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DIABETES UND ERNÄHRUNG
Nutzen von Screening und Ernährungstherapie bei akut kranken internistischen Patienten
SUSAN FELDER, MARTINA BALLY, REBECCA FEHR, PHILIPP SCHÜTZ
Susan Felder
Mangelernährung ist mit einer Prävalenz von 20 bis 30 Prozent bei akut kranken, hospitalisierten Patienten ein weitverbreitetes Problem und ist assoziiert mit erhöhter Mortalität, höheren Komplikationsraten und verlängerten Spitalaufenthalten (1). Trotz der Relevanz der Problematik im Spitalalltag fehlt bis heute ein Algorithmus für einen evidenzbasierten Umgang mit dem allgemeininternistischen Patientenkollektiv. Es besteht deshalb dringender Bedarf an gross angelegten Studien mit randomisiert kontrolliertem Design, die eine individualisierte Ernährungstherapie beim akut kranken internistischen Patienten untersuchen.
Mangelernährung beschreibt ein Ungleichgewicht zwischen Nahrungsaufnahme und Nahrungsverbrauch und geht mit einem Mangel an Kalorien, Proteinen, essenziellen Fettsäuren, Vitaminen, Spurenelementen und/oder Mineralstoffen einher (2). Durch Stress der Akutkrankheit ausgelöste metabolische Probleme, wie Insulinresistenz und Hyperglykämie, machen die Frage nach der richtigen Ernährung häufig besonders schwierig, da die Hyperalimentation die Blutzuckereinstellung potenziell erschweren und somit schädliche Auswirkungen auf die Genesung des Patienten haben kann.
Pathophysiologie der Mangelernährung
Akute und chronische Krankheitszustände, wie man sie im Spitalalltag antrifft, sind assoziiert mit Gewichtsverlust, verminderter Nahrungsaufnahme sowie Verlust von Muskel- und Fettgewebe, was zur krankheitsbedingten Kachexie führen kann (2). Obwohl der Zustand der Kachexie mit vielen Krankheitsbildern assoziiert ist, sind die genauen pathophy-
siologischen Abläufe, die zur Entstehung der Kachexie beitragen, noch nicht vollständig geklärt. Zytokine spielen eine zentrale Rolle in der Entstehung der Kachexie. Ihre Produktion wird getriggert durch direkte Zellschädigung und die indirekte Aktivierung der Immunantwort. Bei kachektischen Patienten werden proinflammatorische Zytokine, wie Interleukin 1 (IL1), IL2, INFγ und TNFα, vermehrt und antiinflammatorische Zytokine, wie IL10, vermindert ausgeschüttet. Dieses Ungleichgewicht zwischen pro- und antiinflammatorischen Zytokinen führt zur Aktivierung des Transkriptionsfaktors NFKB und fördert so den Katabolismus der Skelettmuskulatur. Nebst Zytokinen spielen auch körpereigene Hormone eine wichtige Rolle im akuten Krankheitszustand. So werden Testosteron, Schilddrüsenhormone und Wachstumshormon in geringerem Masse produziert und andere Hormone, wie zum Beispiel adrenerge Hormone und Glukokortikoide, vermehrt ausgeschüttet. Als wichtige Mediatoren der Stressantwort des Körpers reduzieren Gluko-
kortikoide die Proteinsynthese und steigern die Glukoneogenese. Daraus resultieren ein vermehrter Muskelabbau und eine Verschlechterung der Glukosetoleranz mit konsekutiver Hyperglykämie. Eine solche (Stress-)Hyperglykämie kann – je nach Schweregrad der Erkrankung – unabhängig von einem vorbestehenden Diabetes auftreten und den Genesungsprozess verlangsamen. Unklar bleibt, weshalb Menschen auf Krankheit mit Appetitverlust reagieren und ob dies evolutionäre Hintergründe hat. Neuere Daten aus präklinischen und klinischen Studien zeigen, dass das Fasten zelleigene Regenerationsmechanismen (Autophagie) fördert, wohingegen eine Hyperalimentation das Zellrecycling kompetitiv vermindert und zu einem vermehrten Anfall von toxischen Zellproteinen sowie beschädigten Zellorganellen führt. Aufgrund dieser Daten kann spekuliert werden, ob der Erhalt der Muskelmasse bei Kranken mit der Akkumulation von toxischen Zellproteinen bezahlt werden muss.
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DIABETES UND ERNÄHRUNG
Screening
Für die Identifizierung von Patienten mit einem Risiko für eine Mangelernährung stehen bei unterschiedlichen Patientenkollektiven verschiedene Screeningtools zur Verfügung. Wichtig zu erwähnen ist, dass nicht nur untergewichtige, sondern durchaus auch übergewichtige Patienten mit metabolischem Syndrom und Diabetes mellitus Typ 2 von einer Mangelernährung betroffen sein können. Ob diese metabolisch vorbelasteten Patienten mehr oder weniger vom Screening und der Ernährungstherapie profitieren, ist heute weitgehend unklar.
Zu den wichtigsten Screeninginstrumenten gehören das Mini-Nutritional-Assessment (MNA), das Subjective-GlobalAssessment (SGA), das Mangelernährung-Universal-Screening-Tool (MUST) und das Nutritional-Risk-Screening (NRS 2002). Letzteres wird von der Europäischen Gesellschaft für enterale und parenterale Ernährung (ESPEN) als Screeninginstrument empfohlen. Gemäss dem NRS 2002 basiert die Indikation für eine Ernährungsunterstützung zum einen auf dem Nährstoffbedarf (variierend je nach Krankheitsschwere) und zum anderen auf dem Ernährungszustand (Body-Mass-In-
dex, Nahrungszufuhr in der vergangenen Woche, Gewichtsverlust) des Patienten. Ein Alter über 70 Jahre gilt als unabhängiger Risikofaktor für eine Mangelernährung und wird beim NRS 2002 ebenfalls berücksichtigt. In einer retrospektiven Analyse von 128 Studien wurde gezeigt, dass Patienten mit einem NRS-Score von mehr als drei Punkten von einer Ernährungsintervention profitieren konnten (3). Bei dieser Analyse wurden jedoch mehrheitlich chirurgische Patientenkollektive untersucht. Mangels validierter alternativer Screeningtools wird das NRS 2002 deshalb auch für internistische Patienten, zu denen auch Diabetiker gehören, empfohlen.
Tabelle 1: Mangelernährungs-Screening mithilfe des NRS-2002, adaptiert für medizinische Patienten
Vorscreening: BMI < 20,5 kg/m2? Ungewollter Gewichtsverlust während der letzten 3 Monate? Verminderte Nahrungsaufnahme während der letzten Woche? Ist der Patient schwer krank? Mind. 1 x Ja → Hauptscreening Ë ja Ë ja Ë ja Ë ja Ë nein Ë nein Ë nein Ë nein Hauptscreening: Störung des Ernährungszustandes Keine Pt. 0 Mild Gewichtsverlust > 5% in 3 Monaten oder Nahrungszufuhr 50–75% während der letzten Woche
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Mässig Gewichtsverlust > 5% in 2 Monaten oder BMI 18,5–20,5 kg/m2 und reduzierter AZ oder Nahrungszufuhr 25–50% während der letzten Woche Schwer Gewichtsverlust > 5% in 1 Monat oder BMI < 18,5 kg/m2 und reduzierter AZ oder Nahrungszufuhr 0–25% während der letzten Woche 2 3 Krankheitsschwere Keine Abklärung, Rhythmusstörungen, Myokardinfarkt (1. Mal), Thrombose, Lungenembolie ohne andere Erkrankungen Mild Chronische Erkrankungen (z.B. Zirrhose, COPD, Diabetes, Hämodialyse), speziell mit Komplikationen; solide Tumoren, gastrointestinale Blutungen, wiederholter Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Strahlentherapie Mässig Grosse Ulzera und Dekubitus, CVI, schwere Pneumonie, schwere entzündliche Darmerkrankung, Chemotherapie, wiederholte chirurgische Eingriffe Pt. 0 1 2 Schwer Intensivpatienten, schwere Sepsis, schwere akute Pankreatitis 3 Pt. Ernährungszustand + Pt. Krankheitsschwere + 1 Pt. wenn ≥ 70 Jahre Total Score = (adaptiert nach Referenz [3]) Ernährungsintervention Bei akut kranken, hospitalisierten Patienten wird ein Mangelernährungsscreening generell empfohlen. Weisen Patienten ein Risiko für eine Mangelernährung auf, sollte ein individuelles Assessment durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Ernährungsberatung, Pflege und Ärzten, erfolgen. Basierend auf nationalen und internationalen Guidelines sollte bei der Ernährungsintervention wie folgt vorgegangen werden: Bei jedem Patienten sollten individuell Ernährungsziele festgelegt werden, unter anderem Kalorien-, Protein-, Mikronährstoff- und krankheitsspezifische Ziele. Die Ernährungsstrategie zur Erreichung der festgelegten Ernährungsziele ist stufenweise aufgebaut, wobei die komplikationsarme orale Ernährung bevorzugt werden soll. Können Ernährungsziele durch Zwischenmahlzeiten, Nahrungsanreicherung und Trinknahrungen in einem bestimmten Zeitraum nicht erreicht werden, sollte in einem nächsten Schritt der Wechsel zur enteralen und später zur parenteralen Applikationsform evaluiert werden. Für die Festlegung des Kalorienziels respektive zur Berechnung der täglich benötigten Energiezufuhr gilt die indirekte Kalorimetrie als Goldstandard. Da deren Durchführung aufwendig ist, wird im Klinikalltag die benötigte Kalorienmenge oft rechnerisch geschätzt. Hierfür stehen die Harris-Benedict-Formel oder Formeln 1/15 16 DIABETES UND ERNÄHRUNG mit definiertem Kalorienbedarf pro Kilogramm Körpergewicht zur Verfügung. Bei stark über- oder untergewichtigen Patienten sollte die Berechnung generell gewichtsadaptiert anhand des idealen Körpergewichtes vorgenommen werden. Patienten mit metabolischem Syndrom und Adipositas werden sonst hyperalimentiert, was potenziell schädliche Auswirkungen auf die Blutzuckereinstellung und den Genesungsprozess haben kann. Proteinziele liegen zwischen 0,8 und 1,5 g/kg Körpergewicht und variieren abhängig vom Krankheitsbild. Es wird diskutiert, Proteinziele für geriatrische Patienten zu erhöhen. Bei prädialytischen, niereninsuffizienten Patienten, zu denen oftmals auch Diabetiker zählen, liegen Proteinziele mit 0,55 bis 0,75 g/kg Körpergewicht hingegen tiefer. Mikronährstoffziele werden oft durch Multivitaminpräparate abgedeckt. Je nach Krankheit sollten Mikronährstoffe zusätzlich gezielt ersetzt werden. Bei einer Ernährungsintervention bei mangelernährten Patienten sollte durch die erhöhte Nährstoff- und Energiezufuhr stets an das mögliche Auftreten eines Refeeding-Syndroms gedacht werden, welches zu lebensbedrohlichen Elektrolytverschiebungen führen kann. Es sollten deshalb regelmässige klinische und laborchemische Kontrollen erfolgen, um ein solches frühzeitig zu erkennen und gezielt zu behandeln. Tabelle 2: Mögliche Ernährungsintervention bei akut kranken internistischen Patienten im Spital Datenlage zur Ernährungstherapie Im Gegensatz zu geriatrischen und chirurgischen Patienten liegen bei akut kranken internistischen Patienten nur wenige Daten zur Wirksamkeit, Kosteneffizienz und Sicherheit von Ernährungsinterventionen vor (4). Bisher gibt es nur wenige randomisiert kontrollierte Studien, die eine Ernährungsintervention bei mangelernährten, internistischen Patienten im Akutspital gegenüber einer Kontrollgruppe untersuchten. Dazu gehören zwei Schweizer Studien mit randomisiert kontrolliertem Design (5, 6). Starke et al. (5) haben gezeigt, dass bei Patienten mit vorliegender Mangelernährung oder dem Risiko, eine Mangelernährung zu entwickeln, eine durch die Ernährungsbera- tung zusammengestellte, bedarfsdeckende Ernährung mit einer signifikant höheren Protein- und Kalorienaufnahme sowie einen positiven Effekt auf den Gewichtsverlauf, die Komplikationsrate und die Lebensqualität zum Zeitpunkt der Entlassung zeigte. Die Ernährungsintervention bestand dabei aus regulären Krankenhausmahlzeiten, die den individuellen Patientenbedürfnissen angepasst und durch Zwischenmahlzeiten, orale Supplemente und Nahrungsmittelanreicherung ergänzt wurden. In der Kontrollgruppe konnten zusätzlich zu den standardisierten Krankenhausmahlzeiten Supplemente eingesetzt und die Ernährungsberatung hinzugezogen werden, sofern dies ein von der Studie unabhängi- ger Arzt als notwendig erachtete. Die Mortalität unterschied sich nicht signifikant zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe bei einem allerdings kleinen Patientenkollektiv von 132 Patienten. Rüfenacht et al. (6) konnten bei mangelernährten Patienten einen positiven Effekt einer Ernährungsintervention auf die Lebensqualität nach Hospitalisation zeigen. Die Ernährungstherapie in der Interventionsgruppe bestand aus einer Kombination von oralen Nahrungsergänzungsmitteln und Ernährungsberatung im Vergleich zum alleinigen Gebrauch von oralen Nahrungsergänzungsmitteln in der Kontrollgruppe. Neuere Studien aus dem Bereich der Intensivmedizin zeigen keinen Nutzen oder 17 1/15 DIABETES UND ERNÄHRUNG sogar eine schädliche Wirkung einer frühen, parenteralen, aggressiven Ernährungstherapie. Eine randomisiert kontrollierte Studie aus Belgien (7) zeigte bei intensivmedizinischen Patienten mit einem NRS (Nutritional Risk Screening) ≥ 3 und nicht bedarfsdeckender Ernährung eine schnellere Erholung und eine niedrigere Komplikationsrate, wenn die parenterale Ernährung erfolgte (Beginn am 8. Tag), verglichen mit Patienten mit einer frühzeitigen parenteralen Ernährung (innerhalb 48 h). Die Mortalität unterschied sich nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen. Fazit Die Diskrepanz der vorliegenden Studien verdeutlicht die Schwierigkeit des korrekten Einsatzes einer Ernährungstherapie und zeigt auf, dass sie von verschiedenen Faktoren wie Patientenkollektiv, Art/Menge der Nahrung, Zeitpunkt und Verabreichungsmodus abhängt. Zusammenfassend besteht ein dringender Bedarf an gross angelegten Studien mit randomisiert kontrolliertem Design, die eine individualisierte Ernährungstherapie beim akut kranken internisti- schen Patienten untersuchen. Dabei sollte insbesondere auch die Frage geklärt werden, welche Therapieform für Patienten mit metabolischem Syndrom und Diabetes am besten geeignet ist. Zeitpunkt, Indikation, Dosierung und Durchführbarkeit einer Ernährungstherapie sollten wie bei allen therapeutischen Interventionen vorsichtig abgeschätzt werden mit dem Ziel einer maximalen Wirksamkeit bei minimalen iatrogenen Nebenwirkungen. Korrespondenzadresse: Susan Felder Endokrinologie/Diabetes/ Klinische Ernährung und Innere Medizin Medizinische Universitätsklinik der Universität Basel Kantonsspital Aarau Tellstrasse, 5001 Aarau E-Mail: susan.felder@ksa.ch Interessenkonflikte: keine Literatur: 1. Katona P, Katona-Apte J. The interaction between nutrition and infection. Clinical infectious diseases: an official publication of the Infectious Diseases Society of America 2008; 46 (10): 1582-8 doi: 10.1086/587658 [published Online First: Epub Date]. 2. Felder S FR, Bally M, Schuetz P. Mangelernährung bei internistischen Patienten: trotz grosser Bedeutung und empfohlenem Screening noch unklare therapeutische Implikation. Schweiz Med Forum 2014; 14 (42): 455–459. 3. Kondrup J, Rasmussen HH, Hamberg O et al. Nutritional risk screening (NRS 2002): a new method based on an analysis of controlled clinical trials. Clinical nutrition 2003; 22 (3): 321–336. 4. Milne AC, Potter J, Vivanti A et al. Protein and energy supplementation in elderly people at risk from malnutrition. The Cochrane database of systematic reviews 2009 (2): CD003288 doi: 10.1002/14651858. CD003288.pub3 [published Online First: Epub Date]. 5. Starke J, Schneider H, Alteheld B et al. Short-term individual nutritional care as part of routine clinical setting improves outcome and quality of life in malnourished medical patients. Clinical nutrition 2011; 30 (2): 194–201 doi: 10.1016/j.clnu.2010.07.021 [published Online First: Epub Date]. 6. Rufenacht U, Ruhlin M, Wegmann M et al. Nutritional counseling improves quality of life and nutrient intake in hospitalized undernourished patients. Nutrition 2010; 26 (1): 53–60 doi: 10.1016/j.nut.2009.04.018 [published Online First: Epub Date]|. 7. Casaer MP, Mesotten D, Hermans G et al. Early versus late parenteral nutrition in critically ill adults. The New England journal of medicine 2011; 365 (6): 506–517 doi: 10.1056/NEJMoa1102662 [published Online First: Epub Date]. 8. Schutz P, Bally M, Stanga Z et al. Loss of appetite in acutely ill medical inpatients: physiological response or therapeutic target? Swiss medical weekly 2014; 144: w13957 doi: 10.4414/smw.2014.13957 [published Online First: Epub Date]. 1/15 18