Transkript
Ernährungsmedizin
Weniger Neuralrohrdefekte nach Folsäureanreicherung des Mehls
Hat Vitamin B12 auch eine Wirkung?
Im Osten Kanadas war die Prävalenz
von Neuralrohrdefekten (NRD) lange
Zeit wesentlich höher als in den westli-
chen Provinzen des Landes (Neufund-
land 4,56 pro 1000 Geburten, British
Columbia 0,96). 1998 wurde die Fol-
säureanreicherung für eine grosse
Zahl von Weizen-(Cereal-)produkten
Bild: pixelio.de
im ganzen Land obligatorisch. Eine
kürzlich im «New England Journal of
Medicine» publizierte Studie unter-
sucht die Auswirkungen dieser Mass-
nahme. In einer zweiten Publikation
bestätigt sich darüber hinaus erneut,
dass neben einer ausreichenden Fol-
säurezufuhr auch eine gute Vitamin-
B12-Versorgung erforderlich ist, um das
NRD-Risiko erfolgreich zu senken.
Kurt Baerlocher
Berücksichtigt wurden in der Studie alle Lebendgeborenen, Totgeburten sowie Schwangerschaftsunterbrechungen wegen fetaler Missbildungen in sieben von zehn kanadischen Provinzen im Zeitraum von 1993 bis 2002. Dies entspricht 55 Prozent aller Geburten im Land. In allen sieben Provinzen wurde die Abnahme der NRD unter der Anreicherung mit den Basiswerten der Voranreicherungsperiode verglichen. Unter den 1,9 Millionen Geburten wurden insgesamt 2446 NRD registriert.
Folsäureanreicherung senkt
NRD-Rate deutlich
Die Prävalenz verringerte sich von ursprünglich 1,58 pro 1000 Geburten auf 0,86 nach der Anreicherungsmassnahme, was einer Reduktion von 46 Prozent entspricht (95%-Vertrauensintervall 40–51). Die geografischen Unterschiede verschwanden nach der Anreicherung. Die Abnahme der Prävalenz war grösser bei den Myelomeningozelen (offener Rücken, 53%) als für Anenzephalie (38%) und Enzephalozele (31%).
Dazu einige Details: I In Kanada starteten die Mühlen
(Mehlindustrie) die Anreicherung im Jahr 1997 in Anlehnung an die USA. Ab November 1998 wurde die Anreicherung obligatorisch für Weissmehl, Teigwaren und Maismehl. Ziel war es, die Zufuhr von Folsäure bei Frauen im gebärfähigen Alter um 30 bis 70 Prozent zu erhöhen ohne Risiko für die Allgemeinbevölkerung. Die Anreicherung erfolgte mit 150 µg FS pro 100 g Mehl oder Maismehl, 200 bis 270 µg FS pro 100 g Teigwaren sowie 60 µg FS für Frühstücksflocken (Cereals). Errechnet wurde, dass sich die Folsäurezufuhr bei Frauen im gebär-
fähigen Alter damit um 150 µg pro Tag steigern liess. I Die Folsäurewerte in roten Blutkörperchen (EC-FS) begannen seit 1997 anzusteigen und erreichten im Februar 1999, also ein Jahr nach Beginn der obligatorischen Anreicherung, ein Plateau. Es ist davon auszugehen, dass Schwangere ab dem 1. April 2000 mindestens fünf Monate vor der Konzeption voll folsäureangereicherte Mehle einnahmen. I Die Zahl der NRD zwischen 1993 und 2002 in den sieben Provinzen – aufgeteilt nach den verschiedenen NRDArten – ist aus Tabelle 1 ersichtlich. 60 Prozent der Schwangerschaften wurden nach pränataler Diagnose beendet. 53 Prozent waren Spina bifida (MMC); das Verhältnis Anenzephalie zu Spina bifida betrug 0,65. I Die allgemeine Prävalenz der NRD verringerte sich von 1,58 pro 1000 Geburten vor der Anreicherung auf 1,1 im Jahr 1998 und ging schliesslich in der Periode der vollen Anreicherung (2000–2002) auf 0,86 zurück, was einer Abnahme von 46 Prozent entspricht. Nach den Behandlungsergebnissen mit Folsäure in China wurde angenommen, dass eine weitere Risikoreduktion nicht mehr erreicht werden kann, wenn
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Ernährungsmedizin
Tabelle 1: Diagnostische Kriterien
Anenzephalie Enzephalozele Inienzephalie* Spina bifida (MMC) Unbest. NRD Alle NRD
Induzierter Abort
668 160
19 595
24 1466
Schwangerschaftsausgang
Totgeburt
Lebend-
geborene
67 95
8 115
22
35 656
00
112 868
Total (%)
830 283
23 1286
24 2446
34 53
Studie umfasste den Zeitraum von 1993 bis 2003. Etwa die Hälfte der Blutproben stammte aus der Periode vor der Folsäureanreicherung.
89 Schwangerschaften mit NRD wurden mit 422 nicht betroffenen Schwangerschaften verglichen (pro Fall = 5 Kontrollen). Die Gruppen waren hinsichtlich Alter, Anzahl Graviditäten, Gewicht, Ethnität, Einkommensverhältnisse, Anzahl der
*Inienzephalie = NRD mit Befall des Hinterkopfs und Spaltung der Hals- und Brustwirbelsäule und Rückneigung des Kopfes
Schwangerschaften in der Vor- und Nachanreicherungsperiode sowie der Anzahl Schwangerschaften pro Jahr
vergleichbar. Das Serumfolat zwischen
den beiden Gruppen war vergleichbar
die Basisrate der NRD < 0,6 pro 1000 ten zur Reduktion der NRD beitrug. (13,3 ± 3,0 vs. 13,9 ± 2,8 nmol/l). In Geburten beträgt, weil dann andere I Zurzeit liegt die Rate der NRD in Ka- der Periode vor der Folsäureanreiche- ursächliche Faktoren vorliegen. In nada zwischen 0,7 und 1,3 pro 1000 rung waren die Werte deutlich tiefer, den Regionen mit einer hohen Ba- Geburten mit einem Mittelwert von nämlich 8,8 ± 3,5 (NRD) vs. 10,3 ± 3,0 sisprävalenzrate von NRD war ein 0,9. Da nicht alle Fälle von NRD ver- nmol/l (Kontrollen) gegenüber der grösserer Rückgang zu verzeichnen hütet werden können, beträgt das Nachanreicherungsperiode mit 20,9 ± als in Provinzen mit niedrigerer Rate. Potenzial einer weiteren Risiko- 2,0 vs. 19,4 ± 2,2 nmol/l. Am grössten war der Erfolg in Neu- reduktion bis zu 30 Prozent, bis das Serum-Holo-TC hingegen war in der fundland und Labrador mit einer Restrisiko von 0,6 pro 1000 Gebur- Gruppe der NRD deutlich niedriger Differenz von 3,8 pro 1000 Gebur- ten erreicht ist. mit 67,8 ± 2,0 (NRD) vs. 81,2 ± 1,8 ten, verglichen mit British-Columbia pmol/l in den Kontrollen; es zeigte mit einer Differenz von 0,21 pro Wie wichtig ist Vitamin B12? sich also ein Unterschied von 13,4 1000 Geburten zwischen der Vor- pmol/l. Auch hier bestanden Unter- und Nachanreicherungsperiode. Ausgehend von der Annahme, dass schiede zwischen den beiden Perio- I Erstaunlich war, dass in der Vor- auch ein niedriger Vitamin-B12-Status den: In der Voranreicherungsphase anreicherungsperiode (also 1998) ein Risiko für NRD sein kann, unter- 58,5 ± 1,9 (NRD) vs. 72,7 ± 1,8 pmol/l keine signifikante Änderung in der suchten Autoren in der kanadischen (Kontrollen), in der Nachanreiche- Prävalenz bestand, obwohl verschie- Provinz Ontario den Zusammenhang rungsphase 78,8 ± 2,0 vs. 91,3 ± 1,8 dene Fachkomitees eine tägliche zwischen Vitamin B12 und dem Risiko pmol/l. Supplementation von Folsäure mit für NRD in einer Population, die be- Bei Unterteilung der Holo-TC-Werte oder ohne Multivitamine vorgeschla- reits von der Folsäureanreicherung in vier Quartilen ergab sich das in Ta- gen hatten. Man schloss daraus, dass profitierte (2). Dazu wurde im Rah- belle 2 dargestellte Risiko eines NRD für diese Empfehlungen nicht allge- men einer Fallkontrollstudie in der niedrige Holo-TC-Werte, verglichen mein befolgt wurden, was eine Un- 15. bis 20. Schwangerschaftswoche das mit hohen Werten. tersuchung in Quebec auch be- Holo-Transcobalamin (Holo-TC) be- Aus Tabelle 2 ist ersichtlich, dass das stätigte, die keine Änderung der stimmt, ein Transportprotein für Vit- Risiko für NRD bei niedrigem B12-Sta- Vitaminzufuhr bei den 18- bis 40- amin B12, das als sensitiver Indikator tus annähernd dreimal so hoch ist wie jährigen Frauen in der Zeit zwischen für den B12-Status gilt. Eine Blutent- bei normal hohem B12-Status. Wenn 1987 und 1998 feststellte. nahme zu diesem Zeitpunkt wird in nur die Nachanreicherungsperiode I Eine Ernährungserhebung in der Ontario im Rahmen des Health Insu- berücksichtigt wurde, so war die adju- Provinz Neufundland ergab zudem, rance Plans als Screeninguntersu- stierte Odds Ratio 3,2. Das der Bevöl- dass nach der Folsäureanreicherung chung freiwillig und gratis für ver- kerung zuteilbare Risiko für NRD bei (zwischen 1997 und 2001) keine Än- schiedene Serumwerte angeboten. Die niedrigem B12-Status wird mit 34 Pro- derung der Ernährungsgewohnhei- ten eintrat und die durchschnittli- che tägliche Folatzufuhr durch Einnahme natürlich vorkommender Folate gleich blieb. Tabelle 2: Risiko eines offenen NRD bei niedrigem B12-Status (Holo-TC-Konzentration) I Folsäurebestimmungen im Blut von Frauen in einer Pränatalklinik in Neufundland zeigten einen markanten Anstieg des Serumfolats zwischen den Perioden 1992 bis 1996 sowie 1998 bis 2002. Auch der Vitamin-B12-Gehalt erhöhte sich leicht, Serum Holo-TC Quartile (pmol/l) ≤ 55,3 > 55,3–84,0 > 84,0–121,0 > 121,0
NRD Anzahl % 35 39 19 21 18 20 17 19
Kontrollen Anzahl % 106 25 105 25 106 25 105 25
adjustierte* Odds Ratio
2,9 2,0 1,1 1,0
(95%-KI)
(1,2–6,9) (0,75–5,1) (0,4–2,9)
aber signifikant, sodass angenommen werden muss, dass auch die Einnahme von Multivitaminsupplemen-
*adjustiert für mütterliches Alter, Gravidität, Gewicht, Ethnität, Einkommen, Diabetes und Serum-FS
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zent angegeben, was vermuten lässt, dass 34 Prozent der NRD durch zu niedrige Vitamin-B12-Spiegel bedingt sind. Der Studie haftet allerdings ein kleiner Schönheitsfehler an, da die Blutentnahme erst in der 15. bis 20. Schwangerschaftswoche durchgeführt wurde und nicht bekannt ist, wie viele Frauen mit NRD und Kontrollen perikonzeptionell oder auch erst nach der Konzeption Folsäure- oder B12-enthaltende Multivitamine eingenommen haben. Die geringe Menge Vitamin B12 in den pränatal verwendeten Multivitamintabletten kann nach den Autoren aber kaum den Unterschied zwischen Müttern mit NRD und den Kontrollen erklären, auch wenn mehr Kontrollen solche Supplemente eingenommen haben sollten. Interessant ist zudem, dass zwischen beiden Gruppen praktisch keine Unterschiede in den Folsäurespiegeln bestehen. Diese Ergebnisse zeigen damit den Zusammen-
hang zwischen dem Risiko für NRD bei niedrigem B12-Status, wie dies auch schon in andern Studien betont wurde. Aber nur wenige haben – wie in der vorliegenden Studie – auch den Folsäurestatus mitbestimmt.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend beschreiben diese beiden Studien einerseits den Erfolg der Folsäureanreicherung auf die Prävalenz von NRD. Mit einer Vermehrung der täglichen Folsäurezufuhr um 150 µg mittels Anreicherung verschiedener Mehlprodukte und wahrscheinlich auch mit einer perikonzeptionellen Folsäureeinnahme in Form von Supplementen konnte das Vorkommen von NRD in Kanada um 46 Prozent gesenkt werden.
Andererseits ist eine weitere Reduktion durch eine verbesserte B12-Versorgung zu erwarten. Dies spricht dafür,
dass eine Supplementierung mit Multivitaminen einer alleinigen Folsäureeinnahme vorzuziehen ist. Ebenso sollte überlegt werden, ob nicht neben der Anreicherung der Mehle mit Folsäure auch eine solche mit Vitamin B12 erfolgen sollte, wie dies die von der eidgenössischen Ernährungskommission eingesetzte Arbeitsgruppe in ihrem Bericht 2002 vorgeschlagen hat.
I
Korrespondenzadresse: Prof. Kurt Baerlocher Tanneichenstrasse 10 9010 St. Gallen E-Mail: kurt.baerlocher@freesurf.ch
Literatur: 1. Philipp de Wals et. al. Reduction of NeuralTube Defects after Folic acid Fortification in Canada. N Engl J Med 2007; 357: 135–142. 2. Joel G. Ray et al. Vitamin B12 and the Risk of Neural Tube Defects in a Folic-Acid-Fortified Population, Epidemiology, 2007; 18: 362–366.
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