Transkript
Gastroenterologie und Ernährung
Wenn der Darm stört
Funktionelle Darmerkrankungen aus interdisziplinärer Sicht
Funktionelle gastrointestinale Störungen sind in der Praxis wie auch im Klinikalltag häufig. Sie machen in unseren Breitengraden zirka die Hälfte der gastroenterologisch begründeten Konsultationen aus. Die Prävalenz des Reizdarmsyndroms (RDS) in der Bevölkerung liegt bei 10 bis 15 Prozent. Die Tatsache, dass diese Krankheiten lediglich durch Symptome, nicht aber durch objektivierbare strukturelle Befunde definiert sind, führt auf der Patientenseite zuweilen zu Verunsicherung und verleitet den medizinischen Versorger gelegentlich zu eskalierenden medizinischen Abklärungen. Ziel dieses Beitrags ist, im Kontext heutiger somatischer Kenntnisse, die psychischen Faktoren für das Krankheitskonzept zu gewichten und deren Bedeutung hinsichtlich therapeutischer Konsequenzen zu erläutern.
N. Egloff1, R. v. Känel1, J. Gschossmann2, A. Sendensky2, Ch. Beer1
1Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin Inselspital Bern, Universität Bern 2Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie Inselspital Bern, Universität Bern
Spektrum und Schweregrad
funktioneller Darmerkran-
kungen
Funktionelle gastrointestinale Beschwerden sind heterogen bezüglich der anatomischen Manifestierung wie auch des Schweregrads der Symptome. Die Rome-III-Klassifizierung differenziert inzwischen über zwei Dutzend funktionelle gastrointestinale Störungsbilder (1). Für den Alltag in der Praxis ist vor allem die Unterscheidung zwischen transienten stressinduzierten Verdauungstörungen (z.B. Prüfungsdiarrhö) und zu Chronifizierung neigenden funktionellen somatischen Syndromen (z.B. Reizdarmsyndrom) relevant. Liegt der banalen stressinduzierten Verdauungsstörung hauptsächlich eine passagere vegetativmotorische Dysregulation zugrunde, kommen beim etablierten Reizdarmsyndrom perzeptiv-sensorische Mechanismen hinzu, welche zusätzlich zu Unwohlsein und Schmerzen führen.
Auch die Funktion der Psyche ist bei den beiden skizzierten Störungsbildern nicht ganz dieselbe: Bei der transienten stressinduzierten Verdauungsstörung können zwar akute psychische Vorgänge ebenfalls eine Rolle als Auslöser spielen (z.B. Stress am Arbeitsplatz, Streit etc.). Beim Reizdarmsyndrom geht die Bedeutung des Psychischen aber über die Funktion eines akuten Stressmodulators hinaus: In Analogie zur Pathophysiologie anderer funktioneller somatischer Syndrome (z.B. Fibromyalgie, chronisches Müdigkeitssyndrom) weist vieles auf eine zusätzliche psychobiografische Schmerzsensibilisierung des ZNS hin. Dies spiegelt sich in der Anamneseerhebung mit zum Beispiel gehäuft vorkommenden emotional negativen Kindheitserlebnissen (pain prone), stressbehafteten Lebensereignissen (action prone) oder psychischen Komorbiditäten wie Depressions- und Angststörungen.
Das Reizdarmsyndrom
Neben der funktionellen Dyspepsie ist das Reizdarmsyndrom (RDS) das am besten bekannte funktionelle
Störungsbild des Gastrointestinaltrakts. Im Folgenden sollen Pathogenesefaktoren und Therapieansätze des RDS detaillierter besprochen werden. War früher das RDS vor allem definiert durch ein gastrointestinales Beschwerdebild in Abwesenheit lokaler organischer Erklärungen (Ausschlussdiagnose), kristallisierte sich innerhalb der letzten zehn Jahre zunehmend ein klarerer Katalog an Positivkriterien für das RDS heraus.
Symptombasiert wird das RDS gemäss Rome-III-Klassifikation derzeit wie folgt definiert: ■ abdominale Schmerzen oder Unwohl-
sein an mindestens drei Tagen pro Monat in den letzen drei Monaten ■ Beginn vor mindestens sechs Monaten ■ Assoziation mit mindestens zwei der drei folgenden Symptome: – Besserung nach Defäkation – Auftreten der Beschwerden assoziiert mit einer Änderung der Stuhlfrequenz oder – Auftreten der Beschwerden assoziiert mit einer Änderung der Stuhlkonsistenz/-form ■ unterstützende Kriterien: – Stuhlfrequenz weniger oder gleich dreimal pro Woche – Stuhlfrequenz mehr als dreimal pro Tag – abnormale Stuhlkonsistenz (hart/ klumpig oder weich/wässerig) – massives Pressen beim Stuhlgang – Gefühl der inkompletten Entleerung, Schleimabgang, Blähungen. Die Abwesenheit somatischer Alarmsymptome (Gewichtsverlust, Blutabgang, Fieber etc.) ist ebenfalls eine notwendige Diagnosebedingung für das RDS. Basierend auf der Art der vorherrschenden Stuhlkonsistenz werden 4 Subtypen des RDS unterschieden: Diarrhötyp, Obstipationstyp, gemischter Typ und unspezifischer Typ.
Genesefaktoren
Es herrscht heute Konsens, dass es sich bei der Entstehung des RDS stets um ein multifaktorielles Zusammenwirken verschiedener biologischer und psychosozialer Einflussgrössen mit Wirkung auf das enterale und zentrale Nervensystem handelt. Wie andere
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Psychische Drucksituation Aktivierung der Stressphysiologie
Psychische Drucksituation Aktivierung der Stressphysiologie
Psychobiografische Disposition (z.B. pain prone)
Zentrale Sensibilisierung
Vegetative Dysbalance
Vegetative Dysbalance
Periphere Senisibilisierung
Darmmotilitätsstörung
Darmmotilitätsstörung
Darmperzeptionssteigerung
Obstipation oder Diarrhö
Abbildung 1: Funktionelle Obstipation oder Diarrhö (einfache gastrointestinale Funktionsstörung)
Obstipation oder Diarrhö, Blähungen und Schmerz Ev. somatische Auslöserereignisse (= Priming, Trigger)
Abbildung 2: Funktionelle Obstipation oder Diarrhö (kompliziertere gastrointestinale Funktionsstörung)
funktionelle somatische Syndrome ist das RDS eine Entität, bei der eine allzu dichotome Unterscheidung zwischen «somatogen» und «psychogen» obsolet wird.
Im Folgenden werden die einzelnen Genesefaktoren erörtert. In der Realität sind diese untereinander multidirektional verflochten. Aus didaktischen Gründen werden sie hier einzeln aufgelistet. Bezogen auf das individuelle Patientenprofil mag die Bedeutung der einzelnen Faktoren unterschiedlich wichtig sein. Für das Formulieren eines individualisierten Therapieprogramms ist das sorgfältige Gewichten und Anpassen dieser einzelnen Faktoren an das jeweilige Patientenprofil eine wichtige ärztliche Massnahme.
Genetische Disposition Die individuelle Anfälligkeit für
funktionelle Darmsymptome ist genetisch-konstitutiv mitbedingt. Eine familiäre Häufung funktioneller Darmsymptome kann durchaus hereditär mitbegründet sein. Genetische Polymorphismen, welche die Zusammensetzung und Funktionalität neuroenteraler Stoffe regulieren, kommen hierbei mitursächlich infrage (2).
Somatische Triggerung Ein Reizdarmsyndrom kann sich
gleichzeitig oder in der Folge einer somatischen gastrointestinalen Erkrankung entwickeln. So ist es beispielsweise keine Seltenheit, dass Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung zusätzlich an einer funktionell bedingten Symptomatik leiden.
Auch ist bekannt, dass das Störungsbild des RDS durch passagere gastrointestinale Infekte ausgelöst werden kann. Diese postinfektiöse Form des
RDS tritt bei bis zu 30 Prozent der Betroffenen nach einer gastrointestinalen Infektion auf. Immunologische Mediatoren können hierbei die lokale neuromuskuläre Darmfunktion beeinflussen. Auch bei dieser postinfektiösen Variante des RDS zeigt sich aber, dass eine neuropsychische Komponente ebenfalls zur Entstehung des Krankheitsbilds beiträgt: So haben epidemiologische Untersuchungen gezeigt, dass die psychophysische Allgemeinverfassung zum Infektionszeitpunkt ein entscheidender Faktor für das Risiko eines RDS ist. Dies ist nicht so erstaunlich, denn einerseits wird über die Cortisolstressachse die inflammatorisch-immunologische Antwort moduliert, andererseits wird mittels des sogenannten antiinflammatorischen Reflexes des N. vagus das lokale inflammatorische Geschehen im Darm entscheidend mitmoduliert (3).
Somatisches Priming Unter somatischem Priming versteht
man die synaptische Prägung des Nervensystems durch wiederholte gleichartige körperliche Erfahrungen wie zum Beispiel Schmerz. Die persönliche Anamnese bezüglich abdominaler Vorerkrankungen von Patienten mit RDS ist dementsprechend häufig sehr eindrücklich. Vielfach sagen Patienten, sie hätten bereits in der Kindheit gehäuft Bauchschmerzen gehabt. Bei bis zu fast einem Drittel der Patienten mit RDS findet man zusätzlich eine Laktoseintoleranz, die ebenfalls einen somatischen Primingfaktor darstellen kann. Bei Patienten mit RDS besteht schliesslich ein statistisch erhöhtes Risiko für chirurgische Abdominaleingriffe. Einerseits spiegelt sich darin möglicherweise die «viszerale Sensibilität» der RDS-Patienten, andererseits stellt die Tatsache wiederholter operativer Ein-
griffe ebenfalls einen Primingfaktor dar, der die neuroplastisch geprägte Schmerzsensibilisierung vorantreiben kann.
Viszerale Sensibilisierung Patienten mit RDS perzeptieren en-
terale Reize viel stärker als Gesunde. Ballondilatationsversuche im Kolon haben bei RDS-Patienten eine erniedrigte Schmerzschwelle gezeigt. Diese mechanische Übersensibilisierung ist auch die Basis der häufigen Patientenaussage, dass sich nach Defäkation die Beschwerden in der Regel markant verbessern. Die viszerale Hypersensibilität ist möglicherweise der Grund, weshalb viele Patienten instinktiv reizarme und nicht blähende Nahrung vorziehen. Neben mukosalen Faktoren werden intraluminale Veränderungen als mitbeeinflussend beschrieben. Welche Rolle dabei eine veränderte bakterielle Flora auf die enterische Immunregulation hat, ist Gegenstand aktueller Forschung.
Korrelierend zur peripheren Sensibilisierung sind unter anderem eine erhöhte 5HT-Rezeptordichte und Veränderungen neurotransmittorischer Vorkommnisse, zum Beispiel in den serotoninerzeugenden enterochromaffinen Zellen des Intestinaltrakts (4).
Vegetative Dysbalance Abdominaler Schmerz und/oder
psychischer Druck wirkt sich auf das Vegetativum aus und verändert die Balance zwischen Sympathikus und Parasympathikus zuungunsten des Parasympathikus. Die beeinträchtigte Vagotonie wirkt sich enteral auf die Sekretionsleistung des Darms wie auch auf die Darmmotilität aus. Dieser motilitätsbeeinträchtigende Effekt ist bei RDS-Patienten typisch. Die Patienten berichten über unregelmässigen oder
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imperativen Stuhldrang. Diese Dysmotilitätsphänomene kommen physiologisch auch bei Gesunden unter Stressbelastung vor. Viele Personen unter Arbeitsstress leiden unter einer stressbedingten Verstopfungs- oder Durchfallneigung. Klassisch für diesen stressinduzierten Geneseaspekt ist die Aussage der Patienten, dass sich die Symptomatik in Ferienzeiten jeweils deutlich verbessert.
Psychobiografische Disposition Die familiäre Häufung funktioneller
Darmerkrankungen kann neben der genannten genetischen Disposition auch durch psychosoziale Prägungen mitdeterminiert sein. Der familiäre Kommunikations- und Edukationsstil ist dabei massgebend. Grenzüberschreitungen physischer wie emotionaler Art fallen bezüglich Beziehungsund Edukationsstil im familiären Umfeld von RDS-Patienten auf. Die edukative Prägung ist auch entscheidend für das spätere Patientenverhalten, inwiefern beispielsweise eine Neigung besteht, körperliche Symptome als gefahrvoll zu interpretieren und ärztliche Hilfe aufzusuchen.
Der eigentliche psychobiografische Prägungsaspekt bei RDS geht jedoch über die angelernten und übernommenen Verhaltensmuster hinaus: Es gibt eine direkte Korrelation zwischen (früh-)kindlicher Vernachlässigung und späterem Risiko an einer chronisch funktionellen Schmerzstörung zu erkranken. In epidemiologischen Untersuchungen wurde bereits früh erkannt, dass bei Reizdarmpatienten gehäuft eine belastete psychosoziale Anamnese (sog. Pain-Prone-Konstellation) vorliegt (5). Exemplarisch sei eine bereits 1990 von Drossman et al. publizierte Arbeit erwähnt, in der 44 Prozent aller Patientinnen eines ambulanten amerikanischen Kollektivs mit funktionellen Darmstörungen über sexuellen oder physischen Missbrauch berichteten (6).
Zentralnervöse Schmerzsensibilisierung Periphere Hyperalgesie, somatisches
Priming und belastende psychosoziale Prägungen führen letztlich zu einer zentralnervösen Schmerzsensibilisierung (7). Diese «Entstehungstrias» trifft auch auf die Genese anderer funktioneller somatischer Syndrome zu. Die zentralnervöse Sensibilisierung scheint ein Schlüsselmechanismus zu sein, der das gehäufte gleichzeitige Vorkommen von RDS mit anderen
funktionellen somatischen Syndromen (z.B. Fibromyalgie, chronic fatigue, chronic pelvic pain) erklärt. Bereits vor zehn Jahren wurde spekuliert, inwiefern die erwähnten Störungen nicht möglicherweise Facetten ein und derselben zentralnervösen Grundstörung sein könnten! (8).
Gemeinsam und überlappend mit den anderen funktionellen somatischen Syndromen sind auch die dem RDS assoziierten «extraintestinalen Symptome» wie vermehrte Müdigkeit, Schlafstörungen, Spannungskopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Miktionsbeschwerden und so weiter. Bildgebende neurofunktionelle Studien, welche die gesteigerte Schmerzwahrnehmung im Gehirn Betroffener aufzeigen, liegen sowohl für das RDS wie auch für einige der anderen funktionellen somatischen Syndrome vor (9).
Psychische Komorbidität Fast die Hälfte aller Patienten mit
RDS leidet an einer psychiatrischen Begleiterkrankung. Depression und Angststörung kommen bei fast einem Drittel dieser Patienten vor (10). Je gewichtiger die psychiatrische Diagnose, desto schwerwiegender und langwieriger ist in der Regel der Verlauf des RDS. Nach dem bisher Gesagten darf aber die psychische Komorbidität nicht vorschnell und einseitig als die Ursache für das RDS verstanden werden. Eher ist es so, dass für beide Krankheitsbilder die veränderte Stressphysiologie und die gesteigerte Schmerzperzeption des ZNS eine gemeinsame Rolle spielen. Auch ist es so, dass bei gleichem Schweregrad der Symptomatik Patienten mit einer komorbiden psychiatrischen Störung oder hohem Level an Distress sich verhältnismässig häufiger beim Arzt vorstellen als RDS-Patienten ohne psychische Belastungsfaktoren. Dass die Erfassung und Mitbehandlung der psychiatrischen Komorbidität aber sehr wichtig ist, zeigte eine kürzlich erschienene Studie mit 95 RDS-Patienten mit gleichzeitiger Major Depression. Nach Abklingen der Major Depression normalisierte sich die enterale Symptomatik der Patienten weitgehend (11).
Therapeutische Implikationen
Patienteninformation Erster Schritt nach Diagnose einer
funktionellen Darmstörung ist die sorgfältige Aufklärung des Patienten über seine Beschwerden! Es hilft dem
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Patienten wenig, zu hören, er habe «nichts», beziehungsweise «nichts strukturell Fassbares».
Am Beispiel der Prüfungsdiarrhö kann der Patient durchaus nachvollziehen, dass es Darmfunktionsstörungen gibt, die aufgrund vegetativer Vorgänge entstehen. Hinzu kommt beim RDS zusätzlich die Vermittlung des Aspekts der lokalen Überempfindlichkeit. Die sorgfältige Vermittlung eines multifaktoriellen Geneseverständnisses ist auch die Basis für das weitere Therapieverständnis. Gute Information und Verständnis reduzieren das Gefühl von Unsicherheit und Ausgeliefertsein und senken damit durch Beruhigung den Stresslevel. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Patienten auch für neurobiologische Erklärungsmodelle durchaus Interesse zeigen. Assoziiert zu den einzelnen Geneseaspekten lassen sich dann für den Patienten individuelle und logische Therapieansätze formulieren.
Die im Folgenden aufgeführten Therapieansätze sind nicht als Therapiealternativen zu verstehen, sondern bilden «bausatzartig» die Basis für ein multimodales Therapiekonzept bei RDS.
Ernährung Das Konzept der lokalen Übersensi-
bilität («Schmerzlupe im Darm») wird von den Patienten mit Interesse aufgenommen. Es ist für ein angstfreieres Symptomverständnis von RDS-Patienten richtungsweisend.
Mit dem Wissen um diese «sensorische Empfindlichkeit» können die Patienten mittels eines Ernährungstagebuchs erforschen, welche Nahrungsmittel sie gut ertragen. Der Aspekt der richtigen Ernährung ist wichtig, da der Patient zu seinem Wohlbefinden etwas beitragen kann. Eine allzu einseitige Fokussierung auf den Ernährungsaspekt soll aber vermieden werden, denn es kann zu übertrieben restriktivem Essverhalten führen. Regelmässige, nicht blähende, eher «reizarme» und ausgewogene Mahlzeiten, eingenommen in ruhiger Umgebung, sind die Grundsätze der Ernährungstherapie bei RDS.
Ein günstiger Effekt durch die Gabe von Probiotika wurde für verschiedene Darmerkrankungen beschrieben (12). Probiotika sind Nahrungsmittel oder medikamentöse Präparate, die mit darmförderlichen Bakterien versehen sind. Präparate mit Escherchia coli Nissle 1917, verschiedenen Stämmen von Lactobacillus, Bifidobakterien, Enterobacter faecium sind im Handel.
Neuere Studien weisen auf einen direkten Zusammenhang zwischen Stress und Veränderungen der intestinalen Flora bei RDS hin (13). Auch besteht eine Korrelation zwischen RDS und dem Vorkommen eines intestinalen «bacterial overgrowth». Dennoch wird der Effekt von Probiotika bei RDS kontrovers diskutiert. Es scheinen zudem Wirkungsunterschiede zwischen den einzelnen Probiotika zu bestehen (14). Zumindest als Additivum für die Stuhlregulation beim RDS vom Obstipationstyp oder bei Blähungen ist ein Versuch mit Probiotika sicher gerechtfertigt. Auch der Einsatz von Quellmitteln wird unterschiedlich beurteilt. Gehen diese Mittel mit vermehrter Gasbildung einher, werden sie von den Patienten weniger geschätzt.
Entspannungstraining Der Aspekt der vegetativen Dys-
balance ist bei der Patientenaufklärung wichtig. Fast jeder Patient hat bei sich stressinduzierte Motilitätsstörungen beobachtet. Das Erlernen und regelmässige Ausüben einer Relaxationstechnik zur Drosselung des erhöhten Sympathikotonus und Aktivierung des Parasympathikus ist eine wichtige Gegenmassnahme. Gute Studienresultate bei RDS liegen für entspannende Hypnoseverfahren und auch muskelentspannende Relaxationstechniken vor.
Die Wirkung des Relaxationstrainings verbessert sich bei regelmässiger Anwendung innerhalb der ersten Monate. Gemäss einer vergleichenden Untersuchung (progressive Muskelrelaxation und suggestive Relaxationstechniken kombiniert mit Atemtraining) hatten sich nach zwölf Monaten die Symptome der Patienten mit Relaxationstraining um bis zu 21 Prozent verringert, verglichen mit der Kontrollgruppe, die eine ausschliesslich medikamentöse Behandlung erhielt (15). Entscheidend ist wohl weniger die Art der Entspannungsmethode, als dass der Patient eine Technik findet, die für ihn passt und die er gerne und regelmässig ausübt. Zuweilen zeigt sich, dass neben Entspannungstraining auch eine ergänzende, aktive Sportart eine Massnahme ist, um «angestaute Sympathikotonie» los zu werden. Regelmässige aerobe Aktivität verbessert zudem die Vagusfunktion.
Symptomorientierte Pharmakotherapie Nachdem die Implementierung von
Tegaserod (Zelmac®) und analogen
Substanzen, bedingt durch potenzielle Nebenwirkungen und dem damit verbundenen Marktrückzug, einen herben Rückschlag erhalten hat, ist die Bedeutung der symptomorientierten Pharmakotherapie weiterhin gross. Obwohl die wissenschaftliche Evidenz für den Einsatz verschiedener stuhlregulatorischer und motilitätsalterierender Medikamente nicht immer zwingend ist, lohnt sich oft im Einzelfall die probatorische Verwendung symptomfokussierter Präparate. Je nach Beschwerdebild (Blähung, Verstopfung, Diarrhö) können konventionelle Antidiarrhoika oder pflanzliche Regulanzien zum Einsatz kommen. Bei allen verwendeten Substanzen muss aber die Möglichkeit der Langzeitanwendung überprüft werden. Auch sollten sich sowohl der behandelnde Arzt als auch der Patient darüber im Klaren sein, dass die medikamentöse Behandlung eines Einzelsymptoms (z.B. Obstipation) häufig nicht die weiteren, mit dem RDS assoziierten Symptome (z.B. vegetative Störungen, Müdigkeit) lindert.
Psychotherapie Im Zusammenhang mit der vegetati-
ven Dysbalance lässt sich auch der Aspekt der individuellen Stressbelastung thematisieren. Die Patienten sind in der Regel sehr offen, ihr persönliches Stressprofil zu hinterfragen und zu verändern. Das Thema der Stressbelastung ist ein guter Einstieg, um den Bedarf nach einer zusätzlichen Psychotherapie zu explorieren. Liegt eine relevante psychische oder psychiatrische Komorbidität vor, soll der Erstversorger versuchen, die Bedeutung derselben abzuschätzen. Es soll vermieden werden, dass der Patient den Eindruck erhält, der ärztliche Versorger wolle nun mangels organischer Befunde die funktionelle Darmstörung vorschnell «psychiatrisch» erklären. Der Patient sollte die Bedeutung einer allfälligen psychiatrischen Komorbidität als stressunterhaltender und empfindungssteigernder Faktor bei RDS erkennen können, damit er die Delegierung an einen psychosomatisch oder psychiatrisch geschulten Fachspezialisten verstehen kann. Nach unserer Erfahrung ist für den Patienten erst nach ein oder zwei Verlaufskonsultationen der Nutzen einer begleitenden Psychotherapie bei RDS nachvollziehbar. Die Art der begleitenden Psychotherapie richtet sich nach der entsprechenden Hintergrundproblematik. Ziel ist es, dass der
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Patient von psychischer Seite Entlastung erfährt, zum Beispiel durch die Anwendung anderer Copingstrategien im Umgang mit der Symptomatik.
Antidepressiva Antidepressiva werden oft bei RDS
eingesetzt, obwohl noch keine Stoffgruppe für die Indikation bei RDS offiziell zugelassen ist. Gesichert ist, dass Antidepressiva eine positive Wirkung auf das Schmerzerleben haben. Ihr Einsatz ist sinnvoll bei Patienten mit psychiatrischen Komorbiditäten wie zum Beispiel Depression, Angst oder Somatisierungsstörung.
Vergleichsuntersuchungen zwischen Depressiven mit RDS und Patienten mit ausschliesslich RDS belegen, dass auch die Nichtdepressiven eine Schmerzreduktion erfahren!
Ein direkter Wirkungsvergleich bei RDS zwischen Trizyklika (TZA) und selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) existiert bis dato nicht. Erwägt man den Einsatz eines Antidepressivums, beeinflusst neben Überlegungen zur allenfalls vorhandenen komorbiden psychiatrischen Störung vor allem das Nebenwirkungsprofil des Antidepressivums die Wahl: Liegt ein RDS vom Diarrhötyp vor, sind die anticholinergen Nebenwirkungen der TZA erwünscht. Liegt ein RDS vom Obstipationstyp vor, ist die darmmotilitätsfördernde Wirkung der SSRI ausschlaggebend.
Verschiedene randomisierte und plazebokontrollierte Studien belegen eine positive Wirkung von niedrig dosierten TZA (Amitryptillin 30– 50 mg/Tag) bei RDS. Offensichtlich ist das Ansprechen auf SSRI individuell unterschiedlich und variiert von Präparat zu Präparat, weswegen ein Wechsel auf ein anderes evaluiertes SSRI bei Ausbleiben der erwünschten Wirkung durchaus sinnvoll sein kann. In einer plazebokontrollierten Studie konnte beispielsweise über einen guten dosisabhängigen Effekt von Citalopram (20–40 mg/Tag) berichtet werden. Bei der Gabe von Fluoxetin (20 mg/Tag) oder Paroxetin (10–40 mg/Tag) konnte
trotz individueller Unterschiede ebenfalls eine beträchtliche Symptomlinderung beobachtet werden. Sertralin hingegen führte zu einer Zunahme der RDS-Symptomatik und deswegen zu vielen Drop-outs (16).
Werden SSRI verabreicht, wird eine Einnahmedauer von mindestens acht bis zwölf Wochen empfohlen. Profitiert der Patient von der SSRI-Gabe, ist eine fortsetzende medikamentöse Therapie für weitere sechs bis zwölf Monate zu erwägen.
Zusammenfassung
Das Geneseverständnis und die The-
rapie funktioneller Darmstörungen
haben sich in den letzten Jahren viel-
schichtig entwickelt. Interessant ist da-
bei die Tatsache einer stets komplexe-
ren Multikausalität, die somatische wie
psychische Aspekte und deren neuro-
funktionelle, endokrine und zyto-
inflammatorische Wechselwirkungen
berücksichtigt (17). Angesichts der
multifaktoriellen Pathogenese ist auch
in der Einzelbetreuung dieser Patien-
ten ein polypragmatisches therapeuti-
sches Vorgehen gerechtfertigt.
■
Zu den Autoren: Das Team der aufgeführten Autoren betreibt seit Sommer 2007 eine Spezialsprechstunde für Funktionelle Abdominalerkrankungen (IBSP) am Inselspital Bern. Das Besondere dieser Sprechstunde ist, dass der Patient simultan-interdisziplinär, das heisst gleichzeitig sowohl fachärztlich-gastroenterologisch als auch psychosomatisch betreut wird. Weitere Informationen unter www.insel.ch oder per E-Mail an ibsp@insel.ch
Korrespondenzadresse: Dr. med. Christine Beer FMH für Innere Medizin und FMH für Psychiatrie Oberärztin Ambulatorium für Psychosomatik Interdisziplinäre Sprechstunde für Funktionelle Abdominalerkrankungen (IBSP) C.L. Loryhaus, Inselspital 3010 Bern E-Mail: christine.beer@insel.ch
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