Transkript
NAHRUNGSMITTELUNVERTRÄGLICHKEITEN
Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität
Hintergründe und Therapieoptionen
STEPHAN VAVRICKA*
In den letzten Jahren wurden immer wieder Arbeiten publiziert, in denen beschrieben wurde, dass gewisse Patienten nach Einnahme von Getreiden und Gluten typische Zöliakiesymptome entwickeln, obwohl sie keine entsprechenden serologischen, histologischen oder genetischen Marker für eine Zöliakie aufweisen (1–3). Bei diesen Patienten sind die IgE-AK nicht erhöht, wie das zum Beispiel bei einer Weizenallergie typischerweise der Fall ist. Für diese Patienten wurde der Begriff Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (im Englischen non-celiac gluten sensitivity = NCGS) geprägt. Im Gegensatz zur Zöliakie und zur Weizenallergie, wo unter anderem eine T-Zell-Aktivierung in der gastrointestinalen Mukosa stattfindet, scheint bei der NCGS primär das angeborene Immunsystem aktiviert zu werden, und die Darmintegrität bleibt im Gegensatz zur Zöliakie in der Regel unbeeinträchtigt (4).
Ein Konsensuspapier (5), das 2012 durch eine Expertengruppe erstellt wurde, schlägt die Unterteilung der glutenabhängigen Erkrankungen nach den drei Hauptursachen der Symptome vor: 1. Autoimmun bedingte Erkrankungen: Zöliakie, Glutenataxie, Dermatitis herpetiformis 2. Allergisch bedingte Erkrankungen: Nahrungsmittelallergie, weizenabhängige belastungsinduzierte Anaphylaxie, Bäckerasthma, Kontaktallergie 3. Nicht autoimmun, nicht allergisch bedingte Erkrankungen: Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS). Im Folgenden soll vor allem auf die NichtZöliakie-Glutensensitivität eingegangen werden.
Definition und Symptomatik
Eine präzise, allgemein gültige Definition der Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität existiert bis zum heutigen Datum nicht. Bei Patienten, die an der Nicht-Zöliakie-
*Abteilung Gastroenterologie, Stadtspital Triemli, Zürich.
Glutensensitivität leiden, treten Stunden bis Tage nach der Aufnahme glutenhaltiger Speisen oder Getränke zöliakieähnliche Symptome im Magen-Darm-Trakt auf, wie zum Beispiel abdominale Schmerzen, Blähungen und Diarrhö. Zu den glutenhaltigen Nahrungsmitteln gehören beispielsweise Weizen, Roggen und Gerste. Bei diesen Patienten muss vorgängig eine Zöliakie und eine Weizenallergie ausgeschlossen werden. Bei einem Teil der Patienten finden sich erhöhte Antikörper (z.B. anti-Gliadin IgG/IgA-Antikörper) gegen Gluten. Trotz der gastrointestinalen Beschwerden treten aber typischerweise keine Schädigungen des Dünndarmes auf. Neben gastrointestinalen Beschwerden lassen sich auch andere Symptome beobachten, wie Verhaltensänderungen, Knochen- oder Gelenkschmerzen, Muskelkrämpfe, Gefühlsstörungen der Beine, Gewichtsverlust und chronische Müdigkeit. Seltener wird auch über Symptome wie Hautausschläge, schwerwiegendere neurologische und psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie und zerebelläre Ataxie berichtet.
In der Tabelle werden die häufigsten Symptome bei den drei Krankheitsbildern Zöliakie, Weizenallergie und Nicht-ZöliakieGlutensensitivität beschrieben. In einer der grössten amerikanischen Studien zum Thema NCGS aus den Jahren 2004 bis 2010 wurden 347 Patienten mit Hinweisen auf eine NCGS untersucht. Dabei zeigten sich bei 68 Prozent der Betroffenen Bauchschmerzen, bei 40 Prozent Ekzeme oder Ausschläge, bei 35 Prozent Kopfschmerzen, bei 34 Prozent Konzentrationsstörungen und bei je 33 Prozent Müdigkeit und Durchfälle, bei 22 Prozent Depressionen, bei je 20 Prozent Blutarmut, Taubheit der Beine/Arme/Finger und bei 11 Prozent Gelenkschmerzen (5).
Ältere Studien zur Nicht-ZöliakieGlutensensitivität
Obwohl die NCGS erst in den letzten Jahren vermehrt in der Literatur beschrieben wird, gab es einige frühere Arbeiten, die über diese Krankheit berichteten. Im Jahr 1980 beschrieben Cooper und Kollegen (6) acht weibliche Patientinnen mit abdominalen Schmerzen und chronischer Diar-
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rhö, die nach Einhalten einer glutenfreien Diät eine dramatische Besserung ihrer Beschwerden erfuhren, nach erneuter Glutenexposition jedoch einen massiven Rückfall der Symptomatik aufwiesen. Bei diesen Patientinnen wurde eine Zöliakie ausgeschlossen (fehlende villöse Atrophie im Dünndarm unter glutenhaltiger Ernährung). Das klinische Bild dieser Patientinnen entspricht der heute in der Literatur beschriebenen Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität. In einer weiteren Studie wurde rektal appliziertes Gluten bei nicht betroffenen Geschwistern von Zöliakiepatienten angewendet (7). Bei diesen Probanden konnten verschiedene Veränderungen der Schleimhaut wie zum Beispiel eine Vermehrung der Lymphozyten nachgewiesen werden. Interessanterweise waren diese Veränderungen nicht abhängig vom HLA-DQ2-Status der Probanden. Diese Beobachtung unterstützt die These, dass eine immunologische Antwort auch ohne das Vorhandensein von HLA-DQ2induzierter glutenbedingter T-Zell-Aktivierung auftreten kann (8), und könnte somit das Auftreten der Symptome bei NCGS-Patienten erklären.
Epidemiologie und Genetik
Zuverlässige epidemiologische Studien über die Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität wurden bis anhin nicht publiziert. Gemäss Angaben von Experten im «Wall Street Journal» wird behauptet, dass etwa 1 von 20 Amerikanern von irgendeiner Form der Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität betroffen sein könnte. Diese Daten sind jedoch in keiner klinischen Studie belegt worden. Auch über genetische Besonderheiten in dieser Population ist sehr wenig bekannt. Insbesondere wurde noch keine Assoziation mit Veränderungen im HLA-DQ2- und -DQ8-Gen nachgewiesen, wie sie zum Beispiel bei der Zöliakie gut bekannt ist.
Diagnose der Nicht-ZöliakieGlutensensitivität
Die Diagnose der Nicht-ZöliakieGlutenunverträglichkeit (NCGS) fokussiert primär auf serologischen Tests und ist vorwiegend eine Ausschlussdiagnose. Eine Übersicht eines diagnostischen Algorithmus der NCGS zeigt die Abbildung (2). In einem ersten Schritt sollten vor allem die Zöliakie und die Weizenallergie aus-
Tabelle: Die häufigsten Symptome der drei Krankheitsbilder
Zöliakie
Weizenallergie
Gastrointestinal
Abdominalschmerzen Diarrhö Obstipation
Abdominalschmerzen Erbrechen Diarrhö
Neurologische und psychiatrische Symptome
Kopfschmerzen muskuloskeletale Schmerzen Kribbeln und Taubheitsgefühl in Händen und Füssen Müdigkeit Ataxie
Kopfschmerzen Schwindel
Andere Symptome
Dermatitis herpetiformis und Gewichtsverlust
Ekzem Asthma Rhinitis Nausea Juckreiz
Nicht-ZöliakieGlutensensitivität Abdominalschmerzen Diarrhö Obstipation Nausea Erbrechen
Kopfschmerzen muskuloskeletale Schmerzen Kribbeln und Taubheitsgefühl in Händen und Füssen Müdigkeit andere neurologische und psychiatrische Symptome
Hautausschlag Nausea Gewichtsverlust
geschlossen werden. Zur Diagnose einer Zöliakie wird die Serologie bestimmt. Dabei können zum Beispiel die Antitransglutaminase-Antikörper IgG und IgA gegen deaminiertes Gliadin und das Gesamt-IgA bestimmt werden. Bei unklaren Antikörperbefunden muss eine Dünndarmbiopsie erfolgen. Die Bestimmung der HLAGenotypen kann in der Diagnostik ebenfalls weiterhelfen. Bei Patienten mit negativem HLA-DQ2 oder HLA-DQ8 lässt sich eine Zöliakie nahezu 100-prozentig ausschliessen. Die Negativität für HLADQ2 und HLA-DQ8 ist ein exzellenter prädiktiver Faktor für den Ausschluss einer Zöliakie (9). Zum Ausschluss einer Weizenallergie werden die IgE-Antikörper bestimmt und die Hautpricktestung eingesetzt. Bei zirka 50 Prozent der NCGS-Patienten finden sich positive Antikörper gegen Gliadin (IgG-Antigliadin-AK). Bei Zöliakie weisen dagegen bis zu 80 Prozent der Patienten positive Antikörper gegen Gliadin auf. Bleibt der Verdacht auf eine NCGS, sollte zunächst eine 6- bis 12monatige glutenfreie Diät eingehalten werden, da die Symptome dann innerhalb weniger Tage rückläufig sind. Die Diagnose wird zusätzlich erhärtet, wenn es unter einer erneuten Provokation mit glutenhaltiger Nahrung zu einem Wiederaufflammen der Symptome kommt. Wenn sich der Patient bereits strikt an eine glutenfreie Diät hält, kann es schwierig sein, eine Zöliakie definitiv auszuschliessen und den Verdacht auf eine Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität zu erhärten. Solche Fälle begegnen uns im klinischen Alltag immer wieder. Diese Patienten haben aus verschiedenen Gründen mit einer glutenfreien Ernährung begonnen, ohne dass eine Zöliakie formal festgestellt wurde. Diese Ernährungsumstellung erfolgte entweder aufgrund von Ratschlägen von Verwandten oder nach Empfehlungen von Diätberatern beziehungsweise alternativ orientierten Ärzten. Häufig beschreiben die Patienten, dass die Einhaltung der Diät ihre Symptome deutlich verbessert hat. Der Ausschluss einer Zöliakie gelingt bei solchen Patienten häufig nicht mehr, da sich die Serologie innerhalb von 3 bis 6 Monaten und die Darmmukosa innerhalb von 6 bis
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kiediät einhalten. Um den Verlauf und mögliche Folgeerkrankungen mit und ohne Diät bei Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität abschätzen zu können, sind weitere Studien dringend erforderlich. Es ist zu hoffen, dass dieses Krankheitsbild in naher Zukunft noch besser charakterisiert werden wird.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Stephan Vavricka Leiter Abteilung Gastroenterologie Stadtspital Triemli, Zürich E-Mail: steohan.vavricka@triemli.zuerich.ch
Abbildung: Vorgeschlagener diagnostischer Algorithmus einer NCGS. * HLA-Typisierung kann sinnvoll sein, da die Negativität von HLA-DQ2 und -DQ8 einen exzellenten negativen
prädiktiven Wert für eine Zöliakie hat. ** Bei hohem klinischem Verdacht auf eine Zöliakie kann es trotz negativer Serologie sinnvoll sein, eine Zöliakie
weiter abzuklären.
12 Monaten erholen können. In diesen Fällen kann es sich lohnen, dem Patienten zu einer kurz dauernden Gluteneinnahme zu raten (gluten-challenge).
Überschneidung mit Reizdarmsyndrom
Das Reizdarmsyndrom (IBS, irritable bowel syndrome) gehört zu den funktionellen gastrointestinalen Krankheiten (siehe Seite 6 dieser Ausgabe). Nach den Rom-IIKonsensus-Kriterien der American Gastroenterological Association und anderen medizinischen Gesellschaften kann ein Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: innerhalb der letzten 12 Monate mindestens 12 Wochen (die nicht in Folge sein müssen) abdominelle Schmerzen oder Unwohlsein mit 2 der 3 Eigenschaften: 1. Linderung durch Stuhlgang; 2. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlhäufigkeit und 3. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz. In den Rom-Kriterien wird Schmerz als eines der Hauptsymptome eines Reizdarmsyndroms beschrieben.
Patienten mit einer Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität beschreiben zwar auch häufig abdominelle Schmerzen, es stehen aber auch ausgeprägte Blähungen, Flatulenz und Diarrhö im Vordergrund. Insgesamt sind allerdings die Symptome einer Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität und eines Reizdarms sehr ähnlich, sodass die Unterscheidung häufig nicht erfolgen kann. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zudem, dass eine glutenfreie Ernährung sowohl bei NCGS- als auch bei Reizdarmsyndrompatienten einen positiven Effekt bewirken kann (siehe Seite 18 dieser Ausgabe). Das liegt daran, dass die glutenfreie Diät häufig faserarm und somit leichter verdaubar ist.
Zusammenfassung
Die Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität wird in der heutigen Zeit immer mehr als ein eigenständiges Krankheitsbild angesehen. Ihre Therapie erfolgt durch eine glutenfreie Ernährung. Wie lange eine solche befolgt werden muss, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig geklärt; wahrscheinlich müssen die betroffenen Personen jedoch lebenslang eine Zölia-
Literatur: 1. Carroccio A, Mansueto P, Iacono G, Soresi M, D’Alcamo A, Cavataio F, Brusca I, Florena AM, Ambrosiano G, Seidita A, Pirrone G, Rini GB. Non-celiac wheat sensitivity diagnosed by double-blind placebocontrolled challenge: exploring a new clinical entity. Am J Gastroenterol 2012; 107: 1898–1906. 2. Lundin KE, Alaedini A. Non-celiac gluten sensitivity. Gastrointest Endosc Clin N Am 2012; 22: 723–734. 3. Biesiekierski JR, Newnham ED, Irving PM, Barrett JS, Haines M, Doecke JD, Shepherd SJ, Muir JG, Gibson PR. Gluten causes gastrointestinal symptoms in subjects without celiac disease: a double-blind randomized placebo-controlled trial. Am J Gastroenterol 2011; 106: 508–514. 4. Sapone A, Lammers KM, Casolaro V, Cammarota M, Giuliano MT, De Rosa M, Stefanile R, Mazzarella G, Tolone C, Russo MI, Esposito P, Ferraraccio F, Cartenì M, Riegler G, de Magistris L, Fasano A. Divergence of gut permeability and mucosal immune gene expression in two gluten-associated conditions: celiac disease and gluten sensitivity. BMC Med 2011; 9: 23. 5. Sapone A, Bai JC, Ciacci C, Dolinsek J, Green PH, Hadjivassiliou M, Kaukinen K, Rostami K, Sanders DS, Schumann M, Ullrich R, Villalta D, Volta U, Catassi C, Fasano A. Spectrum of gluten-related disorders: consensus on new nomenclature and classification. BMC Med 2012; 10: 13. 6. Cooper BT, Holmes GK, Ferguson R, et al. Glutensensitive diarrhea without evidence of celiac disease. Gastroenterology 1980; 79: 801–806. 7. Troncone R, Greco L, Mayer M, et al. In siblings of celiac children, rectal gluten challenge reveals gluten sensitization not restricted to celiac HLA. Gastroenterology 1996; 111: 318–324. 8. Solid LM, Lundin KE. Diagnosis and treatment of celiac disease. Mucosal Immunol 2009; 2: 3–7. 9. Sollid LM, Lie BA. Celiac disease genetics: current concepts and practical applications. Clin Gastroenterol Hepatol. 2005; 3: 843–851.
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