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VEGETARISMUS VERSUS FLEISCHKONSUM
Vegetarismus/Veganismus – was dafür spricht
CLAUS LEITZMANN
Vegetarismus ist Teil eines Lebensstilkonzeptes, das neben gesundheitlichen Anliegen auch Tierrechte, Umweltaspekte und Perspektiven der Welternährung beachtet. Die Überlegungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Vegetarier unterscheiden sich deshalb deutlich von denen der Fleischesser. Daher wurden Vegetarier bis vor Kurzem noch belächelt und als Sektierer angesehen – ihre vermeintlich asketische Lebensweise erweckte Misstrauen.
Vegetarier sind weiterhin eine Minderheit in allen Ländern der Erde ausser Indien, wo etwa ein Drittel der Bevölkerung vegetarisch lebt. In den deutschsprachigen Ländern gibt es derzeit etwa 5 Prozent Vegetarier, von denen inzwischen bis zu einem Fünftel vegan leben. Aber auch Fleischesser haben ihren Fleischkonsum reduziert, sodass in den letzten Jahrzehnten bei uns ein Rückgang des Fleischverzehrs stattfand, nicht aber in den USA (1). Die zunehmende Zahl der Vegetarier besteht besonders aus eher jüngeren, überwiegend weiblichen, meist gebildeten Menschen (2).
Es gibt nicht die vegetarische Ernährung
Der Vegetarismus kennzeichnet im ursprünglichen Sinne eine «lebendige» und «belebende» Ernährungs- und Lebensweise, in der neben pflanzlichen Lebensmitteln nur solche Produkte verzehrt werden, die vom lebenden Tier stammen, wie Milch, Eier und Honig, und daraus hergestellte Produkte. Entsprechend den unterschiedlichen Einstellungen, Motiven und
Zielen von Vegetariern gibt es keine einheitliche Form des Vegetarismus, sondern eine Reihe von Ernährungs- und Lebensweisen, die für sich in Anspruch nehmen, vegetarisch ausgerichtet zu sein. Neben der allgemeinen Lebensführung, die für viele Vegetarier eine ebenso bedeutsame Rolle spielt wie die Ernährung, ist eine ernährungsphysiologische Klassifikation der verschiedenen Ausprägungen des Vegetarismus üblich. Bei der Einteilung vegetarischer Ernährungsweisen wird als Kriterium die Lebensmittelauswahl zugrunde gelegt. Allen vegetarischen Kostformen ist gemeinsam, dass keine Nahrungsmittel verzehrt werden, die von getöteten Tieren stammen wie Fleisch, Fisch, andere Meerestiere sowie daraus hergestellte Produkte. Der Verzehr von Lebensmitteln, die von lebenden Tieren stammen, unterscheidet die Hauptformen des Vegetarismus in Lakto-OvoVegetarier (verzehren Milch und Eier), Lakto-Vegetarier (konsumieren Milch) und Ovo-Vegetarier (essen Eier). Die Veganer praktizieren die konsequenteste Form einer vegetarischen Lebens-
weise, die sämtliche Nahrungsmittel tierischer Herkunft meidet, einschliesslich Honig. Auch Gebrauchsgegenstände und Konsumartikel, die ganz oder teilweise aus tierischen Rohstoffen hergestellt wurden wie Wolle, Leder, Daunen, Haare, Gelatine und Perlen, werden gemieden. Eine Untergruppe der Veganer stellen die Rohköstler dar. Diese praktizieren dieselben Einschränkungen bei der Lebensmittelauswahl, meiden aber zusätzlich jede erhitzte Nahrung. Ein geringer Teil der Rohköstler verzehrt auch (rohe) tierische Produkte. Diese Tatsachen verdeutlichen noch einmal, dass bei der Bewertung vegetarischer Kost und Lebensweise differenziert werden muss.
Gründe für eine vegetarische Lebensweise
Es gibt Menschen, die zum Vegetarismus übergehen, weil überzeugte Vegetarier aus Wissenschaft und Kunst, Religion und Politik, Sport und Medien als Vorbilder genommen werden. Aber auch Lebensmittelskandale, die weitaus überwiegend bei tierischen Produkten auftreten, för-
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dern die Entscheidung, vegetarisch zu leben. Die am häufigsten genannten individuellen Motive von Vegetariern und Veganern, kein Fleisch von Tieren zu verzehren, haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erweitert und verschoben. Derzeit stehen neben einer Reihe weiterer Anliegen drei Beweggründe im Vordergrund (3):
1. Ethische, moralische, religiöse und spirituelle Motive Gewisse Menschen wollen nicht länger hinnehmen, dass für sie Tiere ausgebeutet, gequält und getötet werden. Die zunehmende Transparenz über die tatsächlichen Zustände bei Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung unserer Nutztiere brachte viele ehemalige Fleischesser zu der Entscheidung, den Verzehr von Produkten getöteter Tiere zu meiden. Dieses Anliegen wird von der Mehrheit der Vegetarier vertreten. Manche dieser sensibilisierten Menschen finden einen Ausweg aus diesem Dilemma im Kauf und Verzehr von Erzeugnissen solcher Tiere, die artgerecht gehalten werden, wie in der ökologischen Landwirtschaft.
2. Gesundheitliche, hygienische und toxikologische Gründe Viele Menschen möchten ihre Ernährungs- und Lebensweise so gestalten, dass sie möglichst lange keine Krankheiten erleiden und dabei körperlich und geistig fit bleiben. Die Erfahrung zeigt, dass dies besonders gut mit einer von Pflanzen geprägten Kost umgesetzt werden kann. Das gelingt allerdings nur mit einer vielseitigen Lebensmittelauswahl, bei der die im Fleisch enthaltenen Nährstoffe wie Protein und Eisen durch entsprechende pflanzliche Lebensmittel zugeführt werden müssen.
3. Ökologische, soziale und politische Anliegen Immer mehr Menschen gelangen zu der Überzeugung, dass es einer Korrektur ihrer Lebensweise bedarf. Deshalb findet inzwischen eine von vielen Experten und Organisationen geführte gesellschaftliche Diskussion über einen nachhaltigen oder zukunftsfähigen Umgang mit den verblie-
benen Ressourcen und der bereits weltweit in Mitleidenschaft gezogenen Umwelt statt. Besonders die Menschen in den wohlhabenden Ländern müssen ihren Lebensstil ändern, bevor durch ein zu spätes Handeln wesentlich schmerzhaftere Kurskorrekturen notwendig werden (4–9).
Die Stellung der Vegetarier aus Sicht der Wissenschaft
Bis vor Kurzem betrachtete besonders die Wissenschaft eine Ernährung ohne tierisches Protein als Mangelernährung. Diese Einschätzung wurde von der breiten Bevölkerung gerne geteilt, denn die meisten Menschen möchten ihre Ernährungsgewohnheiten nicht ändern. Dabei beruhte diese Bewertung weniger auf wissenschaftlichen Untersuchungen als auf überwiegend theoretischen Berechnungen, Annahmen oder gar Vorurteilen. Inzwischen hat sich die Situation deutlich verändert, unter anderem durch die zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Vegetarismus, die zeigen, dass sich in fast allen Fällen das Gegenteil dessen manifestierte, was zunächst erwartet, befürchtet oder gar gewünscht worden war. Dabei weiss man längst von den grossen Bevölkerungsgruppen in Asien, die sich vornehmlich aus religiösen Gründen und teilweise seit Jahrtausenden vegetarisch ernähren, dass bei ausreichender Nahrungsverfügbarkeit keine Nährstoffmängel durch eine lakto-ovovegetarische Ernährung entstehen. Mit Ausnahme von Vitamin B12 ist auch bei Veganern eine ausreichende Nährstoffzufuhr möglich; diese Möglichkeiten wird in der Praxis allerdings nicht immer genutzt, da oft das entsprechende Wissen fehlt.
Kritische Nährstoffe für Vegetarier und Veganer
Nährstoffe, deren Aufnahme innerhalb der Bevölkerung häufig ungenügend ist, werden als kritisch bezeichnet. Zu diesen zählen Jod, Eisen, Folsäure sowie Vitamin B1 und D (10). Unerwarteterweise trifft dies ebenso für Fleischesser und Vegetarier zu (11). Anders ist es bei konsequenten Veganern, die langfristig einen Vitamin-B12-Mangel entwickeln. Vitamin B12 wird ausschliess-
lich von Mikroorganismen synthetisiert und findet sich in allen tierischen Produkten. Es kann in geringen Mengen in Wurzelgemüse, fermentierten pflanzlichen Lebensmitteln und einigen Algenarten enthalten sein, die Bedarfsdeckung durch diese Produkte ist jedoch unsicher. Wenn Veganer sich nicht vielseitig ernähren, kann es zu einer unzureichenden Versorgung mit Eisen, Zink, Kalzium und Omega-3-Fettsäuren kommen. Diese Aspekte werden im nächsten Beitrag vertieft.
Gesundheitliche Vorteile
mit vegetarischen Kostformen
Im Vergleich zur Fleischkost enthalten vegetarische Kostformen mehr Ballaststoffe, Folsäure, Vitamin C und E, Kalium, Magnesium, viele sekundäre Pflanzenstoffe sowie ungesättigte Fettsäuren. Deshalb wird inzwischen auch von der etablierten Medizin erkannt, dass eine vegetarische Ernährung in erheblichem Masse dazu beitragen kann, ernährungsassoziierten Erkrankungen vorzubeugen, sodass entsprechend informierte Mediziner eine ausgewogene lakto-ovo-vegetarische Ernährung empfehlen. Die bedenkliche Zunahme vieler Zivilisationskrankheiten belastet nicht nur den einzelnen Menschen und seine Angehörigen, sondern das gesamte Gesundheitssystem in bisher nicht gekanntem Ausmass. So erfordert die Behandlung ernährungsassoziierter Krankheiten inzwischen einen erheblichen Teil des Gesundheitsbudgets. Durch eine lakto-ovo-vegetarische Ernährung liessen sich mindestens die Hälfte dieser Ausgaben einsparen. Gesundheitspolitisch ist der wichtigste Faktor vegetarischer Kostformen ihr präventives Potenzial gegenüber Krankheiten. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben die Zusammenhänge zwischen Zivilisationskrankheiten und der Lebensweise der meist bewegungsarmen Wohlstandsbürger weltweit aufgezeigt, bei denen auch die Ernährung eine entscheidende Rolle spielt. Dabei zeigt sich, dass eine vegetarische Ernährung eine Reihe gesundheitlicher Vorteile bietet, wie aus epidemiologischen und klinischen Studien sowie aus der Grundlagenforschung hervorgeht (12–15). Besonders
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die zahlreichen antioxidativen Wirkungen verschiedener sekundärer Pflanzenstoffe (Tabelle), die ausschliesslich von Pflanzen synthetisiert werden, tragen dazu bei (16–18). Der Rückgang kardiovaskulärer Erkrankungen und bestimmter Krebsarten wird auf diese bioaktiven Substanzen zurückgeführt (19). Daher wird Fleischkost auch als Ursache eines Mangels an sekundären Pflanzenstoffen angesehen. Die vorliegenden Daten bestätigen die gesundheitlichen Vorteile vegetarischer Kostformen in der Prävention und Therapie wichtiger Zivilisationskrankheiten, was sich wiederum auf die Sterblichkeit auswirkt (20, 21). In einer ganzen Reihe von teilweise gross angelegten Studien konnte überzeugend belegt werden, dass eine gut zusammengestellte lakto-ovo-vegetarische Ernährung zu einem geringeren Auftreten von Gesundheitsstörungen wie beispielsweise Übergewicht (22), Diabetes (23), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (24), Hypertonie (25) und Krebs beitragen kann. Die umfassende Auswertung von Tausenden von Veröffentlichungen zeigt, dass die meisten Kostformen, die gegen Krebserkrankungen schützen, überwiegend aus pflanzlicher Nahrung bestehen; deshalb werden pflanzliche Lebensmittel als Hauptbestandteil aller Mahlzeiten empfohlen (19). Die WHO weist darauf hin, dass vermehrte Anstrengungen im Bereich Prävention besonders die Zufuhr einer vollwertigen Ernährung beinhalten, denn medikamentöse Therapien alleine reichen nicht aus (26). Veganer weisen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein um 16 Prozent signifikant niedrigeres Gesamtkrebsrisiko auf (27). Gründe dafür sind unter anderem der geringere Anteil an gesättigten Fettsäuren und der höhere Gehalt an Ballaststoffen, sekundären Pflanzenstoffen und Vitaminen. Im Vergleich mit Vegetariern haben Veganer ein niedrigeres Körpergewicht, geringere Cholesterinwerte sowie einen niedrigeren Blutdruck. Dadurch senken sie ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten. Die Meidung des Verzehrs sämtlicher tierischer Produkte kann jedoch das Risiko für eine Unterversorgung mit Vitamin B12 und D, Kalzium und
Tabelle: Wirkungen sekundärer Pflanzenstoffe (16) (SS=sekundäre Pflanzenstoffe)
A = antikanzerogen B = antimikrobiell C = antioxidativ
D = antithrombotisch E = immunmodulierend F = entzündungshemmend
G = Blutdruck-beeinflussend H = Cholesterin-senkend I = Blutglucose-beeinflussend
langkettigen Fettsäuren erhöhen (28). Konsequenten Veganern wird daher die Zufuhr angereicherter Produkte oder von Supplementen (Nahrungsergänzungsmittel) angeraten, die – wegen ihrer geringeren Bioverfügbarkeit – auch Eisen und Zink betreffen können (29).
Die Praxis der vegetarischen Ernährung
Fundierte Ernährungsempfehlungen für die Bevölkerung werden von der Ernährungswissenschaft auf Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes ausgesprochen. Dabei soll eine ausreichende Nährstoffversorgung sichergestellt sowie chronischen Erkrankungen vorgebeugt werden. Nährstoffempfehlungen sind aber für den Verbraucher nur bei entsprechenden Fachkenntnissen von Nutzen. Dagegen sind Empfehlungen auf Lebensmittelbasis für den Verbraucher verständlich und nachvollziehbar. Bei den Empfehlungen zu einer vegetarischen Ernährung werden alle zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse einbezogen. Neben den allgemeinen Empfehlungen, die sich an gesunde Personen richten, gibt
es spezielle Ernährungsempfehlungen für Menschen, die bereits einen oder mehrere Risikofaktoren für bestimmte chronische Erkrankungen aufweisen oder schon erkrankt sind. Dabei zeigt sich, dass weltweit sowohl die Ernährungsempfehlungen für die Allgemeinbevölkerung als auch die Empfehlungen für Risikogruppen den Prinzipien einer vorwiegend vegetarischen Ernährungsweise entsprechen. Die therapeutischen Erfolge mit vegetarischen Kostformen rücken das gesundheitliche Potenzial einer pflanzenbasierten Ernährungsweise ins Interesse der Ernährungsmedizin. Aktuelle Berichte wissenschaftlicher Institutionen zeigen, dass der überwiegende Verzehr pflanzlicher Lebensmittel sowie eine Reduktion des Konsums von rotem Fleisch als präventiv gelten (3, 19).
Die Lebensmittelauswahl für Vegetarier
Die vorliegenden Ernährungsempfehlungen nationaler Gremien, etwa der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), umfassen auch den Verzehr von Fleisch, Fisch und anderen tierischen Lebensmit-
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Abbildung: Giessener vegetarische/vegane Lebensmittelpyramide (3)
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teln und sind somit für Vegetarier und Veganer wenig hilfreich. Für diese Zielgruppen sind spezielle Empfehlungen erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen einer lakto-ovo-vegetarischen oder veganen Ernährungsweise Rechnung tragen. Dies gilt umso mehr, als sich nicht wenige Vegetarier und Veganer aufgrund einer nicht optimalen Lebensmittelauswahl ungünstig ernähren. Eine vollwertige vegetarische Ernährung kann den Nährstoffbedarf sicher decken und das Risiko für chronische Erkrankungen minimieren. Auf Grundlage der wissenschaftlichen Datenlage ergeben sich Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl; diese sind in einer Lebensmittelpyramide für Vegetarier und Veganer zusammengestellt (Abbildung). Dabei sind die Lebensmittel im unteren Bereich der Pyramide besonders empfehlenswert und sollen häufiger gegessen werden. Ernährungsphysiologisch weniger empfehlenswerte Lebensmittel stehen an der Spitze der Pyramide und sollten sparsam verzehrt werden. Die prozentual zugeordneten Flächen in der Pyramide verdeutlichen, welche Mengen an Lebensmitteln aus den einzelnen Lebensmittelgruppen zugeführt werden sollten. Bei kritischen Nährstoffen und Risikogruppen kann es bei einer entsprechenden Unterversorgung sinnvoll sein, vorübergehend auf angereicherte Lebensmittel zurückzugreifen, um die Nährstoffversorgung zu verbessern beziehungsweise sicherzustellen. Hierzu zählen bei allen Vegetariern – aber auch bei Fleischessern – Jod und Vitamin D (Letzteres vor allem in den sonnenarmen Monaten). Veganer müssen ausserdem für eine zuverlässige Vitamin-B12-Zufuhr sorgen, die in Form von angereicherten Produkten oder Supplementen erfolgen kann. Auch der Verzehr von mit Kalzium angereicherten Produkten, wie bestimmten Sojagetränken, kann für Veganer sinnvoll sein. Supplemente sollten nur dann verwendet werden, wenn der Bedarf einzelner Nährstoffe durch den Lebensmittelverzehr (einschliesslich den angereicherten Lebensmitteln) nicht ausreichend gedeckt werden kann und eine unzureichende Versorgung zuverlässig
diagnostiziert wurde. Der vorübergehende gezielte Einsatz von Monopräparaten ist dann der Verwendung von oft ungünstig zusammengestellten Multivitamin- und Mineralstoffpräparaten vorzuziehen.
Umstellung auf eine vegetarische Ernährung
Wie bei allen anderen Ernährungsformen sollte auch bei vegetarischer Ernährung auf eine Individualisierung der Ernährungsempfehlungen geachtet werden. Jeder sollte sich durch Ausprobieren eine Eigenkompetenz erarbeiten, um am eigenen Körper zu erfahren, welche Lebensmittel in welcher Zubereitungsform bekömmlich sind. Dies gilt insbesondere für Menschen, die empfindliche Verdauungsorgane haben oder krank sind. Wenn über lange Zeit eine ballaststoffarme Durchschnittskost verzehrt wurde, kann eine plötzliche Umstellung auf eine vegetarische Ernährung zu einer physiologischen Überforderung führen. Das Verdauungssystem sollte nicht überfordert, aber auch nicht unterfordert werden. Jüngere Menschen haben meist keine Probleme mit der Umstellung, ältere oder empfindliche Menschen sollten dagegen eine längere Übergangszeit einplanen. Kranke Menschen sollten vor einer Umstellung auf ballaststoffreiche Kost ihren Arzt konsultieren, um den Einfluss auf die Wirkung von Medikamenten abzuklären. Das allmähliche Meiden des Verzehrs von Fleisch sowie anderen tierischen Produkten kann und darf über Monate dauern.
Schlussbemerkungen
Vegetarische Kostformen sollten nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht, sondern auch nach dem mit der vegetarischen Lebensweise verbundenen weiterführenden Nutzen bewertet werden. Die vorliegenden wissenschaftlichen Daten belegen mit grosser Deutlichkeit, dass sich der Vegetarismus bei richtiger Anwendung im Vergleich zur konventionellen Ernährung gesundheitlich positiv sowie vornehmlich nachhaltig auswirkt; es könnte die überwiegende Ernährungsweise der Zukunft werden. Für die Akzeptanz einer vegetarischen Ernährungswei-
se ist entscheidend, dass sie schmackhaft und zielgruppengerecht zubereitet wird. Ideelle oder pragmatische Entscheidungen für den Vegetarismus führen zu einem dauerhaften Ernährungswechsel, wenn Genuss und Freude am Essen erhalten oder gar gesteigert werden können. Vielfältige Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass es nach der Umstellung für Vegetarier einen Gewinn an Lebensqualität geben kann, nicht nur, weil sie länger gesünder leben.
Zusammenfassung
Der Vegetarismus ist eine Ernährungsund Lebensweise. Langjährige Erfahrungen und robuste wissenschaftliche Daten belegen, dass sich eine vegetarische Ernährung günstig auf Gesundheit und Umwelt auswirkt. Der Vegetarismus trägt neben der Reduktion des Erkrankungsrisikos zu einem nachhaltigen Umweltverhalten bei. Eine vegetarische Lebensweise kann sich mit entsprechender Ernährungsbildung von einer Randerscheinung zu einem Mainstream entwickeln.
Korrespondenzadresse: Prof. em. Dr. rer. nat. Claus Leitzmann Institut für Ernährungswissenschaft Universität Giessen
Dörrenbergweg 24 D-35321 Laubach E-Mail: claus@leitzmann-giessen.de
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