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ALTES UND NEUES ZUR FOLSÄURE
Homocystein – kardiovaskulärer und zerebrovaskulärer Risikofaktor oder Risikomarker?
WALTER F. RIESEN
Homocystein ist ein Stoffwechselzwischenprodukt, das aus der über die Nahrung aufgenommenen Aminosäure Methionin im Körper entsteht. Methionin ist in zahlreichen Nahrungsmitteln enthalten, besonders in tierischem Eiweiss (z.B. Fleisch, Fisch, Wurst, Käse etc.), und wird nach der Aufnahme ohne Beteiligung von Vitaminen zu Homocystein abgebaut. Methionin («aktiviertes Methionin», S-Adenosyl-Methionin; SAM) ermöglicht als Lieferant von Methylgruppen (-CH3) zahlreiche wichtige Funktionen und ist daher im Körper unentbehrlich. Durch Abgabe dieser Methylgruppe entsteht S-Adenosyl-Methionin (SAH), das anschliessend zu Homocystein umgewandelt wird. Homocystein scheint keine nützliche Funktion im Organismus zu haben. Ohne die Hilfe der Vitamine B6, B12 und B9 (Folsäure) kann Homocystein nicht abgebaut werden. Der Homocysteinspiegel im Blut ist also unter anderem von der Folsäurezufuhr abhängig.
Sind Störungen des Homocysteinstoffwechsels seltene Erkrankungen oder allgemein verbreitete Risikofaktoren?
Die schwersten Homocysteinerhöhungen werden bei selten auftretenden genetischen Defekten beobachtet, die den Homocysteinabbau oder -umbau direkt betreffen. Inzidenz schwerer homozygoter Defekte: • Cystathionin-Synthase-Defizienz
1:65 000–1:344 000 • MTHFR-Defizienz < 1:500 000 • Methionin-Synthase-Defizienz
< 30 Fälle bekannt. Geringe bis mässige Homocysteinerhöhungen treten wie folgt auf: • Thermolabile MTHFR (Austausch Amino-
säuren 677 C→T) zirka 16 Prozent • MTHFR (Austausch Aminosäuren 1298
A→C) zirka 8 Prozent • Patienten mit vorzeitigen Gefässerkran-
kungen zirka 25 Prozent • Ältere Teilnehmer der Framingham-Stu-
die (Homocystein > 15,8 µmol/l) 21 Prozent. • Allgemeinbevölkerung 5 bis 7 Prozent.
Stark erhöhte Homocysteinwerte sind selten und meist genetisch bedingt. Relativ häufig sind dagegen leichte Erhöhungen des Plasmahomocysteins – inbesondere bei Patienten mit vorzeitiger Gefässerkrankung (s. dazu Tabelle 1).
Homocystein als kardiovaskulärer Risikofaktor
Studien an Tiermodellen haben gezeigt, dass erhöhte Homocysteinwerte mit steigendem oxidativem Stress (1), einer gestörten Endothelfunktion (2, 3) und erhöhter Thrombogenität (3) einhergehen, die gemeinsam die Atherosklerose fördern (4). Obwohl Querschnitt- sowie Fallkontrollstudien einen Zusammenhang zwischen Homocystein-Plasmakonzentrationen und dem Ausmass von Carotiskoronaren und peripheren Gefässerkrankungen (5–7) gezeigt haben, muss betont werden, dass die in diesen Studien gemessenen Variablen nur ein indirektes Mass für kardiovaskuläre Erkrankungen sind. Homocystein gilt jedoch als erwiesener Risikofaktor für Herz-Kreislauf- und zere-
brovaskuläre Erkrankungen; es kann sowohl atherogene als auch thrombogene Wirkungen haben. Die Folgen einer moderaten Hyperhomocysteinämie sind eine Verdickung der Gefässwandintima, eine Proliferation der glatten Muskelzellen, eine Beeinträchtigung der endothelabhängigen Vasodilatation, die Aktivierung von Leukozyten und Thrombozyten, die Aktivierung der plasmatischen Gerinnung, ein verstärkter oxidativer Stress und eine verstärkte Oxidation von LDL. Die Bedeutung von Homocystein als kardiovaskulärem Risikofaktor wurde in Metaanalysen untersucht (8, 9). Die Abbildung zeigt Daten der Metaanalyse von Boushey et al. (8), die sowohl Nüchtern-Homocysteinwerte als auch Resultate nach einem Methioninladungstest umfasst. Obschon die einzelnen Studien – vor allem jene mit Nüchtern-Homocysteinwerten – nicht alle ein signifikant höheres Risiko bei höheren Homocysteinwerten ergaben, zeigt die Metaanalyse sowohl für die Nüchtern- als auch die Werte im Postmethionintest eine signifikante Zunahme des Risikos mit höheren Homocys-
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Tabelle 1: Mit erhöhten Homocysteinwerten assoziierte Situationen
(CBS = Cystathionin-Beta-Synthase; MTHFR = Methylentetrahydrofolat-Reduktase)
Genetische Stoffwechselstörungen
Vitamin-Mangel
CBS-Mangel
Folsäure-Mangel
MTHFR-Mangel
Vitamin-B12-Mangel
Methionin-Synthase-Mangel Vitamin-B6-Mangel
Cobalamin-Transport-Störungen
Pharmaka
6-Azauridin (CBS) Methotrexat Stickstoffoxid (MS)
Assoziierte Krankheiten
Gefässkrankheiten Neuralrohrdefekte Psoriasis Nierenleiden Rheumatoide Arthritis Malignome
Lebensstil
Nikotin Kaffee Alkohol Soziale Probleme
um 5 µmol/l; der Effekt war unabhängig von den traditionellen Risikofaktoren für koronare Herzkrankheit. Insgesamt zeigen die zahlreichen Studien, dass erhöhte Homocysteinwerte mit einem höheren Risiko für kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Krankheiten vergesellschaftet sind.
Behandlung erhöhter Homocysteinwerte mit Vitamin-B-Komplex
Sowohl Fallkontrollstudien als auch prospektive Studien befürworten eine Assoziation zwischen erhöhten Plasma-Homocysteinkonzentrationen und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (12). Ob allerdings die Senkung von Homocystein durch Folsäure und die Vitamine B6 und B12 mit einer signifikanten Abnahme der vaskulären Ereignisse bei Risikopopulationen einhergeht, bleibt Gegenstand laufender Debatten.
Abbildung: Erste quantitative Analyse von Studien über Homocysteinwerte (nüchtern = F, und nach MethioninLoadingtest = P) und vaskuläre Krankheiten nach Boushey et al. (8)
teinkonzentrationen (Odds Ratio zwischen 2 und 3), und dies sowohl bei koronarer Herzkrankheit als auch bei zerebrovaskulären Erkrankungen sowie bei der peripheren Verschlusskrankheit, bei der sich die deutlichste Zunahme des Risikos ergab. Eine Übersicht über prospektive Schlüsselstudien, die eine Assoziation zwischen Homocystein (HCys) und kardiovaskulärem Risiko belegen, ist in der Tabelle 2 wiedergegeben. In der Glasgow-MONICA-Studie hatte Homocystein einen Effekt auf das kardio-
vaskuläre Risiko, der über die inflammatorischen Marker (Fibrinogen, C-reaktives Protein und Interleukin-6) und die traditionellen Risikofaktoren hinausging. Ein Vergleich der Topquartile der Homocysteinkonzentration mit der Bottomquartile ergab eine Odds Ratio von 2,21 (1,30–3,76) (10). Eine neuere systematische Übersicht und Metaanalyse (11), die 26 Artikel einschloss, zeigte eine 20-prozentige Risikozunahme für koronare Herzkrankheit mit jedem Anstieg des Homocysteinspiegels
Die Evidenz aus klinischen Studien
Von einer Serie grosser prospektiver Studien zur Beantwortung dieser Frage, die insgesamt 52 000 Probanden umfassen sollen (13), sind drei vor Kurzem veröffentlicht worden. In der Studie VitaminIntervention-for-Stroke-Prevention (VISP) (14) wurden 3680 Patienten, die kürzlich einen Schlaganfall gehabt hatten, randomisiert zur Behandlung mit Folsäure, Vitamin B12 und Vitamin B6 entweder mit hohen oder niedrigen Dosen zugewiesen. Obwohl eine dosisabhängige Reduktion der Homocysteinwerte festgestellt wurde, gab es keinen signifikanten klinischen Nutzen im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risiko durch diese Behandlung – weder bei niedrigen noch bei hohen Dosen. Tat-
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Tabelle 2: Übersicht über prospektive Schlüsselstudien
Studie
Physician’s Health
Physician’s Health
Physican’s Health British Regional Heart Study Brit. Reg. Heart Study Rotterdam Study
ARIC MRFIT
North Karelia Project
Teilnehmer
Endpunkte
271 M + 271 Kontr KHK-Tod 333 M + 333 Kontr
123 M und F + 492 Kontr. 107 M + 117 Kontr.
Tödl. u. nicht tödl. MI
Tödl. u. nicht tödl. MI, KHK-Tod Tödl. u. nicht tödl. MI Tödl. u. nicht tödl. KHK
Mittlere Hcys-Konz. (µmol/l)
Fälle
Kontrollen
11,1 10,5
Relatives Risiko (95%-KI)
3,4 (1,3–8,8)
– – 1,7 (0,9–3,3) 12,7 11,3 1,4 (1,16–1,71) 13,7 11,9 2,8 (1,3–5,9)
229 M + 1126 Kontr. 224 M u. F + 533 Kontr.
Tödl. KHK Schlaganfall und MI
13,1 11,8
Schlaganfall 18,4 15,2
MI 17,3
–
232 M u. F + 537 Kontr
93 M mit MI + 186 Kontr. 147 M, die an MI starben + 286 Kontrollen
265 M u. F + 269 Kontr.
Alle koronaren Ereignisse Nicht tödl. MI und KHK Tod
Tödl. und nicht tödl. MI und Schlaganfall
8,9 MI 12,6 KHK Tod 12,8
M 10,0 F 9,6
8,5 MI 13,1 12,7
M 9,82 F 9,2
2,9 (2,04–4,1)
Schlaganfall 2,53 (1,19–5,35) MI 2,43 (1,11–5,35) 1,28 (0,5–3,2)
0,92 (0,55-1,54)
M 1,05 (0,56–1,95) F 1,22 (0,66-2,78)
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Tabelle 3: Zusammenfassung der Schlüsselstudien zur Wirkung der Vitaminsupplementation auf das kardiovaskuläre Risiko
Studie VISP (14)
Teilnehmer
3680 Männer u. Frauen mit kürzlichem Schlaganfall
Behandlung
2,5 mg FS, 25 mg B6, 0,4 mg B12 (hohe Dosis) vs 0,02 mg FS, 0,2 mg B6, 6 µg B12 (niedrige Dosis). Follow-up 24 Monate
Ausgangs-Hcys
13,4 µg/l in beiden Gruppen
NORVIT (15) 3749 Männer u. Frauen mit MI in den letzten 7 Tagen
4 Gruppen:
13,1 µmol/l (A)
A) 0,8 mg FS, 4 mg B6, 0,4 mg B12 12,9 µmol/l (B)
B) 0,8 mg FS, 0,4 mg B12
13,3 µmol/l (C)
C) 40 mg B6
13,2 µmol/l (D)
D) Plazebo
Mittl. Follow-up 40 Monate
HOPE 2 (16)
5522 Männer u. Frauen mit vaskulären Erkrankungen od. Diabetes
2,5 mg FS, 50mg B6 1,0 mg B12 vs. Plazebo Follow-up 60 Mte
µmol 12,2 µmol/l in beiden Gruppen
% Änderung von Hcys Hauptresultate
Nach 1 Mt:↓15% (2,0 µmol/l Dosis). Hohe Dosis vs. ↓2% (0,3 µmol/l) niedrige Dosis. Ende ↓17% (2,3 µmol/l) m. hoher Dosis
Kein sign. Effekt auf prim. Outcome (Stroke) RR 1,0 Kein sign. Effekt auf Kompositendpunkt (Stroke, KHK-Ereignis oder Tod) (RR 1,0)
Nach 2 Mt: A:↓28% (3,7 µmol/l) B:↓26% (3,4 µmol/l) C und D keine Änderung Ende: A↓27% (3,6 mol/l) B↓24% (3,1 µmol/l) C und D keine Änderung
Kein sign. Effekt auf prim. Kompositendpunkt MI, Stroke oder Tod, A, B vs. C, D (RR 1,08, Trend für erhöhtes Risiko A vs. D RR 1,22, p 0,05)
Studienende ↓20% (2,4 µmol/l) vs. ↑6% (0,8 µmol/l)
Kein sign. Effekt auf prim. Kompositendpunkt von kardiovask. Tod, MI oder Stroke (RR 0.95)
sächlich zeigte sich in einer dieser Studien (NORVIT) sogar ein Trend für erhöhtes Risiko bei Patienten, die Folsäure plus Vitamin B12 und B6 erhielten (15). Eine Übersicht über die wichtigsten Studien zur Vitaminsupplementation ist in der Tabelle 3 wiedergegeben. Plasma-Homocysteinwerte werden durch eine breite Palette von Faktoren erhöht (Tabelle 1); ebenso haben Personen mit bereits bestehender Atherosklerose höhere Homocysteinwerte als solche, die davon nicht (oder weniger?) betroffen sind. Solche Faktoren könnten die Ergebnisse der epidemiologischen Studien beeinflusst haben. Darüber hinaus können auch bestimmte Medikamente den Homocysteinspiegel erhöhen – klinische Studien haben dies beispielsweise für Fibrate, Nicotinsäure und Colestipol gezeigt. Solche Wechselwirkungen könnten potenziell eine Verringerung des klinischen Nutzens bewirken.
Schlussfolgerungen
Epidemiologische Beobachtungen einer Assoziation zwischen erhöhten Homocysteinwerten und dem Risiko für HerzKreislauf-Erkrankungen können die Existenz einer kausalen Beziehung nicht
beweisen, da sie einer Reihe von Störfaktoren unterliegen. Darüber hinaus haben klinische Studien wie NORVIT, Visp und HOPE 2 (14–16) gezeigt, dass trotz einer Reduktion der Homocysteinspiegel durch eine Vitaminsupplementierung dennoch kein signifikanter Effekt auf das kardiovaskuläre Risiko nachzuweisen war. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen einer neueren Metaanalyse, die zeigte, dass Folsäure als sekundäre Präventionsstrategie für koronare Herzkrankheit unwirksam ist (17). Die Summe dieser Daten deutet darauf hin, dass Homocystein zwar ein Marker für koronare Herzkrankheit, aber nicht ihre Ursache ist. Ein Routine-Screening und die Behandlung erhöhter Homocysteinspiegel zur Verhinderung der koronaren Herzkrankheit können deshalb nicht empfohlen werden (18). Daten aus laufenden Studien zur genaueren Klärung dieses Problems stehen allerdings noch aus.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen 8253 Diessenhofen E-Mail: wf.riesen@bluewin.ch
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