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BARIATRIE
Störungen des Essverhaltens und psychologische Dysfunktionen im Kontext mit der bariatrischen Chirurgie
VITTORIO GIUSTI*
Trotz der wachsenden Verbreitung der Adipositas verfügen wir heute über keinerlei konservative Therapiemöglichkeiten. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass diätetische Massnahmen, Medikamente und/oder Verhaltenstherapie in der Betreuung adipöser Patienten kurz- und insbesondere langfristig unzureichend sind. Tatsächlich weisen 75 Prozent der Patienten bereits ein Jahr nach der Behandlung und etwa 90 Prozent zwei Jahre später wieder ihr Ausgangsgewicht auf (1–4). Die zunehmende Prävalenz und der wachsende Schweregrad der Adipositas, das Versagen konservativer Massnahmen und die Forderung nach einer langfristig wirksamen Lösung haben dazu geführt, dass den chirurgischen Verfahren inzwischen eine wachsende Bedeutung in der Adipositastherapie zukommt (5, 6). Der nachfolgende Beitrag beschreibt die Notwendigkeit einer intensiven Abklärung und Beratung des Patienten vor bariatrischen Eingriffen durch ein kompetentes multidisziplinäres Team, in dem auch der Psychologe/Psychiater eine wichtige Rolle spielt.
Die bariatrische Chirurgie ist derzeit die einzig wirksame Therapiemöglichkeit bei Adipositas, die – was sowohl den Gewichtsverlust als auch die Verbesserung der Komorbiditäten und der Lebensqualität angeht – auch längerfristig erfolgreich zu sein scheint. In zahlreichen Studien hat sich zudem gezeigt, dass dieses chirurgische Verfahren nicht nur eine wirksame, sondern auch eine adäquate und wirtschaftlich vernünftige Behandlungsmöglichkeit darstellt (7–13). Dazu kommt, dass seit Januar dieses Jahres die Versicherungskriterien eine grundlegende Veränderung erfahren haben. Jetzt können Patienten mit einem BMI ≥ 35 kg/m2 ohne Komorbiditäten und ohne Altersgrenze in den Genuss eines chirurgischen Eingriffs kommen, und zwar ohne vorherige Genehmigung des Vertrauensarztes der betroffenen Krankenkasse.
*Service d’endocrinologie, diabétologie et métabolisme. Consultation d’obésité et des troubles du comportement alimentaire
Die Auswahl und die Vorbereitung zur Operation der für eine solche Behandlung infrage kommenden potenziellen Kandidaten werden in Zukunft eine immer grössere Rolle spielen, um postoperative Komplikationen und operative Misserfolge zu vermeiden, denn dieser Eingriff ist beileibe nicht harmlos. Für die Behandlung der morbiden Adipositas ist also häufig der Chirurg zuständig, auch wenn die Auswahl, die Vorbereitung und die Nachsorge der infrage kommenden Patienten in den Zuständigkeitsbereich eines multidisziplinären Teams gehören, in dem der Psychiater/Psychologe eine führende Rolle spielt (14).
Störungen des Essverhaltens
In den meisten Fällen weist der morbidadipöse Patient eine komplexe Persönlichkeitsstruktur auf. Er leidet nicht nur unter Stoffwechsel- und kardiovaskulären Komplikationen, sondern auch unter Störungen des Essverhaltens, unter psychologischen Problemen oder gegebe-
nenfalls sogar unter psychiatrischen Störungen. Mehr als 40 Prozent der Patienten mit BMI ≥ 35 kg/m2 zeigen eine Hyperphagie vom bulimischen Typ (15), während über 50 Prozent aller adipösen Patienten nicht weiter spezifizierte Störungen wie zwanghaften Heisshunger oder Knabbersucht an den Tag legen (16). Gewöhnlich haben solche Patienten, die sich wegen eines bariatrischen Eingriffs beraten lassen, bereits zahllose Diäten hinter sich, die stets zu einer weiteren Gewichtzunahme führten. Der Misserfolg konservativer Therapiemassnahmen weist auf vorhandene Störungen des Essverhaltens hin. In der Tat beruht die progressive Gewichtszunahme bei diesen Patienten nicht auf einem Diätproblem, sondern auf der verloren gegangenen Kontrolle der Nahrungsaufnahme und der Unfähigkeit, sich an Verhaltensregeln zu halten. Es handelt sich um ein echtes, auf die Nahrung konzentriertes Suchtverhalten, das dann ausgelebt wird, wenn psycholo-
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gisch schwierige Situationen kompensiert werden müssen. Eine der relativ häufigen Kontraindikationen, die bei der präoperativen Abklärung auffällt, ist das Vorhandensein einer ernsthaften Essstörung. Diese kann sich in zwanghafter Knabbersucht oder in Bulimiekrisen (gemäss DSM-IV) äussern. Die Intensität solcher Krisen kann mittel bis stark sein, gemäss dem Schweregrad des Leids und dessen negativen Auswirkungen. Störungen des Essverhaltens stellen eine relative Kontraindikation dar, da – besonders nach Magenbandoperationen – die Gefahr besteht, dass der Gewichtsverlust verhindert und die Nahrungstoleranz auf den blossen Eingriff beschränkt wird. Tatsächlich lassen sich durch eine Magenbandoperation oder den Magenbypass Appetit und Hunger signifikant einschränken und ein rasches Sättigungsund Völlegefühl erzeugen. Die Auswirkung des Eingriffs geht so weit, dass der Patient in gewissen Fällen nicht mehr isst, weil ihm der Appetit vergangen ist. Dies hängt mit der Grösse des Magen-Pouches zusammen, dessen Fassungsvermögen nur etwa 15 ml beträgt. Patienten mit Essstörungen essen jedoch leider selten weil sie Appetit haben, sondern oft aus purer Lust. Diese Essenslust hat freilich nichts zu tun mit dem physiologischen Sättigungs- und Völlegefühl; es handelt sich vielmehr um ein rein psychologisches Bedürfnis, besonders wenn es zwanghafte Züge annimmt. Die Operation selbst hat selbstverständlich keinerlei Wirkung auf dieses Essverhalten, da es durch einen psychologisch begründeten Verlust der Esskontrolle gekennzeichnet ist. Patienten mit solchen Verhaltensstörungen können die Auswirkungen des Eingriffs zunichte machen, wenn sie tagsüber ständig kleine Mengen an Nahrung verzehren. Zudem wird die für solche Patienten typische überstürzte Nahrungsaufnahme nach dem Mageneingriff in der Regel schlecht toleriert und führt häufig zu Erbrechen. Eine präoperative Behandlung der Essstörungen ist daher unerlässlich, um Komplikationen vorzubeugen, die häufig nur durch einen erneuten Eingriff bereinigt werden können.
Psychologisches Profil
Der adipöse Patient ist ein sehr empfindlicher, sensibler Patient, der ein spezifisches psychologisches Profil aufweist. Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass adipöse Patienten oft psychologische Komorbiditäten aufweisen. Depression, Angstgefühle, Mangel an Selbstbewusstsein und das Fehlen jeglichen Selbstwertes kennzeichnen weit mehr als die Hälfte der Patienten, die sich zur Operation anmelden (17). Fest steht, dass sich durch den raschen Gewichtsverlust und die durch das Operationsverfahren bedingte Nahrungseinschränkung ein Wechsel des eigenen Körperbildes vollzieht, der zu einer Dekompensierung oder einem erneuten Auftreten der psychologischen Dysfunktionen führen kann, was das gute Resultat der Chirurgie kompromittieren würde (18). Es ist daher wichtig, sich vorgängig intensiv mit dem Profil des Patienten zu beschäftigen (19). Die bariatrische Chirurgie fordert vom Patienten zwei rasche und wichtige Umstellungen: • die Änderung des Esssverhaltens • die Veränderung des Körperbildes. Nach der Operation hängen die häufigsten psychologischen Krisen mit der Erwartungshaltung des Patienten, der Veränderung des Körperbildes, den Familienbeziehungen, den sozialen Kontakten, der wechselnden Stimmungslage, dem Sexualverhalten und dem Essverhalten zusammen. Letzterem kommt eine besondere Bedeutung zu. Die durch das Operationsverfahren ausgelöste Nahrungseinschränkung kann eventuell Frust- und Schuldgefühle steigern, was Kompensationsmechanismen anheizen kann. Die bariatische Chirurgie verändert die physiologischen Mechanismen der Nahrungsaufnahme in signifikanter Weise, vor allem durch das verminderte Hungerund Appetitgefühl und die rasch auftretenden Sättigungs- und Völlegefühle. Der Eingriff hat keinerlei Auswirkung auf die psychologische Situation, die der zwanghaften Nahrungsaufnahme zugrunde liegt, er kann sie eher noch verschärfen. Die Information über die Auswirkungen der Operation, die psychologische Vorbe-
reitung und die vorgängige Behandlung der Essstörungen sind daher unerlässlich, um schwer zu lösende Situationen und in manchen Fällen einen erneuten Eingriff zu vermeiden.
Präoperativ notwendige psychologische Aufklärung
Ziel der Operation ist es, den Patienten am Essen zu hindern. Es ist schon seltsam, dass dieser Eingriff Patienten vorgeschlagen wird, die prinzipiell gewohnt sind, riesige Mengen an Nahrung zu vertilgen. Somit ist klar, dass der Eingriff nicht eine blosse technische Handlung darstellt, sondern vielmehr umfassende Änderungen des Verhaltens und der Psyche impliziert. Die chirurgische Behandlung der Adipositas soll in allen Fällen auf einer bewussten und wohlüberlegten Wahl des Patienten beruhen, der vor seiner Entscheidung vollumfänglich über Nutzen und Nachteile der Operation informiert sein muss. Die präoperative Aufklärung umfasst die technischen Vorgänge beim Eingriff und deren Auswirkungen auf Ernährung, Stoffwechsel, Nahrungsaufnahme und Psyche. Dafür sollte idealerweise ein multidisziplinäres Team aus den Bereichen Endokrinologie, Ernährungsberatung, Psychologie und Viszeralchirurgie zur Verfügung stehen, damit dem Patienten das gesamte Fachwissen zur Verfügung steht, offene Fragen kompetent beantwortet und Zweifel und/oder Besorgnisse diskutiert werden können. Diese vorbereitenden Gespräche mit dem Patienten können individuell oder in der Gruppe erfolgen. Die psychologischen Auswirkungen des Eingriffs werden neutral und unpersönlich dargestellt, möglichst unter Verwendung von bildlichen Darstellungen und Metaphern (20). Präoperative Erwartungen: Die Adipositas geht oft mit zahlreichen Begleiterkrankungen einher (Fibromyalgie, Gelenkschmerzen usw.), aber auch mit einem sozialen Rückzug im beruflichen (Arbeitslosigkeit, Fehlen eines Freundeskreises, materielle Schwierigkeiten usw.) und persönlichen Bereich (keine Partnerschaft, Mangel an Sex usw.). Obwohl der
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postoperativ üblicherweise signifikante Gewichtsverlust manchen dieser Aspekte wesentlich verbessert, lässt sich nicht garantieren, dass damit plötzlich alle Probleme gelöst sind. Dennoch erwartet der Patient vom Ausgang der Operation häufig die Lösung all seiner Probleme; gelegentlich betrachtet er den Eingriff sogar als eine Art Jungbrunnen. In der Vorstellung des Patienten wird die Operation dann zu einem Zauberwerk, das wahre Wunder vollbringt. Falls der Patient solch unrealistische Erwartungen hegt, kann das globale Resultat nur enttäuschend ausfallen – unabhängig vom Gewichtsverlust. Änderung des Körperbildes: Der rasche und tief greifende Gewichtsverlust bewirkt eine Diskrepanz zwischen dem verinnerlichten Körperbild und dem realen Körper nach dem Eingriff. Dies kann den Patienten destabilisieren, vor allem wenn er seit seiner Kindheit mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte. Der Verlust körperlicher Bezugspunkte und das Fehlen eines inneren Modells führen oft zu einem Unbehagen, als ob man sich in einem fremden Körper wiederfände, nach dem Motto: «Das bin nicht ich.» Es ist daher wesentlich, entsprechende Risikopatienten zu erkennen und deren körperliche Veränderung so vorzubereiten, dass die Projektionen in den neuen Körper erleichtert werden und der Patient ihn sich wieder ohne grössere Probleme aneignen kann. Stimmungsumschwung: Trotz allen negativen Auswirkungen stellt die Adipositas häufig eine Barriere, eine Art Schutz dar, wodurch andere Menschen auf Abstand gehalten werden können. Der rasche Abbau dieser Barriere kann zu einer emotionalen Empfindsamkeit führen, verbunden mit Ängsten und Launenhaftigkeit oder gar Depressionen. In anderen Fällen dagegen bewirkt die Entdeckung des neuen Körpers eine Euphorie, die sich in übertriebenen Verhaltensweisen äussert: «Ich muss die Jahre nachholen, die ich versäumt habe.» Aber auch die Erschwernis der Nahrungsrestriktion und des veränderten Essverhaltens können Depression und/oder Reizbarkeit auslösen.
Familiäre Beziehungen: Zwar betrifft der Eingriff in erster Linie den Patienten, dennoch ist auch seine Familie betroffen, die aufgerufen wird, die postoperativen Veränderungen mitzutragen. Die Familie sollte daher im Vorfeld informiert werden, um herauszufinden, ob sie gewillt ist, den Patienten zu unterstützen und den Eingriff als solchen zu akzeptieren. Die familiäre Unterstützung hilft, mögliche Anpassungsschwierigkeiten zu überwinden, während die Ablehnung des geplanten Eingriffs den Stress des Patienten verstärkt und die postoperative Anpassungsphase belastet. Soziale Kontakte: Die Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes gehen rasch und umfassend vor sich und sind darum sehr auffällig. Die Blicke der Umwelt verändern sich, was zu einer Neugestaltung der sozialen Interaktionen führt, mit allem, was dazu gehört: Verführung, Rivalität, Eifersucht, Rache, Geltendmachung von Ansprüchen. Dies kann die Patienten destabilisieren, da die rasch erfolgten körperlichen Veränderungen meist nicht mit dem inneren Veränderungsprozess Schritt halten. Der Patient empfindet sich ja zunächst noch immer als derselbe, und doch muss er sich auf eine veränderte Haltung der Umwelt ihm gegenüber gefasst machen. Sexualleben: Die körperliche Veränderung infolge des Gewichtsverlustes verändert auch die Beziehung zum Partner. In der Partnerschaft kann es Schwierigkeiten geben, den ehemals fettleibigen Partner in seiner veränderten Gestalt zu akzeptieren. Dies kann von Eifersuchtsgefühlen bis zur Befangenheit gegenüber
neuen sexuellen Forderungen reichen oder bis zur Ablehnung der ästhetischen Beeinträchtigung. Andererseits kann der Patient mit seinem neuen Selbstwertgefühl und seinen neuen Bedürfnissen durchaus den Wunsch haben, neue sexuelle Erfahrungen zu machen und/oder einen Partnerwechsel vorzunehmen. In gewissen Fällen diente das Übergewicht als Deckmantel ernsthafter Eheprobleme. Essstörungen (ES): Wenn die Hauptkomponente des Übergewichts eine Essstörung ist, muss die notwendige Behandlung vor dem bariatrischen Eingriff stattfinden. Da die Chirurgie die zwanghafte Nahrungsaufnahme in keiner Weise beeinflusst oder verändert, wird das Ergebnis der Operation bald infrage gestellt. Es ist also unerlässlich, den Patienten mit dieser Realität vertraut zu machen und ihm die Bedeutung der ES für das potenzielle Versagen der Chirurgie nahezubringen. Der Operationskandidat muss vor dem Eingriff lernen, seinen Hang zu Zwangshandlungen in den Griff zu bekommen, um alle Chancen eines gelungenen Gewichtsrückgangs auch zu seinen Gunsten zu nutzen. Am Ende der Aufklärung wird jeder Patient eingeladen, den Kursinhalt im Rahmen individueller Beratung neu zu diskutieren, wobei auf seine persönlichen Voraussetzungen eingegangen wird. Dank der präoperativen Diskussion über die Folgen des Eingriffs kann der Patient mögliche Schwierigkeiten voraussehen und mithilfe der Therapeuten passende Strategien zur Vorbereitung und/oder für den postoperativen Follow-up entwickeln.
Tabelle 1: Die präoperative psychiatrische Abklärung erfolgt anlässlich eines strukturierten Gesprächs, in dem die wichtigsten persönlichen Merkmale aus dem früheren und heutigen Leben
des Patienten zusammengefasst werden.
Bildung • Schulzeit • Berufsausbildung • mentale Fähigkeiten
Soziale und familiäre Beziehungen • familiäre Beziehung • soziale Integration früher • und heute
Psychologischer Status • psychologische Anamnese • aktueller psychischer Status • psychiatrische Diagnostik • Organisation der Persönlichkeit
Einstellung zur Krankheit • frühere Behandlungen wegen Übergewicht • Motivation zur Operation • Erwartungen realistisch/unrealistisch • fähig, Schwierigkeiten einzuschätzen • fähig zur Zusammenarbeit mit dem Arzt
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Präoperative psychologische Bewertung
Die präoperative psychiatrische Bewertung ist zwar Pflicht, doch dient sie leider manchmal nur dem Zweck, absolute Kontraindikationen aufzuspüren, wie Trunksucht oder andere Abhängigkeiten sowie instabile psychiatrische Erkrankungen. Auf der anderen Seite sind diese Bewertungen essenziell, um notwendige präund postoperative Behandlungen zu identifizieren (Vorbereitung und Therapiebegleitung), die man dem Patienten vorschlagen sollte, um ein optimales Behandlungsresultat zu gewährleisten (21). Obwohl dem Psychiater (bzw. dem Psychologen) keine Entscheidungsbefugnis zusteht, ist seine Bewertung keine reine Formsache – im Gegenteil: sie spielt bei der Planung der Operationsvorbereitung und der Nachsorge für den Patienten eine entscheidende Rolle. Die endgültige Entscheidung zum operativen Eingriff ist Sache des multidisziplinären Teams, das die psychologischen und sozialen Aspekte ebenso zu berücksichtigen hat wie die biologischen und klinischen Parameter. Ziel der Bewertung ist es, Ressourcen und Schwächen eines Patienten im Gesamtkontext seiner aktuellen psychologischen und sozialen Situation herauszustellen. Die Bewertung gipfelt in einer Prognose über die Kompatibilität zwischen dem psychologischen Gleichgewicht des Patienten und dem chirurgischen Eingriff und seiner Konsequenzen. Die psychiatrische beziehungweise psychologische Bewertung findet während eines strukturierten Gesprächs unter Berücksichtigung der verschiedenen vergangenen und jetzigen Entwicklungsachsen des Patienten statt (Tabelle 1):
Kognitiv: Schulbildung, Berufsausbildung, Berufsbranche, kognitive Leistungen. Psychologisch, psychiatrisch: psychiatrische Anamnese (möglicher Spitalaufenthalt), psychologische Anamnese (Beratungen), gegenwärtiger psychischer Status (gegenwärtige psychiatrische Symptome, Kommunikations- und Interaktionstyp während des Gesprächs, psychiatrische Diagnose gemäss CIM-10 und Diagnose der Funktionsfähigkeit der Persönlichkeit). Soziale Beziehungen: Typ der Familienbeziehung (affektiver Mangel in der Kindheit, gegenwärtige Familienkonflikte), soziale Integration in der Kindheit, der Jugend, bei Beginn des Erwachsenenalters und heute. Einstellung zur Krankheit und zur Operation: bisherige Adipositastherapien und deren Resultate, klare Motivation zugunsten der Operation, realistische oder unrealistische Erwartungen gegenüber der Operation, Bereitschaft, die mit der Operation verbundenen Schwierigkeiten und den Frust vorauszusehen (insbesondere die Nahrungseinschränkungen), Fähigkeit der Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt im Hinblick auf die Notwendigkeit eines regelmässigen postoperativen Follow-ups, Meinung und Einstellung der Angehörigen. Aufgrund dieser Bewertung werden Hypothesen zur Fähigkeit des Patienten aufgestellt, mit den Veränderungen, Zwängen und Ängsten klarzukommen, die mit der Operation verbunden sind. Bei Vorliegen formeller Kontraindikationen wie einem floriden psychotischen Zustand oder einer Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen (Drogen, Al-
Tabelle 2: Ziel der Evaluation ist es, die Ressourcen und Sensibilitäten des Patienten in seiner aktuellen psychischen und sozialen Persönlichkeitsstruktur zu definieren und so mögliche absolute
und relative Kontraindikationen zu identifizieren.
Absolute Kontraindikation • Suchterkrankungen (z.B. Alkohol) • florider psychotischer Zustand
Relative Kontraindikation • Essstörungen • instabile Depressionen
Vorgehen: Unstabile psychotische Zustände sowie Alkohol- oder Drogenabhängigkeiten sollten vor dem geplanten Eingriff behandelt werden.
Vorgehen: Ratsam ist eine psychotherapeutische Intervention, damit der geplante Eingriff in besserer Verfassung erfolgen kann.
kohol) wird der Operationstermin verschoben und eine psychiatrische Betreuung angeraten, um den psychischen Zustand des Patienten zu verbessern und eine Neubewertung der Indikation zur Gastroplastik zu ermöglichen. Ebenso verfährt man, wenn auch nicht so absolut, bei Vorliegen relativer Kontraindikationen, wie beispielsweise einer nicht stabilisierten Psychose, einer ernsthaften Störung des Essverhaltens, einer unklaren Motivation oder zu hohen Erwartungen, einer Familie, die sich gegen die Operation stellt oder einer kürzlich erfolgten tief greifenden Änderung der Lebensverhältnisse (z.B. Scheidung, Trauerfall, Krankheit). Bestehen ein oder mehrere solche Risikofaktoren, schlagen wir vor, eine Lebensänderung in die Wege zu leiten, die die anfallende Problematik vor der Operation zumindest stabilisiert. Parallel zu der Bewertungsfunktion läuft also auch eine therapeutische Orientierung (Tabelle 2). Einerseits erfahren diese Patienten hier oft zum ersten Mal, dass ihr Problem eine psychologische Dimension hat. In dieser Atmosphäre der Offenheit und des Verständnisses fühlt sich der Patient durch den Psychiater oder Psychologen beruhigt, was einer eventuellen postoperativen Unterstützung förderlich sein kann. Andererseits wird der Patient während des Gesprächs für die postoperativen psychologischen Schwierigkeiten sensibilisiert. Weitere Mitarbeiter der betreffenden Abteilung sorgen für die entsprechende Sensibilisierung, auch im Rahmen der interdisziplinären Vorbereitungskurse für den geplanten Eingriff. Postoperativ benötigen etwa 5 bis 10 Prozent der Patienten psychologische Unterstützung, die teilweise während der Konsultation erfolgen kann. Zu den wichtigsten auftretenden Problemen gehören Depression, Nahrungsmittelphobie aufgrund eines körperlichen Problems, Ehezwist und die Störung des Körperbildes. Allerdings ist es Patienten nicht immer möglich, unterschwellige psychische Probleme zu erkennen. Während des präoperativen psychiatrischen Gesprächs ergibt sich oft, dass Beziehungsprobleme und solche affektiver
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Abbildung: Die Evaluation und die präoperative psychologische Abklärung erfolgt in verschiedenen Etappen, die je nach der Verfassung des jeweiligen Patienten 6 bis 12 Monate dauern können, bevor der Eingriff stattfinden kann.
Prägung zu Tage treten, dennoch kommt es selten zu Anfragen wegen psychotherapeutischer Behandlung (22).
Vorbereitung und Nachsorge
Bei der Betreuung vor und/oder nach dem Eingriff stehen vor allem drei Probleme im Vordergrund: Essstörungen, depressive Zustände und Ängste wegen der Veränderungen des Körperbildes. Die vorgängige Behandlung der ES ist unerlässlich, will man vermeiden, dass der chirurgische Eingriff enttäuschende Resultate zeitigt. Drei Parameter dienen dabei zur Bestimmung der therapeutischen Strategie: das Ausmass der ES, die Motivation des Patienten und seine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Am schwierigsten, wenn nicht unmöglich, ist es, Patienten, die ein rasches Prozedere wünschen, von einem Verhaltenstraining zu überzeugen, das mehrere Monate in Anspruch nehmen kann. Bestehen ernsthafte Störungen wie eine Hyperphagie vom bulimischen Typ, so ist eine spezifische Betreuung – zum Beispiel eine kognitive Verhaltenstherapie – unbedingt erforderlich. Lehnt der Patient dies ab und beharrt auf seinem Wunsch nach einer Operation, so heisst es, bei unserem Entscheid zu beharren und falls notwendig den Schritt zur Operation zu verweigern. Was weniger schwerwiegende Störungen angeht, so ist beim Fehlen einer Motivation eine Behandlung ad minima zu erwägen, wobei die Fähigkeiten des Patienten zur Selbsterkenntnis und Analyse zu berücksichtigen sind. Diese Therapie setzt
sich vor allem zum Ziel, die Rolle des zwanghaften Essens in der Gewichtszunahme zu verstehen, um den Patienten klar zu machen, wie wichtig dessen Behandlung ist. Falls der Patient dennoch keine Vorbehandlung wünscht, wird er zumindest imstande sein, sein zwanghaftes Essen bei postoperativer Gewichtszunahme frühzeitig zu erkennen, und somit rasch um Hilfe bitten können. Gemäss der gängigen Literatur leiden bis zu 70 Prozent der Patienten, die einen bariatrischen Eingriff wünschen, unter depressiven Zuständen. Falls diese psychologischen Dysfunktionen schwerwiegend oder nicht stabilisiert sind, wird eine präoperative Therapie erforderlich, um die Situation vor dem Eingriff zu stabilisieren und einer möglichen Verschlechterung in der postoperativen Phase vorzubeugen. Die Betreuung wird nach der Operation fortgesetzt, um die emotionalen Anpassungen zu begünstigen, die die nach der Operation erfolgten Veränderungen notwendig machen. Die präoperative psychologische Bewertung soll die empfindlichsten und veränderungsscheuesten Patienten heraussieben, vor allem solche, bei denen Veränderungen des Körperbildes dem Verlust einer Schutzfunktion gleichkommen. Für solche Patienten ist eine postoperative Betreuung oft unbedingt erforderlich, um sie während der beschleunigten Veränderungsphase, gewöhnlich zwischen 6 und 18 Monaten, zu begleiten, ohne dass sie Gefahr laufen, emotional zu stark gefordert zu werden. Idealerweise soll der Therapeut schon vor
der Operation in Zusammenarbeit mit dem Patienten Bezugspunkte identifizieren und festlegen (ein bestimmtes Zielgewicht, Verlegenheit angesichts der Blicke der Umwelt, Reizbarkeit, Einschränkung sozialer Kontakte), als potenzielle Signale für ein erhöhtes Dekompensationsrisiko. Diese Strategie ermöglicht es dem Patienten, rechtzeitig um Hilfe zu bitten und in kürzester Frist die notwendige Betreuung in die Wege zu leiten.
Schlussfolgerungen
Die Betreuung adipöser Patienten ist eine komplexe Aufgabe, die den Einsatz eines multidisziplinären Teams erfordert, wobei dem Psychologen eine bedeutsame Rolle zukommt. Die psychologische Bewertung der operativen Indikation, die Vorbereitung und Nachsorge dieser Patienten stellen wichtige Ziele dar, wenn man die Operationsrisiken und die Komplikationen reduzieren und die Toleranz gegenüber der Nahrungsmitteleinschränkung als Folge des chirurgischen Verfahrens verbessern will. In Zusammenhang mit der multidisziplinären Betreuung, bei der die Meinung jedes Spezialisten zählt und eine gesamthafte Evaluation erfolgt, kann das medizinisch-chirurgische Team die kommenden Schwierigkeiten besser berücksichtigen. Der Patient, der den Eingriff wünscht, unterzieht sich also einem langen Bewertungs- und Evolutionsprozess, der ihn auch zu der Erkenntnis animieren soll, dass er gewisse Problemkreise in seinem Leben bisher zu verdrängen suchte. Die verfügbare Zeit ist jedoch sehr begrenzt, so dass die Wirkung einer solchen Intervention als eher bescheiden bezeichnet werden muss. Wichtig ist die Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedern des multidisziplinären Teams, um zu vermeiden, dass der Psychiater instrumentalisiert wird, was weder präventiv noch therapeutisch sinnvoll ist, da sich die präoperative psychiatrische Bewertung so lediglich auf eine positiv gefärbte Ankündigung des chirurgischen Eingriffs beschränkt. Diese Sachlage liefert ein weiteres Argument zugunsten der Anwesenheit eines Psychologen in einer Sprechstunde für Adipositas und Essstörungen: Die psy-
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chologische Dimension der Adipositas wird so während des ganzen Veränderungsprozesses berücksichtigt, sei es auf prä- oder postoperativer Ebene, und nicht nur bei der präoperativen psychiatrischen Bewertung.
Korrespondenzadresse: PD Dr. V. Giusti, MER, Médecin adjoint
CHUV-PMU, Bugnon 44, 1011 Lausanne
Tel. 021-314 06 42, Fax 021-314 06 28
E-Mail: vittorio.giusti@chuv.ch
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