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MUSKULATUR – DIE ROLLE DER ERNÄHRUNG
Proteinbedarf älterer Menschen
REBECCA DIEKMANN1, JÜRGEN M. BAUER1,2
Altersassoziierte Veränderungen des Proteinstoffwechsels bedingen eine Erhöhung des Proteinbedarfs älterer Menschen, insbesondere um deren Muskelmasse und Funktionalität zu erhalten. Senioren benötigen demnach mehr als die bis anhin empfohlenen 0,8 g Protein pro kg Körpergewicht (KG) und Tag. Aktuelle Arbeiten belegen eine Zufuhrempfehlung von täglich mindestens 1,0 bis 1,2 g/kg KG. Dieser Bedarf kann zudem abhängig von individuellen akuten und chronischen Komorbiditäten variieren und auch bis zu 1,5 g/kg KG betragen. Körperliches Training fördert die Verwertung von Nahrungsproteinen, wenn sie in einem nahen zeitlichen Kontext mit einer Trainingseinheit verzehrt werden. Ähnlich der Situation beim Nahrungsfett unterscheiden sich Proteinquellen stark bezüglich ihrer Aminosäurezusammensetzung und damit auch in ihrer Qualität. Zukünftige Studien müssen zeigen, inwieweit sich diese Unterschiede positiv hinsichtlich des Muskelerhalts beziehungsweise -aufbaus bei älteren Personen verwerten lassen.
Der Proteinmetabolismus – Besonderheiten des Alters
Proteine unterliegen im Körper einem ständigen Auf- und Abbau. Um diese Bilanz positiv zu gestalten, benötigt der Organismus beständig Aminosäuren, die über die Nahrung aufgenommen werden. Die aktuellen Zufuhrempfehlungen von Nahrungsproteinen basieren in erster Linie auf Studien der Stickstoffbilanz. Diese Methode weist jedoch zahlreiche Schwächen auf. So wird für die Bestimmung einer präzisen Stickstoffbilanz die Sammlung sämtlicher Stickstoffverluste eines Studienteilnehmers, wie Urin, Stuhl, Schweiss, Haare oder Hautschuppen, benötigt. Aufgrund der äusserst schwierigen Durchführung wurde in den meisten Arbeiten eine kalkulative Annährung an die tatsächlichen Verluste vorgenommen. Zudem erfassten die bislang vorliegenden Arbeiten nur kurze Zeiträume bei
1Universitätsklinik für Geriatrie, Klinikum Oldenburg 2Klinikdirektor
meist jüngeren Personen. Ältere Erwachsene nahmen nur in geringer Zahl an diesen Studien teil. Viele Experten gehen daher von tendenziell zu niedrig berechneten Werten für eine ausgeglichene Stickstoffbilanz aus. Zudem werden die Besonderheiten des Alters nur unzureichend berücksichtigt. Neben dem bereits erwähnten individuell eventuell vorhandenen Proteinmehrbedarf aufgrund von Komorbiditäten, die sich häufiger beim älteren Erwachsenen als im jüngeren Lebensalter finden, ist das die altersassoziierte anabole Resistenz des Proteinstoffwechsels. Als einzelne Komponenten derselben seien hier beispielhaft eine zunehmende Insulinresistenz und eine vermehrte splanchnische Extraktion genannt. Aus funktioneller Perspektive verschiebt sich zudem die Bewertung einer altersadäquaten Proteinzufuhr hin zum Erhalt der Muskelmasse und -funktion, der im höheren Lebensalter prinzipiell als gefährdet betrachtet werden muss. Hieraus ergibt sich die Forderung
einer optimalen Proteinzufuhr, die einen Paradigmenwechsel gegenüber den international gebräuchlichen Recommended Daily Allowances (RDA) darstellt. Letztere weisen keinen Bezug zum Erhalt von Funktionalität auf. Aus obigen Ausführungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es gerechtfertigt scheint, für ältere Menschen eine spezifische Empfehlung hinsichtlich der optimalen Proteinzufuhr auszusprechen.
Die Berechnung des Proteinbedarfs im Alter und die Pathogenese des reduzierten Proteinverzehrs bei älteren Personen
Sowohl in Deutschland (1) als auch international (2) gilt bislang eine einheitliche Empfehlung von 0,8 g/kg KG pro Tag für alle Erwachsenen. Mit steigendem Lebensalter haben Senioren vor allem aufgrund ihrer im Mittel abnehmenden körperlichen Aktivität einen geringeren Energiebedarf. Eine geringere Bedeutung kommt hier dem Umbau der Körperzusammen-
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setzung mit Abnahme der Muskel- und tersuchungen belegen ei-
Zunahme der Fettmasse zu. Bei Annahme nen Zusammenhang zwi-
eines konstanten Anteils der Proteine an schen Frailty, die durch ei-
der Ernährung, bezogen auf den Gesamt- ne reduzierte Kraft und
kalorienverzehr, kann daher – insbeson- Funktionalität gekenn-
dere jenseits des 80. Lebensjahres – eine zeichnet ist, und einer un-
unzureichende Versorgung mit Proteinen zureichenden Zufuhr von
erfolgen, falls keine Berechnung der Ab- Protein. Es darf jedoch zu
solutwerte der täglichen Proteinzufuhr er- keinem Zeitpunkt verges-
folgt. Besonders bei Personen, die ein ge- sen werden, dass ein Mus-
ringes Aktivitätsniveau aufweisen, sollte kelerhalt oder gar ein Mus- Abbildung: Algorithmus zur Diagnosefindung bei Sarkopenie hierauf systematisch geachtet werden. Es kelaufbau nicht ohne (Cruz-Jentoft et al. 2010)
ist ferner naheliegend, dass die Anorexie ausreichende Kalorienzu-
des Alterns eine unzureichende Protein- fuhr möglich sein wird. Daher ist im höhe- Eine optimierte Proteinzufuhr hat Bedeu-
zufuhr begünstigen kann. Verschiedene ren Alter immer sowohl auf eine ausrei- tung für den Erhalt verschiedenster phy-
Einflussfaktoren sind in Tabelle 1 (3) zu- chende Kalorien- als auch Proteinzufuhr siologischer Systeme, unter anderem
sammengestellt. Epidemiologische Un- zu achten (4–6).
auch des Knochens und des Immunsys-
tems. Da zur Muskulatur die umfangreich-
ste wissenschaftliche Literatur vorliegt,
Tabelle 1: Risikofaktoren für eine inadäquate Proteinaufnahme im Alter
soll an dieser Stelle detailliert auf den Zusammenhang von Muskelmasse, Muskel-
Risikofaktoren
Ursachen und Bedeutung
kraft und Funktionalität eingegangen
reduzierte Energieaufnahme Der verminderte Energiebedarf kann bei gleichbleibender pro- werden. Die Abnahme von Muskelmasse
körperliche Abhängigkeit
Anorexie
veränderte Ernährungsgewohnheiten
zentualer Aufnahme an Energie aus Protein zu einer unzureichenden Proteinzufuhr führen. Schwierigkeiten beim Einkauf von LM und der Zubereitung von Mahlzeiten alters- und krankheitsbedingt, neurosensorische Veränderungen des Appetits, LM-Präferenzen, Zahnstatus Reduzierte Zufuhr von proteinreichen LM zugunsten von kohlenhydrat- oder fettreichen LM; Gesamtenergieaufnahme
und -kraft wiederum spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Gebrechlichkeit, Stürzen und Behinderungen, als deren Folge Frakturen und Pflegebedürftigkeit entstehen können. Das fortgeschrittene Stadium eines altersassozierten Verlustes an Muskelmasse
Verfügbarkeit adäquater LM
ggf. noch ausreichend Begrenzte oder schlechte Verfügbarkeit von ernährungsphysiologisch hochwertigen LM ist assoziiert mit schlechtem Gesundheitszustand (nach Selbsteinschätzung), Depression, Einschränkungen in den ADL, Diabetes
und Muskelkraft wird als Sarkopenie bezeichnet. Im Jahr 2010 wurde eine operationalisierte Definition der Sarkopenie in einer europäischen Konsensuskonferenz entwickelt; das Ergebnis zeigt die Abbil-
LM Lebensmittel, ADL Aktivitäten des täglichen Lebens (Volpi et al. 2013)
dung (6). Einer Sarkopenie liegt das komplexe Zusammenspiel zwischen primär
Tabelle 2: Messungen von Muskelmasse, Muskelkraft und Funktionalität in Forschung und Praxis
Variable Muskelmasse
Forschung
Klinische Praxis
Computertomografie (CT)
BIA
Magnetresonanztomografie (MRT)
Dual-Energy-X-ray-Absorptionsmessung (DEXA)
Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA)
Gesamtes oder partielles Körperkalium
DEXA
altersassoziierten Veränderungen, wie dem Hormonstatus, niedriggradigen chronischen Entzündungsprozessen (inflammation of aging), neurodegenerativen Veränderungen sowie einer unterschiedlich ausgeprägten individuellen Komorbidität zugrunde. In diesem Kontext sind auch die generell abnehmende körperliche Aktivität und eine vor allem
Muskelkraft
Handkraft
Handkraft
krankheitsassoziierte Immobilität zu be-
Körperliche Leistungsfähigkeit/Funktionalität
Flexions-/Extensionskraft der Oberschenkelmuskulatur Atemspitzenfluss Short Physical Performance Battery (SPPB) Ganggeschwindigkeit Timed «Up and Go»-Test Stair-climb-(Treppensteigen-)Power-Test
Ganggeschwindigkeit Timed «Up and Go»Test
rücksichtigen (7). Um Muskelmasse, Muskelkraft und Funktionalität zu messen, sind eine Reihe unterschiedlicher Methoden einsetzbar. Kosten, Verfügbarkeit und Handhabung bestimmen, ob die Methode besser in der Forschung oder in der klinischen Praxis Anwendung findet. Ta-
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belle 2 zeigt eine diesbezügliche Übersicht (8). In mehreren aktuellen Studien ergab sich ein Zusammenhang zwischen einer niedrigen Protein-, aber auch Energiezufuhr und dem Auftreten einer Sarkopenie, wobei eine höhere Proteinzufuhr einen diesbezüglich protektiven Effekt aufwies (7, 8). Auch aufgrund dieser Beobachtung hat sich die Europäische Gesellschaft für Geriatrie (EUGMS) zusammen mit anderen internationalen geriatrischen Fachgesellschaften das Ziel gesetzt, evidenzbasierte Empfehlungen für die optimale Höhe der Proteinzufuhr bei älteren Menschen jenseits des 65. Lebensjahrs zu erarbeiten. Eine Expertengruppe verschiedener Fachrichtungen (Geriater, Endokrinologen, Ernährungs- sowie Bewegungswissenschaftler und Nephrologen), die «PROT-AGE studygroup», sichtete die Evidenz zur Proteinzufuhr im höheren Lebensalter und fasste diese zusammen. Die Ergebnisse werden im Folgenden auszugsweise vorgestellt.
Nutzen einer erhöhten Proteinzufuhr
im Seniorenalter
In der Health, Aging and Body Composition Study wurde von Houston und Mitarbeitern der Zusammenhang zwischen Proteinverzehr und Muskelmasse über einen Zeitraum von drei Jahren bei 2066 gesunden Erwachsenen beschrieben. Die Proteinaufnahme wurde anhand eines Häufigkeitsprotokolls ermittelt, die
Muskelmasse mit der DEXA-Methode gemessen. Die Probanden in der höchsten Quintile der Proteinaufnahme verloren 40 Prozent weniger Muskelmasse als Probanden in der niedrigsten Quintile (9). Diese longitudinale Untersuchung ist ein wichtiger Beleg für einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Proteinaufnahme und Erhalt der Muskulatur. Die Ergebnisse der Health-ABC-Studie wurden unlängst von einer weiteren Arbeitsgruppe bestätigt, deren Auswertung auf Daten der Women’s Health Initiative beruht. Beasley und Mitarbeiter konnten in dieser Longitudinalstudie zeigen, dass der Proteinverzehr sowohl mit der subjektiv empfundenen körperlichen Leistungsfähigkeit als auch mit den Ergebnissen objektiver Funktionstests korrelierte. Das bedeutet, dass ein höherer Proteinverzehr mit einer besserten Funktionalität assoziiert war (10). Bereits 2011 hatten Campbell und Kollegen in einem longitudinalen Studiendesign bei einer kleinen Gruppe gesunder Senioren (n = 10) herausgefunden, dass die Aufnahme einer Proteinmenge von 0,8 g/kg KG pro Tag mit einer Abnahme der Oberschenkelmuskulatur über einen Zeitraum von 14 Wochen verbunden war, während das Gewicht über den Interventionszeitraum konstant blieb (11). Offensichtlich ist die gegenwärtige RDA von 0,8 g/kg KG nicht geeignet, der Entwicklung einer Sarkopenie im Alter entgegenzuwirken.
Ernährungsstrategien für eine
verbesserte Proteinverwertung
Zukünftig könnten sich neue Ansätze hinsichtlich einer Verbesserung der Verwertung des Proteins als wertvoll ergeben. Diese Strategien beziehen sich unter anderem auf eine Verbesserung der intestinalen Proteindigestion beziehungsweise -resorption als Folge der spezifischen Zusammensetzung eines Proteins. Es wird zwischen «schnellen» und «langsamen» Proteinen differenziert. Das «schnelle» Protein führt zu einem rascheren und höheren Anstieg der postprandialen Aminosäuren im Plasma, als dies mit «langsamen» Proteinen zu erreichen ist – bei identischer Aminosäuremenge beider Proteine. Dieser Umstand scheint einen relevanten Einfluss auf den Aminosäurestoffwechsel haben (12). So konnte aufgezeigt werden, dass bei älteren Männern die durch Molkeprotein (ein «schnelles» Milchprotein) stimulierte postprandiale Zunahme der Muskelproteinsynthese stärker ausfällt, als dies bei Kasein (ein «langsames» Milchprotein) der Fall ist. Dieser Effekt wird der Kombination aus besserer Digestion bei gleichfalls besserer Absorptionskinetik sowie dem höheren Leucinanteil des Molkeproteins zugeschrieben (13–15). Mit Hinblick auf eine Verbesserung der Proteinverwertung scheint auch der Proteinmenge pro Mahlzeit und der Verteilung der Proteinzufuhr über den Tag eine gewisse Bedeutung zuzukommen (16).
Tabelle 3: Empfehlungen für die Proteinzufuhr bei Patienten mit Niereninsuffizienz
PROT-AGE Empfehlungen für Senioren mit NI
Nicht dialysepflichtige NI 1. Schwere NI, GFR < 30*: eingeschränkte Proteinzufuhr bis 0,8 g/kg KG†/Tag 2. Moderate NI, 30 < GFR < 60: Protein > 0,8 g/kg KG†/Tag zulässig, jedoch Kontrolle der GFR 2 x/Jahr 3. Milde NI, GFR > 60: Proteinzufuhr gemäss individueller Empfehlung ohne prinzipielle Beschränkung
Hämodialyse
Peritonealdialyse
1,2 g/kg KG†/Tag bzw.
> 1,2 g/kg KG†/Tag bzw.
1,5 g/kg KG†/Tag, wenn realisierbar‡ 1,5 g/kg KG†/Tag, wenn realisierbar‡
NI = Niereninsuffizienz, GFR = Glomeruläre Filtrationsrate, *GFR wird in ml/min/1,73 m2 angegeben † Empfehlungen basieren auf dem Idealgewicht ‡ Prospektive Studien bezüglich dieser hohen Proteinzufuhr bei älteren Hämo- oder Peritonealdialysepatienten sind nicht verfügbar (Bauer et al. 2013)
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Studien belegen, dass ältere Menschen eine grössere Menge Protein pro Mahlzeit für eine anabole Wirkung (25–30 g Protein pro Mahlzeit entsprechen einer Menge von 2,5 bis 2,8 g Leucin) benötigen als jüngere Erwachsene (17). Andere Studien weisen hingegen auf Vorteile des sogenannten «pulse-feeding» mit dem Beispiel einer Hauptproteinmahlzeit zum Mittag hin (18, 19). Eine endgültige Klärung hinsichtlich des wirksamsten Ansatzes steht gegenwärtig demzufolge noch aus.
Empfehlungen der Proteinzufuhr bei gesunden, älteren Menschen
Auf Basis der gesichteten Literatur kommt die PROT-AGE Gruppe zu dem Entschluss, eine Empfehlung von täglich 1,0 bis 1,2 g Protein/kg KG für gesunde ältere Menschen auszusprechen, um dem altersassoziierten Muskel- und Skelettabbau entgegenzuwirken und die Funktionalität älterer Menschen zu sichern. Das entspricht einem Anteil von 13 bis 16 Prozent Protein an der aufgenommenen Gesamtkalorienmenge und liegt weiterhin im empfohlenen Bereich von 10 bis 35 Prozent des Anteils an der Gesamtmakronährstoffmenge (9). Die Höhe des konsumierten Proteins sollte in dieser Gruppe nicht weiter gesteigert werden, da davon ausgegangen werden kann, dass dies zulasten der Aufnahme anderer Nährstoffe oder der Gesamtenergie geht. Im Folgenden werden Empfehlungen für die Proteinzufuhr bei bestimmten Komorbiditäten aufgeführt.
Empfehlungen für die Proteinzufuhr bei Vorliegen von Frailty, Sarkopenie und Osteoporose
Frailty ist ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, das mit einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Stressoren und einem Verlust der Anpassungsfähigkeit sowie der funktionellen Reserven einhergeht. In der Folge erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für negative Gesundheitsereignisse wie Pflegebedürftigkeit und Tod (5). Sarkopenie und Frailty sind in ihrer Pathogenese eng miteinander verbunden. Gewissermassen stellt das Vorliegen einer Sarkopenie einen wesent-
lichen begünstigenden Faktor für die Entstehung von Frailty dar. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass eine optimierte Eiweisszufuhr, neben einer ausreichenden Kalorienzufuhr, für die Prophylaxe und die Therapie dieses geriatrischen Syndroms von hoher Bedeutung ist. Belegt wurde das unter anderem in einer Studie von Beasley et al., bei der eine erhöhte Proteinaufnahme das Risiko für Frailty bei Seniorinnen reduzierte (10). Die Supplementation von Protein oder Aminosäuren fördert die Muskelproteinbiosynthese bei Senioren und kann zur Verbesserung der Funktionalität beitragen (20). Tieland und Kollegen konnten zeigen, dass sich Muskelkraft und Funktionalität bei Senioren mit Frailty über einen Zeitraum von 24 Wochen verbesserten, wenn sie zusätzliches Protein zu sich nahmen (15 g zum Frühstück, 15 g zum Mittagessen). Die Muskelmasse blieb dabei jedoch nahezu unverändert (21). Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass bei Personen mit Frailty eine gesteigerte Proteinaufnahme zu einer Verbesserung der Muskelkraft und -funktionalität führen kann. Die Knochendichte scheint ebenfalls von einem erhöhten Proteinkonsum zu profitieren. Eine Reihe von Untersuchungen (ein systematischer Review, mehrere Kohortenstudien und eine randomisiertkontrollierte Studie) fanden jeweils höhere Knochendichten in Kombination mit einem Konsum von mehr als 0,8 g/kg KG pro Tag Protein beziehungsweise bei 24 Prozent Protein am Anteil der Gesamtenergiezufuhr (22–24). Eine Proteinzufuhr > 0,8 g/kg KG kann also demzufolge der Entstehung von Osteoporose entgegenwirken.
Empfehlungen für die Proteinzufuhr
bei Nierenerkrankungen
Die Nierenfunktion nimmt mit steigendem Lebensalter nahezu regelhaft ab. Hinsichtlich der Gefährdung der Nierenfunktion durch eine höhere Proteinzufuhr liegen teilweise widersprüchliche Studienergebnisse vor. In einer Studie über einen Zeitraum von 5 Jahren konnte keine Abnahme der Nierenfunktion bei über 60-jährigen Frauen (ohne Hinweise auf
eine Nierenschädigung) mit höherem Proteinkonsum (durchschnittlich 1,1 g/kg KG) beobachtet werden (25). Knight und Kollegen dagegen wiesen eine signifikant raschere Verschlechterung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) bei erhöhter Proteinaufnahme für Frauen mit milder Niereninsuffizienz nach (26). Der Ernährungszustand von Patienten mit Niereninsuffizienz sollte regelmässig durch Fachpersonen begutachtet werden, um die Entstehung einer Malnutrition und/oder einer Sarkopenie frühzeitig zu erkennen. Die International Society of Renal Nutrition and Metabolism (ISRNM) publizierte unlängst Empfehlungen zur Proteinzufuhr für Menschen mit chronischen Nierenerkrankungen, dialyse- und nicht dialysepflichtig, einschliesslich Patienten mit Peritoneal- oder Hämodialyse. Da Menschen mit Nierenerkrankungen Protein und Energie in besonderem Masse verbrauchen, wird eine Energiezufuhr von 30 bis 35 kcal/kg KG/Tag empfohlen. Für nicht dialysepflichtige Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz werden täglich 0,6 bis 0,8 g Protein pro kg KG empfohlen. Die individuelle Empfehlung hat jedoch auch die Situation des betroffenen Patienten zu reflektieren, das heisst, dass zum Beispiel das Vorliegen einer Sarkopenie die Empfehlung in Richtung einer höheren Zufuhr in dieser Population beeinflussen kann. Dialysepflichtige sollten zu Beginn der Dialyse etwa 1,2 g/kg KG täglich konsumieren, um den dialyseinduzierten katabolen Effekt zu kompensieren (27). Mehr als 50 Prozent des verzehrten Proteins sollte dabei von hoher biologischer Wertigkeit
Tabelle 4: Proteingehalt in verschiedenen Lebensmitteln
Proteinquelle
150 g Putenbrust 150 g Schweinefleisch 150 g Rindfleisch (mager) 150 g Lachs 30 g Hartkäse 100 g Quark (Fettstufe variabel) 1 Scheibe Brot (45 g) 1 Ei 100 g Kartoffel
Proteingehalt 36 g 29 g 23 g 30 g
9g 13 g 4g 7g 2g
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sein. Die Empfehlungen der PROT-AGEGruppe für ältere Menschen entsprechen denen der ISRNM. Eine Übersicht der Zufuhrempfehlungen in Abhängigkeit von der Schwere der Nierenerkrankung zeigt Tabelle 3 (nach [6]).
Kombination von Proteinzufuhr und körperlicher Aktivität
Der anabole Effekt von Insulin und Aminosäuren auf die Proteinbiosynthese wird durch körperliche Aktivität verstärkt, während eine inaktive Lebensweise oder gar Immobilisation einen katabolen Effekt ausübt. Das Gleichgewicht zwischen Auf- und Abbau von Protein wird durch die altersassoziierten Veränderungen ohnehin in Richtung Katabolie verschoben. Da Senioren häufig eine inaktivere Lebensweise – zum Beispiel aufgrund von Komorbiditäten wie der Osteoarthrose – aufweisen, wird dieser Effekt noch verstärkt.
Empfohlene körperliche Aktivität
Das Ausmass und die Intensität des empfohlenen körperlichen Trainings hängen stark vom individuellen Gesundheitszustand ab. Die American Heart Organisation (AHA) und das American College of Sports Medicine (ASCM) empfehlen Senioren 30 bis 60 Minuten moderates Training pro Tag oder 20 bis 30 Minuten Training mit höherer Intensität (28). Ein Krafttraining an zwei nicht aufeinanderfolgenden Tagen pro Woche wird zur Vermeidung von Muskelabbau und zur Verbesserung der Muskelkraft empfohlen. Für gesunde Senioren gelten 10 bis 15 Minuten pro Sitzung mit 8 Wiederholungen für jede Muskelgruppe als ein effektives Ziel. Studien belegen, dass Senioren auch in der 9. und 10. Lebensdekade noch ihre Muskelkraft und Funktionalität mit einem angepassten Krafttraining verbessern können (29, 30).
Proteinsupplemente: Wann, wie viel und wie?
Nach Ansicht verschiedener Autoren ist der zeitliche Abstand zwischen Protein beziehungsweise Aminosäureaufnahme und Training ein wesentlicher Einflussfaktor zur Verbesserung des Muskelaufbaus.
Körperliche Aktivität verstärkt die Muskelbiosynthese durch die Sensibilisierung des Muskels für Insulin- oder Aminosäure-vermittelte anabole Aktionen. Dieser Effekt scheint in den ersten drei Stunden nach dem Training seinen Höhepunkt zu erreichen (31), um dann 18 bis 24 Stunden bestehen zu bleiben (32). Diese Erkenntnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass Protein in zeitlicher Nähe zu einer Trainingseinheit aufgenommen werden sollte, um den beschriebenen Effekt zu nutzen. Eine Metaanalyse über 22 RCT mit 680 jüngeren und alten Probanden zeigte zudem, dass ein Widerstands-Training über mindestens 6 Wochen in Kombination mit der zusätzlichen Einnahme von Proteinen zu signifikanten Muskelmasse- und Kraftzuwächsen führte (33).
Zusammenfassung
Die aktuelle wissenschaftliche Literatur weist darauf hin, dass einer optimierten Proteinzufuhr für den Erhalt der Funktionalität älterer Menschen grosse Bedeutung zukommt. Demnach sollten Senioren eine höhere Menge als die gegenwärtig häufig empfohlenen 0,8 g/kg KG pro Tag erhalten. Die aktuelle Studienlage belegt, dass ein höherer täglicher Proteinkonsum für den Erhalt beziehungsweise die Wiedergewinnung von Muskelmasse und -funktion von Nutzen ist. Die PROTAGE-Gruppe spricht eine Empfehlung von 1,0 bis 1,2 g Protein/kg KG/Tag für gesunde Senioren aus. Je nach vorliegender Komorbidität sollte zudem eine individuelle Zufuhrempfehlung erfolgen. Eine unkritische Steigerung der Proteinzufuhr sollte jedoch vermieden werden, da diese insbesondere bei gebrechlichen Senioren eine negative Beeinflussung der Appetitregulation bewirken und auf diese Weise die Energiebilanz gefährden kann.
Korrespondenzadresse: Dr. oec. troph. Rebecca Diekmann Universitätsklinik für Geriatrie Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Klinikum Oldenburg GmbH Rahel-Straus-Str. 10, D-26133 Oldenburg E-Mail: rebecca.diekmann@uni-oldenburg.de
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