laut einer Studie (21) mit Schweizerinnen und Schweizern ab 65 Jahren lassen sich sieben Motivbereiche differenzieren: Der Bereich Figur/Aussehen bezieht sich auf die positive Beeinflussung des Gewichts sowie auf die Verbesserung der körperlichen Erscheinungsform.
Der Bereich Kontakt umfasst zwei Facetten: Kontakt im Sport betrifft die Kommunikation während der Aktivitätsausübung. Kontakt durch den Sport ist auf die Möglichkeit ausgerichtet, durch das Sporttreiben Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Der Bereich Alltagskompetenz/Gesundheit beschreibt das Ziel, mit dem Sporttreiben die Fähigkeit zur selbstständigen Ausführung von Alltagsaktivitäten zu fördern sowie die Gesundheit zu erhalten. Der Beweggrund: Positive Bewegungserfahrungen bezieht sich auf die Möglichkeit, schöne Bewegungen im Sport zu erleben (z.B. bei einer harmonischen Bewegung im Walking oder bei einer gelungenen Bewegungssequenz im Tanz) und Freude am Sporttreiben selbst zu haben. Kognitive Leistungsfähigkeit beschreibt
Info: Fragebogen zu Motiven und Zielen im Freizeit- und Gesundheitssport
Auf der Homepage www.ispw.unibe.ch/sporttypen kann der vorgängig beschriebene Fragebogen zu den Motiven und Zielen im Freizeit- und Gesundheitssport ausfüllt werden. Eine Rückmeldung des individuellen Motivund Zielprofils wird direkt nach dem Ausfüllen des Fragebogens generiert!
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die Ausrichtung der Aktivitätsausübung auf die Förderung der Denkfähigkeit. Der Beweggrund: Stimmungsregulation zielt auf die Möglichkeit ab, durch das Sporttreiben negative Emotionen wie Stress oder Energielosigkeit abzubauen. Der Beweggrund Wettkampf/Leistung bezieht sich auf die Absicht, sich im Sport mit anderen zu vergleichen und eigene sportliche Ziele zu verfolgen. Abbildung 3 gibt einen Überblick über die Wichtigkeit der einzelnen Motive und Ziele. Jede Person weist demnach ein einzigartiges Motiv- und Zielprofil auf. Aus Praktikabilitätsgründen ist es sinnvoll, Menschen mit ähnlichen Motiv- und Zielprofilen zu gruppieren. Bei Menschen im höheren Erwachsenenalter können acht unterschiedliche «motivbasierte Sporttypen» identifiziert werden. Über alle Sporttypen hinweg wird Alltagskompetenz/Gesundheit als sehr wichtig und Wettkampf/Leistung als sehr unwichtig erachtet. Für die einzelnen Typen charakteristisch sind jedoch Priorisierungen der Motiv- und Zielbereiche Figur/Aussehen, Stimmungsregulation, kognitive Funktionsfähigkeit, Kontakt oder positive Bewegungserfahrungen. Um optimale Passungsverhältnisse zwischen einer älteren Person und einer sportlichen Aktivität herzustellen, kann erstens eine individualisierte Sportberatung durchgeführt werden, bei der eine geeignete Sportaktivität empfohlen wird. Zweitens besteht die Möglichkeit, ein bereits bestehendes Angebot anzupassen (z.B. mehr oder weniger auf Geselligkeit ausrichten, gesundheitswirksame Ausdauerreize in eine Spielvermittlung ein-
Abbildung 3: Wichtigkeit der sportbezogenen Motive und Ziele: n = 469 1 = sehr unwichtig, 5 = sehr wichtig (21).
bauen, bei einer Velotour mehr oder weniger Naturerlebnisse zulassen). Und drittens kann auf Grundlage des Wissens über einen motivbasierten Sporttyp ein passendes Angebot entwickelt und durchgeführt werden. Gelingt es, eine gute Passung zwischen Person und sportlicher Aktivität herzustellen, dürfte die Wahrscheinlichkeit relativ gross sein, dass mit dieser Aktivität positive Effekte auf die körperlich-motorische Fitness und das psychische Wohlbefinden erreicht werden und damit ein Beitrag zum gelingenden Altern geleistet wird.
Korrespondenzadresse: Julia Schmid Institut für Sportwissenschaft Universität Bern Bremgartenstrasse 145 3012 Bern E-Mail: julia.schmid@ispw.unibe.ch
Interessenkonflikte: Es liegen keine Interessenskonflikte vor.
Literatur: 1. Baltes PB, Baltes MM. Erfolgreiches Altern. Mehr Jahre und mehr Leben. In: Baltes MM, Kohli M, Sames K, editors. Erfolgreiches Altern: Bedingungen und Variationen. 1st ed. Bern: Huber; 1989. S. 5–10. 2. Meisner BA, Dogra S, Logan AJ, Baker J, Weir PL. Do or Decline?: Comparing the Effects of Physical Inactivity on Biopsychosocial Components of Successful Aging. Journal of Health Psychology 2010; 15 (5): 688–696. 3. Baker J, Meisner BA, Logan AJ, Kungl AM, Wir PL. Physical activity and successful aging in Canadian older adults. Journal of Aging and Physical Activity 2009; 17: 223–235. 4. Conzelmann A, Blank M. Entwicklung der Ausdauer. In: Baur J, Bös K, Conzelmann A, Singer R, editors. Handbuch motorische Entwicklung. 2nd ed. Schorndorf: Hofmann; 2009 (Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport; vol. 106).
5. Zimmermann K. Gesundheitsorientiertes Muskelkrafttraining: Theorie, Empirie, Praxisorientierung. Schorndorf: Hofmann; 2000. (Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport; vol. 127). 6. Fiatrone MA, Marks EC, Ryan ND, Meredith CN, Lipsitz LA, Evans WJ. High-intensity strength training in nonagenarians. Effects on skeletal muscle. The Journal of American Medical Association 1990; 263: 3029– 3034. 7. Conzelmann A. Entwicklung konditioneller Fähigkeiten im Erwachsenenalter. Schorndorf: Hofmann; 1997. (Wissenschaftliche Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes; vol 29). 8. Willimczik K, Voelcker-Rehage C, Wiertz O. Sportmotorische Entwicklung über die Lebensspanne. Zeitschrift für Sportpsychologie 2006; 13 (1): 10–22. 9. Wollny R. Motorische Entwicklung in der Lebensspanne: Warum lernen und optimieren manche Menschen Bewegungen besser als andere? Schorndorf: Hofmann; 2002. (Wissenschaftliche Schriftenreihe des Deutschen Sportbundes; vol 31). 10. Netz Y, Wu M, Becker BJ, Tenenbaum G. Physical Activity and Psychological Well-Being in Advanced Age: A Meta-Analysis of Intervention Studies. Psychology and Aging 2005; 20 (2): 272–284. 11. Smith J, Fleeson W, Geiselmann B, Settersten R, Kunzmann U. Wohlbefinden im hohen Alter: Vorhersagen aufgrund objektiver Lebensbedingungen und subjektiver Bewertung. In: Mayer KU, Baltes PB, editors. Die Berliner Altersstudie: Ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 3rd ed. Berlin: Akademie Verlag; 2010. S. 521–548. 12. Mayer KU, Baltes PB, Baltes MM, Borchelt M, Delius J, Helmchen H et al. Wissen über das Alter(n): Eine Zwischenbilanz der Berliner Altersstudie. In: Mayer KU, Baltes PB, editors. Die Berliner Altersstudie: Ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 3rd ed. Berlin: Akademie Verlag; 2010. S. 623–658. 13. Thomae H. Das Individuum und seine Welt: Eine Persönlichkeitstheorie. 3rd ed. Göttingen: Hogrefe; 1996. 14. Singer R. Sport und Persönlichkeit. In: Gabler H, Nitsch JR, Singer R, editors. Einführung in die Sportpsychologie. 3rd ed. Schorndorf: Hofmann; 2000. S. 289–336 (Sport und Sportunterricht; vol. 2). 15. Willimczik K. Die Vielfalt des Sports. Sportwissenschaft 2007; 37: 19–37. 16. Sebire SJ, Standage M, Vansteenkiste M. Examining Intrinsic Versus Extrinsic Exercise Goals: Cognitive, Affective, and Behavioral Outcomes. Journal of Sport & Exercise Psychology 2009; 31: 189–210. 17. Molinari V, Schmid J, Sudeck G, Conzelmann A. Wirkung sportlicher Aktivität auf das aktuelle Befinden im höheren Erwachsenenalter. Sportwissenschaft 2015. 18. Sudeck G, Conzelmann A. Motivbasierte Passung von Sportprogrammen: Explizite Motive und Ziele als Moderatoren von Befindlichkeitsveränderungen durch sportliche Aktivitäten. Sportwissenschaft 2011; 41: 175–189. 19. Williams DM, Dunsiger S, Jennings EG, Marcus BH. Does affective valence during and immediately following a 10-min walk predict concurrent and future physical activity? Annals of Behavioral Medicine 2012; 44 (1): 43–51. 20. Kwan BM, Bryan AD. Affective response to exercise as a component of exercise motivation: Attitudes, norms, self-efficacy, and temporal stability of intentions. Psychology of Sport and Exercise 2010; 11 (1): 71– 79. 21. Schmid J, Molinari V, Lehnert K, Sudeck G, Conzelmann A. BMZI-HEA. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 2014; 22 (3): 104–117.
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