Transkript
Nahrungsmittelallergie
Lebensmittelallergien und Lebensmittelhandel: Versuche zur Risikominimierung
Die Tatsache, dass die Menge der Konsumenten, die an Lebensmittelunverträglichkeiten oder echten Lebensmittelallergien leiden, bereits in der Grössenordnung von Prozenten liegt, beschäftigt sowohl Händler und Hersteller als auch Gesetzgeber und Vollzugsorgane. Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, welche Anstrengungen unternommen wurden und werden, um das Risiko, einem Konsumenten Schaden zuzufügen, zu vermindern. Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, welche Risiken letztlich von Industrie und Handel nicht ausgeschlossen werden können; daher muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Allergiker selbst Vorsicht walten lassen muss und er die Grenzen der industriellen Möglichkeiten kennen sollte.
Reto Battaglia
Die Massnahmen des Gesetzgebers und der Industrie
Der Gesetzgeber geht grundsätzlich davon aus, dass sich der Allergiker vor der Aufnahme eines – für ihn ganz spezifisch! – gesundheitsgefährdenden Lebensmittels durch die ihm zur Verfügung stehenden Informationen schützen kann. Somit wurden in der Le-
bensmittelverordnung Bestimmungen erlassen, wonach Allergene deklariert werden müssen. Die Liste der auf der Lebensmittelpackung aufzuführenden Allergene wurde im Einklang mit Empfehlungen aus medizinischen Kreisen und der EU-Lebensmittelbehörde definiert. Sie umfasst sowohl eigentliche Allergene (Erdnuss, Sellerie, Soja usw.) als auch glutenhaltige Lebensmittel sowie Schwefeldioxid – also Lebensmittel, die zwar schwere Unverträglichkeiten, nicht aber echte Allergien hervorrufen. Diese Gesetzgebung ist nun in Kraft, und ab 1. Juli 2005 dürfen in der Schweiz keine Lebensmittel mehr hergestellt werden, die diesen Anforderungen nicht genügen. In der EU gilt die entsprechende Regelung ab 25.11.2005.
Deklarationspflicht – auch wenn es sich nur um Spuren handelt
Hier muss jedoch auf einige Details eingegangen werden, die für einen Allergiker von entscheidender Wichtigkeit sein können. Sowohl die EURegelung als auch die schweizerische Lebensmittelverordnung verlangen als Erstes, dass allergene Zutaten in einem zusammengesetzten Lebensmittel deklariert werden müssen. Diese Deklaration muss zudem ungeachtet der verwendeten Mengen erfolgen. Somit muss beispielsweise eine Fertigsalatsauce, die mit 1 Prozent einer nicht näher aufgeschlüsselten «Gewürzmischung» (so der Text auf der Etikette) zubereitet wurde, den Hinweis auf «Sellerie» enthalten, falls dieser in der Gewürzmischung enthalten ist – unabhängig von der jeweiligen Menge. Letztlich weiss der Hersteller, welche
Zutaten er verwendet, und er kann diese grundsätzlich problemlos deklarieren.
Eine Gewürzmischung (um bei unserem Beispiel zu bleiben) wird in der Regel industriell hergestellt. Gewürzmühlen verarbeiten eine breite Palette verschiedener Gewürze, und natürlich werden die Mischanlagen zwischen den Produktionschargen und den diversen Rezepturen gründlich gereinigt. Was passiert, wenn der Hersteller der Gewürzmischung seine Anlagen, bevor eine neue, andere Mischung hergestellt wird, aus technischen Gründen nicht absolut optimal reinigen kann? Dann kann es vorkommen, dass die neue Mischung zumindest zu Beginn des Herstellungsprozesses noch Spuren von Sellerie enthält, die jetzt allerdings nicht deklariert werden – sie fungieren ja nicht auf der Zutatenliste, und Sellerie wurde nicht explizit als Zutat verwendet! Genau aus diesem Grund verlangt die Schweizer Lebensmittelverordnung, dass auch unbeabsichtigte Spuren von Allergenen deklariert werden müssen, falls deren Konzentration über 1 g/kg Lebensmittel liegt. (In der EU-Gesetzgebung ist dieser Fall überhaupt nicht geregelt.)
Diese Bestimmung ist allerdings nicht ganz unproblematisch, und zwar aus folgenden Gründen:
Es ist bekannt, dass die Mengen eines Allergens, die eine Reaktion auslösen können, nicht nur von der Art des Lebensmittels abhängen, sondern dass zusätzlich grosse individuelle Unterschiede in der Empfindlichkeit bestehen. So ist es denkbar, dass beispielsweise ein Lebensmittel mit einer nicht deklarierten Erdnuss-Verunreinigung von weniger als 1 g/kg schwere Symptome auslösen kann, ein anderes mit der Warnung «enthält Milchbestandteile» (da damit zu rechnen ist, dass mehr als 1 g/kg vorhanden ist) wird dagegen problemlos vertragen!
Aufwändige Analysen
Wie lösen nun Industrie und Handel dieses Problem der «ungewollten Spurenzutaten» (von Kontaminationen zu sprechen wäre falsch, da es sich ja bei
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diesen Spuren um Lebensmittel handelt!)? An dieser Stelle ist es wichtig, ein Wort zur Analytik von Allergenen in Lebensmitteln zu verlieren. Die Analytik ist letztlich entscheidend, wenn es darum geht, festzustellen, ob ein Lebensmittel Spuren von Allergenen enthält – und zwar bevor es konsumiert wird! Im Wesentlichen geht es dabei darum, die gesuchten Spezies, wie beispielsweise Erdnuss, Milch, Sellerie oder Fisch, nachzuweisen. Es handelt sich dabei jedoch um Mischungen von Tausenden chemischer Substanzen, deren Verhalten in analytischen Systemen stark unterschiedlich ist. Somit konzentriert man sich sinnvollerweise auf den Nachweis jener Proteine (im Fall von echten Allergenen), von welchen man weiss, dass sie für die allergenen Eigenschaften verantwortlich sind. Immunchemische Verfahren sind dabei die geeignetsten Methoden.
Analytische Resultate müssen zwischen verschiedenen Laboratorien vergleichbar sein. Dies bedeutet, dass die Verfahren standardisiert und validiert sein müssen – und genau dies ist bis heute für keinen Allergennachweis der Fall! Die Gründe sind sehr einfach: Es gibt keine standardisierten, weltweit oder auch nur landesweit anerkannten Humanseren, es gibt keine akzeptierten, konstant verfügbaren Antikörper (die Analysen-Kits diverser Hersteller liefern stark divergierende Resultate), und in der Analyse verhält sich zudem jedes Lebensmittel aufgrund der verschiedenen Matrix wieder anders. Dies bedeutet, dass sich jeder Betrieb intern mit einer einmal gewählten Analysenmethode «eineichen» muss und dies vorteilhafterweise auch noch mit einem lokalen Lebensmittel-Vollzugslabor (Kantonschemiker) abspricht. Die Behörden haben sich hier, in Anerkennung der Komplexität des Problems, in verdankenswerter Weise sehr kooperativ gezeigt.
eben nicht gleich Null. Mit Spuren-
Beimischungen muss vor allem in den
ersten Minuten des neuen Anfahrens
einer Linie gerechnet werden.
Werden solche Produkte von Kon-
trollbehörden analysiert, so werden sie
beanstandet, da die Deklaration fehlt,
denn ein schwerer Allergiker, der viel-
leicht ausgerechnet eine Packung der
ersten Produktionsminuten konsu-
miert, könnte Symptome entwickeln.
Die Massnahmen, die aufgrund dieses
möglichen Szenarios getroffen wur-
den, sind so lapidar wie unbefriedi-
gend: Falls auch nur die geringste
Möglichkeit einer Verschleppung aller-
gener Zutaten besteht, wird auf der
Packung des betreffenden Lebensmit-
tels deklariert: «Kann X enthalten.»
Damit ist der Allergiker informiert und
kann das Lebensmittel meiden; der ge-
sunde Konsument ist dagegen verunsi-
chert («Wissen denn die Leute nicht,
was sie in die Lebensmittel schmeis-
sen?!»). Auch die Gesetzes-Vollzugsor-
gane wissen nicht, was sie mit dem Text
anfangen sollen – hats nun oder hats
nicht? Trotz dieser offensichtlichen
Unzulänglichkeit des so genannten
«precautionary labelling» ist festzustel-
len, dass es einem sehr empfindlichen
Allergiker (wobei Erdnuss klar an vor-
derster Stelle steht) das Leben retten
kann! Der einzige Weg, Kreuzver-
schleppungen von allergenen Zutaten
sicher und völlig zu vermeiden, liegt im
Bau räumlich getrennter neuer Linien
oder aber neuer Fabriken, die nie mit
Allergenen arbeiten. Trotz der enor-
men Kosten werden heute bereits sol-
che Lösungen realisiert!
I
Autor: Dr. Reto Battaglia SQTS – Swiss Quality Testing Services Grünaustrasse 23 8953 Dietikon Internet: www.sqts.ch
«Precautionary labelling»
unbefriedigend
Gehen wir zurück zur Praxis der Lebensmittelherstellung:
Industrielle Experimente und breit angelegte Studien (z.B. in der Schokoladen-, Biskuit- und Glaceherstellung) haben ganz klar gezeigt, dass nach einer grossen und gründlichen Reinigung von Produktionslinien das Risiko, dass irgendwo noch Reste von – beispielsweise – Erdnuss-Splittern zurückbleiben, zwar sehr klein ist, aber
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