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ENTERALE UND PARENTERALE ERNÄHR UNG
Refeedingsyndrom bei künstlicher Ernährung
CARLA AEBERHARD1, ZENO STANGA1, 2
Der Begriff Refeedingsyndrom (RFS) bezeichnet eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation als Folge eines zu schnellen oder inadäquaten Wiederernährens (Refeeding) bei mangelernährten, katabolen Patienten. Dabei treten biochemische Abweichungen, metabolische Veränderungen und physische Anzeichen auf, die mit tiefen Elektrolyt- und Vitaminkonzentrationen, einer Natriumretention, einem Flüssigkeitsungleichgewicht und Organfunktionseinschränkungen einhergehen (1, 2). Das Hauptmerkmal des RFS ist gemäss Literatur die Hypophosphatämie. Der nachfolgende Bericht zeigt anhand von Fallbeispielen die wichtigsten Merkmale dieses lebensbedrohlichen Syndroms und beschreibt die präventiven und therapeutischen Möglichkeiten.
Die ersten Berichte über das RFS erschienen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1945, als die Überlebenden aus den Konzentrationslagern wiederernährt wurden. Die Ernährung der hungernden Kriegsopfer führte häufig zu kardialer Insuffizienz und neurologischen Komplikationen (3). Im gleichen Jahr wurde das RFS im Minnesota-Experiment durchgeführt, aber erst 1950 wurden die Resultate publiziert. Bei diesem Experiment wurden männliche, gesunde Freiwillige einer verminderten Energiezufuhr (um 50%) ausgesetzt und erhielten dabei lediglich zwei Mahlzeiten am Tag. Das Ziel war, einen Körpergewichtsverlust von 25 Prozent in sechs Monaten zu erreichen und die Auswirkungen auf die Psyche sowie physische Effekte zu untersuchen. Auftraggeber des Versuchs war die US-Regierung, die hoffte, dadurch Genaueres über die Auswirkungen der damaligen Hungers-
1Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital, Inselspital Bern 2Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Universitätsspital, Inselspital Bern
nöte bei den Soldaten am Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa erfahren zu können. Das Experiment sollte die elende Ernährungssituation wegen der länger dauernden logistischen Probleme simulieren. Die hungernden Männer wurden aggressiv, depressiv, ängstlich und konnten sich nicht mehr konzentrieren. Sie begannen zu rauchen oder nahmen andere schlechte Angewohnheiten an. Physisch zeigten Einzelne von ihnen periphere Ödeme; zudem waren die Herz- und die Atemfrequenz sowie die Körpertemperatur herabgesetzt (4). Die Inzidenz des RFS ist bis heute nicht genau bekannt, da für die Diagnose (Dg) verschiedene Parameter einfliessen können. Dadurch können die epidemiologischen Zahlen sehr stark variieren. Mehrere Fallberichte oder Fallserien haben die potenziell schwerwiegenden Verläufe eines RFS beschrieben, jedoch fehlen bis heute gross angelegte, randomisierte, kontrollierte Studien. Das könnte darauf zurückgeführt werden, dass das RFS oft nicht erkannt und somit inadäquat be-
handelt wird. Ein Grund dafür ist, dass bis heute keine genaue, allgemein akzeptierte Definition existiert. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) erkannte dieses Problem und setzte 2006 eine Expertengruppe ein, die Richtlinien zu Diagnostik und Management des RFS herausgegab (5). Die Prävalenz des RFS beträgt bei onkologischen Patienten mit künstlicher Ernährung 25 Prozent (Dg: Hypophosphatämie < 2,5 mmol/l [6]) und bei Patienten mit Anorexia nervosa 28 Prozent (Dg: Hypophosphatämie < 2,5 mmol/l [7]). Bei mangelernährten Patienten beträgt die Prävalenz sogar 48 Prozent. Diese Patientengruppe wies sowohl eine längere Hospitalisationsdauer als auch eine höhere Mortalitätsrate auf (8). In einer Studie mit mangelernährten Krebspatienten, die mit einer künstlichen Ernährung begannen, trat bei 24,5 Prozent der Patienten ein RFS auf (Dg: Hypophosphatämie < 0,40 mmol/l), wobei es häufiger bei enteraler (37,5%) als bei parenteraler Ernährung (18,5%) beobachtet wurde (6, 9).
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Kriterien zur Identifikation
von Risikopatienten
Das RFS kann bei parenteraler sowie bei enteraler oder oraler Ernährung auftreten. Die Wahrscheinlichkeit, ein RFS zu entwickeln, ist bei parenteraler Ernährung am grössten, danach folgen enterale und orale Ernährung (10). Patienten mit einer Anorexia nervosa, Hungerstreikende, onkologische Patienten oder Patienten mit einem Kurzdarmsyndrom gehören zur Risikopopulation für die Entwicklung eines RFS, ebenso Patienten mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit und Patienten nach bariatrischer Chirurgie (2). Damit Risikopatienten besser identifiziert werden können, hat die NICEExpertengruppe Richtlinien verfasst (Tabelle 1). Nicht zu unterschätzen sind auch die verminderte Absorption von Nährstoffen durch massives Erbrechen oder Durchfall, die chronische Einnahme von hohen Dosen Diuretika (v.a. bei Anorexia nervosa) sowie eine Dysfunktion oder Entzündung des Gastrointestinaltraktes (11). In einer kürzlich veröffentlichten prospektiven Kohortenstudie von Rio et al. wurde eine stationäre gemischte Population von 243 Patienten mit künstlicher Ernährung untersucht (87% enteral und 13% parenteral). Von diesen wurden 133 als Risikopatienten für ein RFS eingestuft. Lediglich 3 Patienten entwickelten das volle Bild eines RFS. Unabhängige Prädiktoren für das RFS waren eine verminderte Nahrungszufuhr von > 10 Tagen, ein Gewichtsverlust von > 15 Prozent und tiefe Serummagnesiumspiegel vor dem Refeeding (< 0,7 mmol/l). Die genannten Prädiktoren wiesen eine Sensitivität von 67 Prozent und eine Spezifität von 80 Prozent auf (die Spezifität für Gewichtsverlust von > 15% ist nur 59,1%). Der Hungerzustand wurde von den Autoren als verlässlichster Prädiktor beschrieben (9).
Pathophysiologie und klinische Sym-
ptome des Refeedingsyndroms
Ein zu schnelles Refeeding, vor allem mit Glukose, verursacht metabolische und hormonelle Veränderungen, die für die Manifestation eines RFS verantwortlich sind (Abbildung 1). Hungerzustand oder
Mangelernährung symbo-
lisieren dem Körper eine
Katabolie, was bedeutet,
dass Insulin downreguliert
ist, während die Glukagon-
und die Katecholaminkon-
zentration hohe Werte auf-
weisen. Der Stoffwechsel
wird in dieser Adaptations-
phase auf etwa 50 Prozent
reduziert. Eine gesteigerte
Lipolyse führt zum Anstieg
von freien Fettsäuren, Gly-
zerol und Ketonkörpern im
Blut. Die freien Fettsäuren Abbildung 1: Pathogenese des RFS (2) und die Ketonkörper erset-
zen unter diesen Voraus-
setzungen die Glukose als
Hauptenergieträger. Gleichzeitig ist die setzt, was zu vermehrter Proteinsynthese
Glukoseoxidation reduziert, die haupt- und zur Aufnahme von Glukose, Kalium,
sächlich noch in glukoseabhängigen Ge- Magnesium, Phosphat und Wasser in die
weben (z.B. ZNS, Erythrozyten) stattfin- Zelle führt.
det. Die dafür benötigte Glukose wird Um Kohlenhydrate im Körper abzubauen
durch die hepatische Glykogenolyse so- und in Energie umzuwandeln, benötigt
wie durch eine verstärkte hepatische und der Organismus hauptsächlich die Vitami-
renale Glukoneogenese aus Laktat, Glyze- ne der B-Gruppe, vor allem Vitamin B1
rol und Aminosäuren bereitgestellt. Die (Thiamin). Bei einem Mangel ist der ganze
Aminosäuren werden durch eine gestei- Kohlenhydratstoffwechsel und damit die
gerte Proteolyse in die Peripherie freige- Energiegewinnung gestört. Bei der aku-
setzt, wodurch Muskelmasse verloren ten Form des ausgeprägten Thiaminman-
geht.
gels kann es klinisch zur metabolischen
Als Folge davon kommt es zu einem Ge- Azidose, zu Kardiomyopathie (Wet Beri-
wichtsverlust, der mit einem Vitamin- und beri) und zu neurologischen Störungen
Mineralstoffmangel einhergeht. Wird nun (Dry Beriberi, Wernicke-Enzephalopathie)
die Nährstoffzufuhr (Refeeding) nach kommen. Der erhöhte Insulinspiegel in
einer Hungerperiode wiederaufgenom- der Frühphase des RFS bewirkt eine
men, kommt es zur Reaktivierung des Natriumretention, die die Natriumkon-
Glukosestoffwechsels mit gesteigerter zentration ansteigen lässt, was wiederum
Glykolyse und Glukoseoxidation sowie dazu führt, dass Wasser im Körper zurück-
zur Reduktion der Lipolyse und der Fett- gehalten wird. Diese Expansion des extra-
oxidation. Zusätzlich wird durch die zuge- zellulären Volumens kann Ödeme und
führte Glukose verstärkt Insulin freige- Herzinsuffizienz verursachen. Zu den drei
Tabelle 1: Kriterien zur Identifikation von Risikopatienten (1, 9)
Eines der folgenden BMI < 16 kg/m2 Ungewollter Gewichtsverlust > 15% in den letzten 3–6 Monaten Sehr geringe oder keine Nahrungsaufnahme > 10 Tage Tiefe Serumwerte von K, PO4 oder Mg vor der ersten Nahrungsaufnahme
Zwei der folgenden BMI < 18,5 kg/m2 Ungewollter Gewichtsverlust > 10% in den letzten 3–6 Monaten Sehr geringe oder keine Nahrungsaufnahme > 5 Tage Positive Anamnese für Alkohol- oder Drogenabusus
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relevantesten klinischen Zeichen eines RFS gehören Tachykardie, Tachypnoe und Ödeme (12, 13). Die schwere Hypophosphatämie (< 0,32 mmol/l), ein wichtiges Merkmal des RFS, tritt bei wiederernährten Personen meistens innerhalb der ersten drei Tage auf. Die vermehrte Insulinsekretion stimuliert die zelluläre Aufnahme von Phosphat, einem wichtigen Elektrolyt zur Bildung von ATP (Adenosintriphosphat: Energielieferant der Muskulatur), das an zahlreichen Phosphorylierungsreaktionen beteiligt ist. Eine Hypophosphatämie kann viele klinische Symptome hervorrufen; dazu gehören unter anderem Rhabdomyolyse, Hämolyse, respiratorische Insuffizienz und muskuloskeletale Einschränkungen. Während des Refeedings wird Phosphat für die Phosphorylierung der Glukose benötigt, da Glukose nur in dieser Form in die Glykolyse eintreten kann. Es ist zu beachten, dass mangelernährte, katabole Patienten normale Serumphosphatkonzentrationen aufweisen können, während die intrazellulären Phosphatspeicher jedoch längstens ausgeschöpft sein können (Fettoxidation benötigt keine phosphathaltigen Produkte) (11). Die Kriterien zur Bestätigung der Diagnose eines RFS ergeben sich aus den pathophysiologischen und klinischen Merkmalen (Abbildung 2). Dabei konnten Rio und seine Gruppe zeigen, dass tiefes Serummagnesium vor dem Refeeding ein unabhängiger Faktor zur Vorhersage eines RFS ist (p = 0,021). Tiefe Phosphat- und Kaliumspiegel vor dem Wiederernähren zeigten in dieser Studie keine signifikanten Assoziationen (9). Fallbeispiele (2) Hungerstreikender Ein 27-jähriger inhaftierter Asylant protestierte gegen seine Ausschaffung, indem er für 4 Monate in den Hungerstreik trat. Ausser Kaffee mit Zucker und Tee nahm er nichts zu sich. 2 Wochen nach Spitaleintritt und weiteren 10 kg Gewichtsverlust war er 49 kg schwer (BMI 14,7 kg/m2). Er wurde zunehmend schwächer, inaktiver und apathisch. Zu diesem Zeitpunkt wurde er kombiniert enteral und parenteral ernährt (total 1600 kcal/ Tag) und erhielt zudem 500 ml einer 0,9-prozentigen NaCl-Lösung mit 20 mmol KCl, Vitaminen und Spurenelementen. Nach drei Tagen verschlechterte sich sein Zustand zusehends mit klinischen Zeichen einer Salzund Wasserretention (Gewichtszunahme von 5 kg), pathologischem vertikalrotierendem Spontannys- Abbildung 2: Kriterien zur Bestätigung der Diagnose eines RFS (9,13) tagmus mit Verstärkung der Symptomatik bei der Fixation und zusätzlichen Schwindelge- ten intravenös: je eine Ampulle). Nach fühlen. Parallel dazu entwickelte er eine 57 Tagen Spitalaufenthalt, einer GeHypokaliämie (2,8 mmol/l, normal: wichtszunahme von 15,4 kg (aktuell: 3,5–4,7 mmol/l), eine Hypomagnesiämie 64,4 kg; BMI 19,2 kg/m2) und zunehmen(0,49 mmol/l, normal: 0,7–1,0 mmol/l) der Muskelkraft wurde der Patient wieder und eine schwere Hypophosphatämie entlassen. Leider blieb der pathologische (0,05 mmol/l, normal: 0,74–1,55 mmol/l). vertikal rotierende Spontannystagmus Als Reaktion darauf wurden die künstli- unverändert bestehen, was den Patienten che Ernährung gestoppt und je eine Thia- hinderte, Fernsehprogramme zu verfolmininfusion (200 mg) und Magnesium- gen oder Zeitungen zu lesen. sulfat (20 mmol) sowie 40 mmol Dieser Fallbericht zeigt eindrücklich, wie Kaliumphosphat täglich für 3 Tage verab- anfällig Personen mit einem starken reicht. Nach 3 Tagen waren die Elektrolyt- Gewichtsverlust und einem tiefen BMI für und Mineralstoffkonzentrationen wieder ein RFS sind. Typisch für das RFS ist der im Normbereich, und nach weiteren 3 Ta- rapide Abfall von Magnesium, Kalium und gen wurde die orale Ernährung (1600 Phosphat innert 3 Tagen nach dem kcal/ Tag) wieder implementiert (mit zu- Wiederernähren. Die neurologischen sätzlichen Vitaminen und Spurenelemen- Symptome sind vor allem auf das schwere Tabelle 2: Management des RFS (Tag 1–3), Evidenzgrad D (1, 2) Massnahmen Energiezufuhr Tag 1–3 10–15 kcal/kg/Tag (50–60% Kohlenhydrate, 30–40% Fett und 15–20% Proteine) Elektrolytsubstitution Prophylaktische Supplementation bei normalen Werten: Phosphat 0,5–0,8 mmol/kg/Tag Kalium 1,0–2,2 mmol/kg/Tag Magnesium 0,3–0,4 mmol/kg/Tag Flüssigkeitszufuhr 20–30 ml/kg/Tag, Natriumrestriktion < 1 mmol/kg/Tag Mikronährstoffsupplementation 200–300 mg Thiamin p.o. oder i.v. vor erster Nahrungszufuhr, danach täglich Vitamine 200% DRI Spurenelemente 100% DRI Laborkontrollen Klinische Untersuchungen PO4, K, Mg, Glukose, Ca, Na täglich BD, P, Biox, Hydratationszustand, kardiopulmonal, Gewicht DRI = Dietary Reference Intake; BD = Blutdruck; P = Puls; Biox = Sauerstoffsättigung 23 2/14 ENTERALE UND PARENTERALE ERNÄHR UNG Thiamindefizit (Wernicke-Enzephalopathie) zurückzuführen. Im Hirn-MRI konnte periaquäduktal in der Medulla oblungata eine Kontrastmittelanreicherung nachgewiesen werden, die als typische Läsion für den Thiaminmangel anzusehen ist. Thiamin kann bei gesunden Menschen nicht in grossen Mengen gespeichert werden (Speicher für ca. 2 Wochen), sodass sich ein beschleunigter Kohlenhydratmetabolismus in einem akuten Thiaminmangel zeigen kann. Das kann verhindert werden, indem täglich 200 bis 300 mg Thiamin peroral oder intravenös verabreicht werden; die erste Dosis wird bereits 30 Minuten vor dem Wiederernähren gegeben (14). Anorexia nervosa Eine 40-jährige Frau mit schon lange bekannter Anorexia nervosa und zahlreichen Folgekomplikationen wie Elektrolytstörungen, Arrhythmien, Amenorrhö, Osteoporose, Depression, zunehmender Isolation und einem Gewicht von 40 kg (BMI 13,5 kg/m2) ass kurz vor Spitaleintritt mehrere grosse Portionen pro Tag. Im Spital konnten klinisch Knöchelödeme, eine Hypotonie (95/70 mmHg), eine Sinusbradykardie (44 Schläge/min), ein verlängertes QT-Intervall und tiefe Serumkonzentrationen von Phosphat, Magnesium und Kalium nachgewiesen werden. Innerhalb weniger Stunden nach Eintritt und weiterer Nahrungsaufnahme entwickelte sie trotz oraler Vitamin- und Elektrolytsupplementation eine Muskelschwäche, eine Benommenheit und eine ventrikuläre Tachykardie. Eine sofortige intravenöse Supplementation mit Elektrolyten und Mineralstoffen führte dazu, dass sich die Werte innerhalb von zwei Tagen wieder normalisierten. Die klinischen Anzeichen des RFS verschwanden, abgesehen von einem immer noch verlängerten QT-Intervall. Eine schwere Anorexia nervosa mit sehr tiefem BMI (<16 kg/m2) gilt als Risiko für die Entwicklung eines RFS. In diesem Fall wurde das Refeeding bereits von der Patientin allein zu Hause begonnen und im Spital weitergeführt. Kardiopathie und Elektrolytstörungen, einschliesslich einer Sinusbradykardie und eines verlängerten QT-Intervalls, können sich bei einer schweren und lang andauernden katabolen Stoffwechsellage manifestieren (15, 16). Diese Veränderungen machen das Myokard anfälliger für Hypophosphatämien und Hypokaliämien mit ventrikulären Arrhythmien und sogar plötzlichem Herztod (17, 18). Nicht zu vergessen ist ein damit häufig einhergehender Missbrauch von Diuretika, Laxativa und Alkohol bei Anorexia-nervosa-Patienten, was einen Elektrolyt- und Vitaminmangel noch verstärkt (19). Management des Refeedingsyndroms Nicht alle Patienten, die wiederernährt werden, entwickeln ein RFS. Demzufolge ist es sehr wichtig, dass mögliche Risiko- Tabelle 3: Management des RFS (Tag 4–10), Evidenzgrad D (1,2) Massnahmen Energiezufuhr Elektrolytsubstitution Flüssigkeitszufuhr Mikronährstoffsupplementation Laborkontrollen Klinische Untersuchungen Tag 4–10 15–20 kcal/kg/Tag, ab Tag 7: 20–30 kcal/kg/Tag (50–60% Kohlenhydrate, 30–40% Fett und 15–20% Proteine) Elektrolytsupplementation gemäss Serumwerten: Phosphat < 0,6 mmol/l 30–50 mmol über 12 h Kalium < 3,5 mmol/l 20–40 mmol über 12 h Magnesium < 0,5 mmol/l 2–4 g MgSO4 über 12 h 25–30 ml/kg/Tag, ab Tag 7: 30 ml/kg/Tag Vitamine 200% DRI, Spurenelemente 100% DRI PO4, K, Mg, 2 x/Wo., danach 1 x/Wo. Hydratationszustand, kardiopulmonal, Gewicht DRI = Dietary Reference Intake patienten identifiziert werden und von einem interdisziplinären Team dementsprechend betreut werden (Tabelle 2 und 3). Ein gut ausgebildetes medizinisches Personal ist essenziell für ein frühzeitiges Erkennen und die richtige Behandlung eines RFS. Um einem RFS vorzubeugen, ist es wichtig, dass der Hydratationszustand vor dem Refeeding normalisiert wird und sowohl der Puls als auch der Blutdruck und die Flüssigkeitsbalance engmaschig kontrolliert werden. Der Flüssigkeitsgehalt der normalen Nahrung, der Ergänzungsnahrung und Sondennahrung sollte mit in die Gesamtzufuhr einberechnet werden. Durch die tägliche Körpergewichtskontrolle lässt sich abschätzen, ob es sich bei der Gewichtszunahme um eine pathologische Flüssigkeitsakkumulation oder um eine Verbesserung des Ernährungszustandes handelt. Eine Gewichtszunahme von mehr als 0,3–0,5 kg/Tag oder 1,5 kg/Woche deutet eher auf eine Flüssigkeitsüberlastung hin. Die Flüssigkeitszufuhr sollte dementsprechend korrigiert und angepasst werden (normal 20–30 ml/kg/Tag). Auch die Natriumzufuhr (Salz) sollte auf < 1 mmol/kg/Tag minimiert werden – vorausgesetzt, dass kein Mangel besteht. Zudem müssen auch Elektrolyt- und Vitamindefizite vor dem Beginn der Wiederernährung prophylaktisch substituiert werden (oral, enteral oder parenteral). Ein regelmässiges Monitoring, vor allem von Natrium, Kalium, Phosphat und Magnesium, ist auch während des Refeedings unabdingbar. Die NICE-Richtlinien empfehlen (Evidenzgrad D) eine hoch dosierte Verabreichung der Vitamine, Elektrolyte und Mineralstoffe (100–200% der DRI) während 10 Tagen. Thiamin sollte mindestens 30 Minuten vor dem Refeeding gegeben und anschliessend täglich 200 bis 300 mg peroral oder intravenös bis zum dritten Tag verabreicht werden. Eine engmaschige Kontrolle gilt auch für die Plasmaglukose, das Kalzium und die Nierenwerte. Initial ist das Risiko für eine hyperglykämische Entgleisung erhöht, demzufolge sollte die Blutzuckerkonzentration engmaschig überwacht werden (evtl. Blutzuckerprofil täglich) und die täglich zugeführte Kohlenhydratmenge 2/14 24 ENTERALE UND PARENTERALE ERNÄHR UNG am Anfang nicht über 100 g betragen. Die NICE-Richtlinien empfehlen zudem, mit einer niedrigen Energie- und Flüssigkeitszufuhr zu beginnen und diese über 10 Tage langsam zu steigern. Bei Patienten mit hohem Risiko wird mit 10 kcal/Tag begonnen und bei Patienten mit sehr hohem RFS-Risiko sogar nur mit 5 kcal/Tag. Zudem ist bei letztgenannten Risikogruppen ein kardiales Monitoring zu empfehlen (z.B. Telemetrie), um Arrhythmien kurzfristig zu erkennen und zu behandeln (1, 2, 13). Zusammenfassung Das RFS kann als schwerwiegende Komplikation des Wiederernährens bei mangelernährten, katabolen Patienten auftreten. Dabei gehören vor allem Patienten mit einem pathologischen Körpergewichtsverlust, Patienten mit einer verminderten Nahrungszufuhr über längere Zeit oder Patienten mit einem tiefen BMI zu den Risikogruppen. Das RFS ist gekennzeichnet durch Dyselektrolytämie (Kalium, Magnesium und Phosphat), Flüssigkeitsdysbalance und Vitaminmangel (v.a. Thiamin). Zu den Diagnosemerkmalen des RFS gehören auch klinische Symptome wie Ödeme, Tachypnoe, Tachykardie und Arrhythmien. Das RFS kann sich innerhalb weniger Stunden nach der Wiederaufnahme der Ernährung entwickeln und zeigt eine hohe Morbidi- täts- und Mortalitätsrate. Ein interdisziplinäres und gut ausgebildetes Team ist unabdingbar – sowohl für die Prävention als auch für die frühzeitige Erkennung und für die adäquate Behandlung des RFS. Dies dient der Sicherung der Behandlungsqualität und der Aufrechterhaltung der Patientensicherheit. Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Zeno Stanga Leitender Arzt Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital 3010 Bern E-Mail: zeno.stanga@insel.ch Literaturverzeichnis: 1. 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