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EDITORIAL
«Zum Glück gibt es bariatrische Chirurgen …»
In diesem Heft wird ein spannender Überblick über Theorie und Praxis der bariatrischen Chirurgie leicht verdaulich präsentiert – den Autoren sei gedankt. Aus diversen Gründen wurden bestimmte Themen und Aspekte der Bariatrie im wahrsten Sinne des Wortes «gebypasst». Auf jeden bariatrischen Chirurgen warten mehrere tausend Patienten, und das Risiko, ungenügend Arbeit zu haben, ist in dieser Subspezialität der Medizin nicht existent. Die Chirurgie ist ein «solution-oriented» Business, das heisst, die Chirurgie löst ein medizinisches Problem nach Möglichkeit kausal und nachhaltig. Leider kann auch der Chirurg bei der Adipositas nicht kausal handeln. Bei problemlosem Verlauf sind die Resultate der Bariatrie, zum Beispiel die «Heilung» einer diabetischen Stoffwechsellage, eindrücklich. Leider ist der Verlauf nicht immer problemlos. Aufgrund der nicht vernachlässigbaren Iatrogenese und der induzierten Veränderung der intestinalen und systemischen Physiologie braucht es eine lebenslängliche fachmedizinische Nachbetreuung, die allerdings bei der exponentiell wachsenden Zahl an Patienten je länger, je weniger gewährleistet werden kann. Die Bariatrie ist aber auch ein Paradebeispiel einer «symptomatischen Therapie» respektive einer sogenannten «enhancement technology». Je nach Krankheit ist eine rein symptomatische Therapie akzeptabel. Wenn es sich jedoch um eine Pandemie handelt, so wie dies bei Übergewicht und Adipositas sowie deren Folgeerkrankungen der Fall ist, dann brauchen wir eine kausale Therapie. In allen bisherigen Studien legen die Patienten nach Erreichen eines frühen postoperativen Nadirs unterschiedlich schnell an Gewicht zu. In dieser Situation wäre ein «enhancement» durch Lifestyle- und andere Massnahmen unabdingbar. In einer Reboundsituation sind jedoch viele Patienten leider überfordert, und so kommt der Chirurg wieder zum Zug: Distalisierung der Anastomose. Die Radikalität und (zumindest theoretische) «Irreversibilität» der bariatrischen Eingriffe sollte dem Patienten und auch der Gesellschaft als Vorbild dienen: ohne radikale, konsequent umgesetzte Präventionsmassnahmen auf persönli-
cher und gesellschaftlicher Ebene geht es nicht. Enhancement wäre im wahrsten Sinne des Wortes angezeigt. Es bleibt zu hoffen, dass die Innovation, Radikalität und auch eine gewisse Penetranz (i.e. vom «einfachen» Magenband zu «metabolic surgery») der bariatrischen Chirurgie auch in der Prävention Nachahmer finden. Wie vor kurzem an einer Antrittsvorlesung an der Medizinischen Fakultät in Zürich rufen mittlerweile auch Chirurgen nach effizienter Prävention. Leider war kein Politiker in der Aula. Dass morbide Adipositas eine Krankheit darstellt, wird von niemandem bezweifelt. Normal ist, was die Mehrheit macht (oder zumindest denkt). Entspricht jemand nicht der Normalität, ist das Risiko der «Krankheit» (und der konsekutiven Fachtherapie) hoch. Wo die Normalität beim BMI aufhört (und somit Krankheit beginnt), wird kontrovers diskutiert. Viele unserer 35er-BMI-Patienten «bedanken sich» zu Recht, als «krank» abgestempelt zu werden. Wie die Adipositas und bereits auch Übergewicht zur Krankheit wurden, soll hier nicht diskutiert werden. Mit Sicherheit steht fest, dass ein postbariatrischer Patient – unabhängig von seinem BMI – «krank» geworden ist, respektive gemacht wurde, da die normale Anatomie und Physiologie der Iatrogenese zum Opfer gefallen ist. Sein Blutzucker ist normal, trotzdem ist er krank. Die Zulassungskriterien zur Operation sind im Fluss, und seit dem 1. Januar 2011 ist die BMI-Operationsindikation um 5-BMI-Einheiten nach unten gerutscht. In den USA werden seit Anfang Jahr Magenbänder bereits ab einem BMI von 30 kg/m2 eingepflanzt. Bedenkliche Trends. Verschiedentlich werden bariatrische Verfahren auch bereits für nur leicht übergewichtige Typ-2-Diabetiker als die Therapieform propagiert. Die Medizingeschichte zeigt, dass zwischen der Kommerzialität eines Therapieverfahrens und der Höhe eines Normwertes (z.B. Cholesterin) eine direkte inverse Be-
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ziehung besteht. Für die Bariatrie trifft dies selbstverständlich nicht zu, und jeder Leser kann sich diesbezüglich selbst ein Bild machen. Das Einschlusskriterium «2 Jahre erfolglose adäquate Gewichtstherapie» erinnert an «1001 Nacht», zumal das Einhalten eines täglichen Defizits der Energiezufuhr von zum Beispiel 500 kcal (was für einen BMI von z.B. 35 kg/m2 nur einen Bruchteil des Tagesbedarfs darstellen würde, wo jeder noch viel essen dürfte) während 2 Jahren in einem Gewichtsverlust von über 50 kg resultieren würde (der erwähnte Modellpatient hätte sogar ein ernsthaftes Risiko der Untergewichtigkeit). Ein aktueller Vergleich: Ein Antihypertensivum wirkt auch nur, wenn man es schluckt, und ähnlich brauchen nicht alle schwer einstellbaren Hypertoniker eine Ablation der Nierennerven. Ein erfolgreiches Umsetzen energiedefizitärer Massnahmen ist mitunter eine Voraussetzung für den nachhaltigen Erfolg der Bariatrie. Vielen Patienten gelingt dies trotz veränderter «gut-brain axis» nicht. Das Zulassungskriterium «2 Jahre erfolglose adäquate Gewichtstherapie» sollte also vielmehr eine Kontraindikation für den Eingriff sein, da der Langzeiterfolg – nicht nur hinsichtlich des Körpergewichts – gerade von diesem Kriterium abhängt. Ebenfalls nach Absurdistan gehört der Umstand, dass zwar eine Operation, nicht aber die Nährstoffsupplemente zur Korrektur der iatrogenen Malnutrition von den Krankenkassen übernommen wird. Die Liste der Anekdoten ist lang und musste hier gebypasst werden. Es bleibt zu hoffen, dass die bariatrische Forschung dazu beiträgt, sich selbst überflüssig zu machen. Die hochgeschätzten bariatrischen Kollegen brauchen mir jedoch diese Bemerkung nicht übel zu nehmen, zumal letzterer Umstand nie eintreten wird. Diskussionslos wird die bariatrische Forschung weiterhin viele faszinierende neue Einblicke in die Physiologie der Appetitregulation ermöglichen und allenfalls neue pharmakologische Angriffspunkte identifizieren.
Eine nebenwirkungsfreie Lösung für die Gewichtsproblematik wird aber auch dadurch kaum gefunden, da die Evolution weder durch eine Operation noch durch eine Pille «überholt» werden kann. Die Nahrungszufuhr ist für das Überleben zu wichtig, als dass diese durch unimodale Massnahmen in relevanter Weise moduliert werden könnte. Die Regulation der Nahrungszufuhr ist – zum Glück – ein redundantes System, sonst wäre die Menschheit schon lange durch Verhungern eliminiert worden. Last but not least müssen und dürfen wir zum aktuellen Zeitpunkt sagen: «Zum Glück gibt es die bariatrisch tätigen Chirurgen» (Zitat eines erfolgreichen Patienten aus der Adipositassprechstunde der Medizinischen Poliklinik). Die Bariatrie ist für viele morbid-adipöse Patienten die einzige Therapie mit Erfolgspotenzial, und den Chirurgen sei mehr als gedankt. Was Mediziner, Pharmakologen und Endokrinologen seit Dekaden versuchen, gelingt den Chirurgen in einer einzigen mittlerweile nicht mehr sehr langen Operation. Mit innovativen neuen Operationstechniken im Sinne der «metabolic surgery» gelingt es eventuell in nicht zu ferner Zukunft, durch Minimaleingriffe auf dem Niveau des Darms das Hirn und so die Energiezufuhr und auch das Essverhalten günstig zu beeinflussen. Die Forschungsresultate, wie auch in diesem Heft mehrmals erwähnt, sind vielversprechend. Falls die Bariater die Lösung – wie viele vor ihnen – nicht finden sollten, gibt es ja zum Glück immer noch die Neurochirurgen, die die Adipositas schon vor den Viszeralchirurgen entdeckt haben (z.B. Elektrokoagulation oder «deep brain stimulation» zur Appetitregulation). In diesem Sinne wünsche ich eine spannende Lektüre.
Prof. Paolo M. Suter Klinik und Poliklinik für Innere Medizin
Universitätsspital Rämistrasse 100, 8091 Zürich
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