Transkript
Ernährungsmedizin
Biotin (Vitamin H)
Wichtig für die Gesundheit von Haaren und Nägeln
Volles glänzendes Haar und kräftige
Nägel sind nicht nur ein Zeichen kör-
perlicher Gesundheit, sondern prägen
darüber hinaus wesentlich das Er-
scheinungsbild und das Selbstwertge-
fühl. Viele Menschen, vor allem in zu-
nehmendem Alter, leiden jedoch unter
dünner werdenden Haaren oder Haar-
ausfall und brüchigen Nägeln. Biotin
ist eines der wichtigen Substrate, die
der Organismus für ein gesundes
Haar- und Nagelwachstum benötigt.
Ein klinisch manifester Biotinmangel
scheint jedoch relativ selten. Kann die
Gabe eines Biotinsupplementes bei
Haar- und Nagelproblemen dennoch
sinnvoll sein? Erkenntnisse aus Litera-
tur und dermatologischer Praxis.
Claudia Reinke
Biotin und seine physiologische Bedeutung
Biotin gehört zur Gruppe der wasserlöslichen B-Vitamine. Es erhielt den Beinamen «Vitamin H», als in den 1930er-Jahren entdeckt wurde, weil es nicht nur den Fett- und Eiweissstoffwechsel beeinflusst, sondern auch die Hautfunktion regelt (1). Als Koenzym bei Carboxylierungsreaktionen dient Biotin in physiologischen Konzentrationen als biochemischer Überträger von CO2. Diese Übertragung wird im menschlichen Organismus durch vier Biotin-abhängige Carboxylasen katalysiert:
• Acetyl-CoA-Carboxylase (Startreaktion bei der Fettsäurebiosynthese);
• Pyruvatcarboxylase (Schlüsselenzym der Glukoneogenese);
• Propionyl-CoA-Carboxylase (Glukoseproduktion und Energieversorgung);
• Methylcrotonyl-CoA-Carboxylase (Abbau der verzweigtkettigen Aminosäure Leucin). Diese Carboxybiotin-haltigen En-
zyme spielen eine wichtige Rolle für die De-novo-Synthese von DNA- und RNA-Molekülen; sie sind essenziell für die Glukoneogenese und die Synthese langkettiger ungesättigter Fettsäuren und sind am Aminosäurestoffwechsel beteiligt. Darüber hinaus ist Biotin an der Bildung gesunder Hautstrukturen beteiligt. So ist aus der Tiermedizin bekannt, dass Biotin die Funktionsfähigkeit der Epidermiszellen positiv zu beeinflussen vermag (3). Da die Epidermis auch für die Synthese des Keratins verantwortlich ist, aus dem die Hornsubstanz der Anhangsgebilde, wie Haare, Nägel, Klauen und Hufe, besteht, könnte sich so die zunächst in vivo bei Nutztieren beobachtete therapeutische Wirkung des Vitamins bei pathologischen Veränderungen dieser Keratinstrukturen erklären lassen.
Biotinversorgung und
-resorption
Biotin ist in sehr vielen Lebensmitteln enthalten, allerdings meist in geringen Mengen (Tabelle 1). Das in der Nahrung enthaltene Biotin liegt sowohl in freier als auch in gebundener Form vor. Damit es im Magen-Darm-Trakt resorbiert werden kann, muss proteingebundenes Biotin zunächst durch das Enzym Biotinidase freigesetzt werden (1, 2). Da der Organismus zusätzlich zu dem mit der Nahrung aufgenommenen Biotin das von den Darmbakterien gebildete endogene Vitamin nutzen kann, kommt es vermutlich selten zu einem nachweisbaren Biotinmangel. Allerdings ist das Ausmass der enteralen Biotinsynthese nicht im Detail bekannt. Dass es bei Kindern nach Gabe einer biotinfreien parenteralen Ernährung offenbar zu Mangelerscheinungen kam (2), spricht nicht dafür, dass die Menge
des endogen gebildeten Vitamins allein ausreicht, um den Organismus angemessen zu versorgen.
Ursachen und Symptome des
Biotinmangels
Ein klinisch manifester Biotinmangel wurde nach exzessivem Verzehr von rohem Eiklar beobachtet. Das darin enthaltene Glycoprotein Avidin ist ein Biotinantagonist, der Biotin bindet und somit biologisch unwirksam macht. An einer Gruppe Freiwilliger liess sich durch Zufuhr von rohem Eiklar ein künstlicher Biotinmangel hervorrufen, der zu verstärkter Hautschuppung, Haarausfall, leichten depressiven Zuständen, Erschöpfung, Muskelschmerzen und Parästhesien sowie zu einem Anstieg des Serumcholesterins führte.
Normalerweise sind Mangelerscheinungen jedoch selten, da mit der Nahrung in der Regel ausreichend Biotin zugeführt werden kann. Es gibt allerdings endogene und exogene Faktoren, die langfristig zu einer Biotinunterversorgung führen können, vor allem, wenn die enterale Biosynthese und/oder die Resorption beeinträchtigt sind. Dazu gehören unter anderen: • Alkoholismus • Fehl- und Mangelernährung unter
anderem im Alter • Arzneimitteleinnahme:
Antibiotika und Chemotherapeutika schädigen die Darmflora und beeinträchtigen die Biosynthese und Resorption Antiepileptika (Primidon, Carbamazepin) hemmen die Biotinaufnahme und steigern die renale Ausscheidung • Resorptionsstörungen bei chronischen Gastrointestinalerkrankungen oder altersbedingten gastrointestinalen Funktionsstörungen • länger andauernde parenterale Ernährung • Schwangerschaft und Stillzeit. Obwohl die genannten Faktoren alle zu einer Biotinverarmung führen können, bleiben dennoch in der Regel klinisch eindeutige Mangelsymptome aus (2). Dies ist nicht der Fall bei den eher seltenen, erblich bedingten angebore-
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Ernährungsmedizin
Tabelle 1: Biotingehalt ausgewählter Nahrungsmittel (nach [2])
keratine verändert, sondern dass es zu einer Zunahme jener Zytokeratin-
Nahrungsmittel Blumenkohl Linsen Hühnerei (roh) Sojabohnen Bierhefe, trocken Leber
Biotingehalt (µg/100 g) 17,0 13,0 20,0 60,0 80,0
100,0
strukturen kommt, die auch in vivo bei der Ausdifferenzierung der Epidermiszellen gebildet werden (3, 4). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass Biotin den Keratinisierungsprozess der
Haut sowie der Haare
nen Defekten des Biotinstoffwechsels, und Nägel beeinflusst. Aufgrund die-
wie dem Biotinidasemangel (der zu ei- ser Beobachtungen war es nahe lie-
nem Unterversorgung mit resorbierba- gend, Biotin in pharmakologischen
rem freiem Biotin führt) und dem De- Dosen auch beim Menschen zur Be-
fekt der Holocarboxylase-Synthetase, handlung von brüchigen Nägeln und
der bei den betroffenen Kindern zu ei- Haarerkrankungen einzusetzen (5).
nem Mangel an Carboxylasen führt.
Da die biotinabhängigen Carboxylasen Biotin bei brüchigen Nägeln
lebenswichtige Stoffwechselfunktio-
nen erfüllen, führt ihr Mangel zu er- Die Bildung der Nägel erfolgt durch
heblichen metabolischen und mor- hoch spezialisierte Keratin-bildende
phologischen Störungen sowie zu den Epidermiszellen, die ihre Teilungsakti-
klassischen Biotinmangelsymptomen. vität in der Nagelmatrix entfalten. Von
Das klinische Bild ist bei beiden De- dort schieben sich die neu gebildeten
fekten ähnlich. Auch hier beobachtet Nagelplatten wöchentlich um wenige
man – neben schweren Formen mit Ke- Millimeter vor. Die dachziegelartig an-
toazidose, Erbrechen und Hypotonie – geordneten Keratinzellen des Nagels
Hautausschläge und Alopezie.
werden – ähnlich wie die Cuticulazel-
len des Haars – von einer Zementsub-
Biotin – Anwendung und
stanz zusammengehalten. Brüchige
Wirkung
Nägel als Folge einer dystrophischen Störung des Nagelwachstums (Ony-
Bei der Anwendung von Biotin sollte chorrhexis) oder infolge Auflösung
unterschieden werden zwischen einer der Zementsubstanz mit schichtweiser
• Substitutionstherapie (zum Beispiel Absplitterung der Nägel (Onychoschi-
bei nutritiv bedingter Unterversor- sis) können unterschiedliche Ursa-
gung),
chen haben (siehe dazu Interview mit
• einer Langzeittherapie bei here- Prof. Trüeb).
ditären Stoffwechseldefekten in Unter den verfügbaren Studien fin-
pharmakologischen Dosen (5–10 det sich neben verschiedenen Anwen-
mg/Tag [2])
dungsbeobachtungen eine interessante
• und der Einnahme von Biotinsup- elektronenmikroskopische Untersu-
plementen in pharmakologischen chung sowie eine neuere (und die ein-
Dosen (2,5–5 mg/Tag) unabhängig zige) plazebokontrollierte Doppel-
von Biotinmangelzuständen, viel- blindstudie mit insgesamt 54 Patienten
mehr zur Nutzung eigenständiger mit reduzierter Nagelqualität, die über
pharmakologischer Effekte (1).
einen Zeitraum von sechs Monaten täg-
Aus veterinärmedizinischen Arbei- lich 2,5 mg Biotin einnahmen. Nach
ten der 1980er-Jahre ist bekannt, dass Abschluss der Therapie liess sich in der
pharmakologische Biotindosen bei Verumgruppe – im Vergleich mit Pla-
Pferden, Kühen und Schweinen ohne zebo – ein statistisch signifikanter
eindeutig erkennbaren Biotinmangel Unterschied in der Nagelqualität fest-
zu einer Verbesserung der Huf- und stellen. Wie die Bestimmung des Bio-
Klauenqualität geführt haben (3). In- tinspiegels im Serum vor Beginn der
vitro-Untersuchungen mit kultivierten Studie und nach Behandlungsende
Keratinozyten belegen darüber hinaus zeigte, konnte bei keinem Patienten
den stimulierenden Effekt von Biotin ein Biotindefizit nachgewiesen werden
bei Wachstum und Differenzierung (8). Damit bestätigen sich die aus der
der keratinbildenden Epidermiszellen Tiermedizin bekannten Beobachtun-
(3). Dabei konnte in vitro nachgewie- gen, dass der positive Einfluss von Bio-
sen werden, dass sich unter Biotin tin nicht an einen Biotinmangel ge-
nicht die Menge der gebildeten Zyto- bunden, sondern als eigenständige
pharmakologische Wirkung interpretiert werden muss.
Im Rahmen der klinischen Anwendungsbeobachtungen (5, 6) wurden vergleichbar positive Ergebnisse erzielt. Einmal an 45 Patienten mit brüchigen Nägeln unbekannter Genese, die täglich mit 2,5 mg Biotin behandelt wurden und von denen 91 Prozent nach einer durchschnittlich sechsmonatigen Therapie eine Besserung erzielten (5). Ebenso positiv sind die Resultate der zweiten Untersuchung (6) mit 621 Patienten mit Onychoschisis und/oder Onychorrhexis: mehr als 90 Prozent der mit 2,5 mg Biotin pro Tag behandelten Patienten zeigten nach Abschluss der zehnmonatigen Therapie eine Heilung oder deutliche Besserung ihrer Symptome.
Bereits 1990 überprüften Colombo et al. (6) den Nutzen einer Biotintherapie bei brüchigen Nägeln mit Hilfe elektronenmikroskopischer Untersuchungen, wobei die Nägel vor und nach der Biotinbehandlung hinsichtlich Nageldicke sowie dem Zustand der Nageloberfläche überprüft wurden. Die Gabe von Biotin (2,5 mg/Tag) führte zu einer Zunahme der Nageldicke, gleichzeitig liess sich auch die vor der Behandlung unregelmässige Oberflächenbeschaffenheit der Nägel entweder vollständig (55,5%) oder nahezu (44,5%) renormalisieren.
Biotin sei bei Nagelbrüchigkeit als Therapie der Wahl anzusehen, resümierte K.H. Schmidt in seiner Übersichtsarbeit, in der er die Wirkmechanismen verschiedener Wirkstoffe gegen brüchige Nägel verglich. Der Artikel stützt sich auf vorhandene Literatur sowie auf Monografien des Bundesgesundheitsamtes und bewertet diverse Vitamine (u.a. Biotin), Proteine, Mineralstoffe, Aminosäuren und sonstige Substanzen, wie Hirse und Hefe. Lediglich für Biotin fand er experimentell gesicherte, für den Menschen relevante Aussagen, die eine eigenständige pharmakologische Wirkung vermuten lassen.
Biotin bei Haarwachstums-
störungen und Haarausfall
Das Haar besteht aus kettenförmig angeordneten Keratinmolekülen, die ihm seine helixartige Struktur verleihen. Wie beim Nagel werden die dachziegelartig übereinander liegenden Zellen der Haarcuticula durch eine Zementsubstanz zusammengehalten. Das Haar wächst aus dem Haarbalg; im pro-
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Interview:
Biotin bei Störungen des Haar- und Nagelwachstums: Kontrollierte Studien fehlen
Über die Ursachen von Haarwachstumsstörungen und brüchigen Nägeln sowie die Grenzen und Möglichkeiten von Biotin im klinischen Alltag aus der Sicht des Dermatologen und Haarspezialisten sprachen wir mit Prof. Dr. med. Ralph Trüeb, Universitätsspital Zürich.
SZE: Herr Professor Trüeb, wie häufig sind Störungen des Nagel- und Haarwachstums, und was sind die Auslöser? Prof. Ralph Trüeb: Recht häufig. Bei über 90 Prozent der Menschen, die über Haarausfall klagen, liegt ein genetisch bedingter Haarausfall vor, die androgenetische Alopezie, die bei den Männern zur Glatzenbildung und bei den Frauen zu einer altersabhängig zunehmenden Ausdünnung der Haare im Scheitelbereich führt. Diese werden heute erfolgreich mit Medikamenten wie Finasterid (nur für Männer) oder Minoxidil (für Männer und Frauen) behandelt. Selbstverständlich beschränkt sich die Wirkung der Therapie bei dieser Form des Haarausfalls auf die Dauer der Behandlung. Die zweithäufigste Ursache ist der diffuse, symptomatische Haarausfall infolge eines erkennbaren Ereignisses: eine schwere fiebrige Krankheit, eine Entbindung, eine Operation in Vollnarkose mit grossem Blutverlust beispielsweise. Wenn die Ursache behoben ist, erholt sich das Haarwachstum in diesen Fällen spontan wieder. Einem Haarausfall infolge von Mangelzuständen liegt in den allermeisten Fällen der bei Frauen häufige Eisenmangel zugrunde, weniger häufig sind andere Nährstoffmängel, wie Mangel an Vitaminen oder Spurenelementen. Die dritthäufigste Ursache, die etwa so häufig ist wie der diffuse Haarausfall und oft auch bei Kindern vorkommt, ist der kreisrunde Haarausfall, die Alopecia areata, die durch eine – von Auge nicht sichtbare – Haarwurzel(mikro)entzündung bedingt und Ausdruck einer Autoimmunkrankheit ist, bei der das Immunsystem die Haarwurzel im Wachstum beeinträchtigt. Auch bei Alopecia areata kann es zu Nagelveränderungen, wie Nageltüpfelung oder Sandpapiernägeln, kommen. Die meisten Nagelprobleme, etwa Brüchigkeit, sind dagegen bedingt durch zu ag-
Professor Ralph Trüeb
gressive äussere Einwirkungen. Weniger häufig können Nagelwachstumsstörungen durch nutritive Defizite wie Eisenmangel bedingt sein, oder durch Allgemeinkrankheiten wie Schilddrüsenfunktionsstörungen sowie, wenn auch weniger häufig, durch vorübergehende schwere fiebrige Krankheiten, die zu Querrillen führen. Längsrillen sind gewöhnlich altersbedingt. Wir Hautärzte sehen nicht selten auch Nagelveränderungen infolge Pilzinfektion oder Hautkrankheiten mit Nagelbeteiligung, in erster Linie Schuppenflechte (Psoriasis) und Ekzeme.
Die Einnahme von Hormonpräparaten, wie der Pille oder einer Hormonersatztherapie, hat ja beträchtliche Auswirkungen auf das Haarwachstum. Auf was sollte man hier achten? Das ist klar. Beim anlagebedingten Haarausfall spielen die Hormone eine grosse Rolle. Deshalb bekommen Männer mit hohen männlichen Hormonspiegeln eine Glatze; bei Frauen sind es Hormonschwankungen, die zu einem Missverhältnis zwischen Östrogenen und männlichen Hormonen führen und hormonabhängige Haarausfallsschübe auslösen. Da kommt es natürlich darauf an, was man für Hormonpräparate nimmt. Wenn der Anteil des Gelbkörperhormons eine leichte männliche Hormonwirkung hat, wird man diesen Typ von Haarausfall verstärken. Es ist also günstiger, Hormonpräparate zu nehmen, die keine männliche Hormonwirkung haben
oder einen antagonistischen Effekt aufweisen, wie Antiandrogene. Bei diesem Typ von Haarausfall empfiehlt man Frauen heute jedoch keine Hormontherapie mehr, da sich diese kürzlich in einer Studie (Vexiau et al., Br J Dermatol. 2002; 146: 992–9) als unwirksam erwiesen hat, ausser es würde eine Hormonstörung mit krankhaft erhöhten männlichen Hormonen vorliegen.
Welche Rolle spielt Biotin bei Haarund Nagelproblemen? Der Biotinmangel ist generell sehr selten. Bei der exzessiven Einnahme von Eiklar kann es zu Biotinmangel kommen, weil das Avidin im Eiweiss Biotin bindet und unwirksam macht. Biotin hat jedoch sicher einen wichtigen Effekt auf das Haarwachstum. Wie sehr wir Biotin und einen funktionsfähigen Biotinstoffwechsel für die Haare brauchen, zeigen uns die sehr seltenen genetischen Erkrankungen des Biotinstoffwechsels: der Biotinidasedefekt oder der multiple Carboxylasedefekt. Diese Menschen haben alle Hautveränderungen und Haarwuchsstörungen.
Ist Ihrer Ansicht nach die Gabe von Biotinsupplementen bei Haarausfall und brüchigen Fingernägeln sinnvoll, selbst wenn kein Biotinmangel nachgewiesen oder wahrscheinlich ist? In der Tiermedizin wird dieses Therapieprinzip ja mit Erfolg angewendet. In der Regel nutzen Supplemente von Vitaminen oder Spurenelementen wenig, wenn keine Mangelerscheinungen bestehen. Dies gilt auch für Biotin – mit einer Ausnahme, nämlich bei den Nägeln. Da gibt es eine veterinärmedizinische Untersuchung, die zeigt, dass Biotin zur Härtung der Hufe bei Nutztieren führt. Darum hat man es auch zur Behandlung brüchiger Nägel beim Menschen eingesetzt. Hier gibt es die schönen elektronenmikroskopischen Untersuchungen von Colombo aus dem Jahre 1990 (7), die gezeigt haben, dass sich die Nagelbrüchigkeit Onychoschisis nach Biotineinnahme bessert.
Sollte Biotin dann nicht auch auf die Haare wirken? Es gibt zwar ein paar kleinere Arbei-
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ten, aber keine einzige kontrollierte Studie, die einen positiven Effekt auf die Haare nachgewiesen hätte. Auch die Studie von Floersheim (11) ist eine reine klinische Anwendungsbeobachtung. Damit fehlt einfach die heute geforderte Evidenz. Interessant ist hier einzig die Arbeit von Shelley et al. aus den 1980er-Jahren (12), die Biotin zur Behandlung von unkämmbaren Haaren bei einem Kind eingesetzt haben, was zu einer Besserung der Haarqualität geführt hat. Unkämmbare Haare sind gekennzeichnet durch eine Längsfurchung des Haarschaftes, wahrscheinlich bedingt durch eine Reifungsstörung im Bereich der Haarwurzeln. In Analogie dazu habe ich bei Kindern mit so genannten losen Anagenhaaren, die auch durch eine Reifungsstörung bedingt sind und eine Längsfurchung aufweisen, Biotin eingesetzt. Auch das ist keine kontrollierte Studie, aber ich habe den Eindruck, dass es bei diesen Kindern zu einer Verbesserung des Haarzustandes geführt hat. Primär setze ich Biotin zur Behandlung von Nagelbrüchigkeit ein, unter dem Vorbehalt, dass alle negativen äusseren Faktoren vermieden
werden: Also nicht mehr ungeschützt abwaschen, keinen Nagellack oder Nagellackentferner benutzen und so weiter. Der Patient muss darauf achten, wie er mit seinen Händen und Nägeln umgeht; zusätzlich kann er Biotin einnehmen. Das unterstütze ich und praktiziere ich auch. Was die Anwendung von Biotin bei Haarproblemen betrifft, so setze ich Biotin primär ein bei Kindern mit Qualitätsstörungen der Haare und nicht generell bei Haarausfall. Allerdings muss ich noch erwähnen, dass es im französischsprachigen Raum seit langem Tradition ist, Frauen mit diffusem Haarausfall eine Kombination von Dexpanthenol, Biotin und L-Cystin zu geben. Auch dazu gibt es jedoch keine kontrollierten Studien, sondern nur eine offene Beobachtung aus 1970erJahren. Ich habe dieses Konzept auch übernommen und behandle gesunde Frauen mit anderweitig nicht erklärbarem diffusem Haarausfall gewöhnlich während mindestens drei Monaten mit einer Kombinationstherapie eines L-Cystin-haltigen Nahrungsergänzungsmittels (z.B. 3 Kapseln täglich) oral, Biotin (2,5–5 mg/Tag) oral
und Dexpanthenol (zweimal wöchentlich 1 Ampulle) intravenös. Dabei ist völlig offen, ob die Besserung, die man häufig feststellt, nicht spontaner Natur ist, auf Plazebowirkung oder tatsächlich auf der Medikation beruht. Es gibt auch hier keine kontrollierte Studie.
Wie beurteilen Sie den gelegentlich praktizierten Einsatz von Biotin bei seborrhoischen Hauterkrankungen von Kindern und Kleinkindern? Bei Säuglingen und Kleinkindern kann sich unter einer seborrhoischen Dermatitis-artigen Hautentzündung tatsächlich hin und wieder ein Biotinmangel verstecken – entweder im Rahmen einer inadäquaten parenteralen Alimentation oder in den seltenen Fällen einer genetisch bedingten Störung des Biotinstoffwechsels. Ich habe hier gar keine Bedenken, eine Biotinbehandlung (2,5 mg/Tag) zu probieren, es ist auch für Kinder problemlos verträglich.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte: Claudia Rheinke
ximalen Haarfollikel erfolgt die Diffe- ausfall beim Menschen in erster Linie
renzierung der Haarwurzelzellen. Der anlagebedingt (siehe dazu Interview
Haarfollikel verfügt über eine gute Ge- mit Prof. Trüeb).
fässversorgung, die bis in die Haar- Nachdem in der Tiermedizin Biotin
papille reicht und die Haarmatrix mit seit langem erfolgreich zur Behand-
den notwendigen Substanzen versorgt lung von Haar- beziehungsweise Fell-
(10). Die Bildung der Haare erfolgt in problemen gegeben wurde, lag es
drei rhythmischen Phasen: In der Ana- nahe, das Vitamin auch beim Men-
genphase ist das Haar fest mit der Pa- schen zur Therapie von Haarproble-
pille verbunden; in der Katagenphase men einzusetzen. Auch hier ging man
stellt das Haar sein Wachstum ein, löst davon aus, dass Biotin – unabhängig
sich von der Papille und wandert im von den typischen Biotinmangeler-
Follikel nach oben; in der Telogenpha- scheinungen – möglicherweise eine ei-
se wird das Haar von einem nachwach- genständige pharmakologische Wir-
senden neuen Haar in Höhe der kung entfalten könnte. Die Studien zur
Talgdrüse ausgestossen. Haarausfall ist Wirkung von Biotin auf brüchige Nä-
beim Menschen unter anderem eines gel hatten bereits ergeben, dass sich –
der charakteristischen Symptome des wie die Patienten berichteten – nicht
Biotinmangels. Allerdings ist der Haar- nur Nagelprobleme, sondern auch
Haarausfall und Haar-
Tabelle 2: Empfohlene Biotinzufuhr (2)
wachstumsstörungen unter der Biotintherapie zu bessern schienen. Zur
Altersgruppe Kinder 1 bis 3 Jahre 4 bis 6 Jahre 7 bis 9 Jahre
Biotinzufuhr (µg/Tag)
20 25 30
Wirksamkeit von Biotin bei Haarproblemen wurden allerdings nur zwei neuere (nach 1980 publizierte) Arbeiten gefunden, darunter eine Fall-
Kinder und Jugendliche 10 bis 17 Jahre
30–100
studie sowie eine klinische Anwendungsbeobachtung. Hier wurden
Erwachsene
30–100
93 Patienten (65 Frauen und 28 Männer) mit vor-
wiegend androgenetischem Haarausfall über fünf bis zehn Monate mit 2,5 mg Biotin täglich behandelt; dabei wurden die Behandlungsergebnisse durch «Hair Counts» objektiviert. Bei 64 Prozent der Patienten hatte der Haarausfall nach der Therapie deutlich abgenommen, 9 Prozent wiesen eine leichte, 27 Prozent keine Besserung auf. Darüber hinaus registrierten 70 Prozent der Patienten eine deutlich gebesserte Haarqualität sowie eine Besserung der brüchigen Nägel (80%). 1985 berichtete Shelley in seiner Fallstudie über den positiven Einfluss einer Biotinbehandlung bei einem Kind mit dem Syndrom unkämmbarer Haare. Unkämmbare Haare sehen aus wie «fein gesponnenes Glas» (12), sind dünn, brechen leicht, fallen bei leichtem Zug büschelweise aus und stehen nach allen Seiten ab. Die Haaranalysen ergaben normale Schwefelgehalte; die Urinuntersuchung zeigte keine Auffälligkeiten; ebenfalls ergaben sich keine Hinweise auf biotinabhängige Stoffwechseldefekte. Elektronenmikroskopisch fielen jedoch ungewöhnliche Haarformen mit dreieckförmigen Strukturen auf. Nach einer dreiwöchigen Behandlung mit 1 mg Biotin pro Tag begann sich das Haar zu erholen und wieder zu wachsen; vier Monate nach Therapiebeginn war die Brüchig-
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keit der Haare sowie der Haarausfall verschwunden, die Haare liessen sich wieder kämmen. Die dreieckige Haarform blieb jedoch erhalten (12).
Fazit
Die Tiermedizin kennt und nutzt die
positiven Effekte von Biotin auf Haare
(Fell), Klauen und Hufe von Nutztie-
ren seit langem mit Erfolg. Es lag da-
her nahe, die Wirksamkeit von Biotin
bei Haar- und Nagelproblemen in kli-
nischen Studien auch beim Menschen
zu überprüfen Die Evidenz eines Wirk-
stoffes gilt jedoch heute nur dann als
erwiesen, wenn seine Wirksamkeit in
kontrollierten klinischen Studien an
einem möglichst grossen Patientenkol-
lektiv nachgewiesen wurde. Hier liegt
die Schwachstelle der meisten klini-
schen Daten, die in den letzten Jahren
über die Wirksamkeit von Biotin bei
Haar- und Nagelproblemen publiziert
wurden. Bis auf eine plazebokontrol-
lierte Doppelblindstudie sowie eine in-
teressante Arbeit, die den Biotineffekt
an brüchigen Nägeln elektronen-
mikroskopisch nachweisen konnte,
wurde die Wirkung des Vitamins mehr-
heitlich in klinischen Beobachtungs-
studien untersucht. Dennoch: Die bis-
her vorhandenen Daten lassen
vermuten, dass Biotin bei der Behand-
lung von Haarausfall, Haarwachs-
tumsstörungen und brüchigen Nägeln
mehr kann, als üblicherweise ange-
nommen wird. Dabei scheint seine the-
rapeutische Wirkung offenbar nicht an
einen nachweisbaren Biotinmangel ge-
bunden. Demnach muss davon ausge-
gangen werden, dass Biotin im physio-
logischen Konzentrationsbereich als
Koenzym fungiert, während es in
höheren Konzentrationen offenbar in
die Differenzierung der Epidermiszel-
len eingreift – wie In-vitro-Untersu-
chungen belegen – und so die Keratin-
strukturen der Nägel und Haare mit
beeinflusst.
Auch wenn der Nachweis der gefor-
derten Evidenz bisher nicht gegeben
ist – die gute Verträglichkeit von Biotin
(in Dosierungen von 2,5–5 mg/Tag), die
fehlenden Nebenwirkungen sowie
seine Akzeptanz, die in allen Studien
zu einer optimalen Compliance führte,
sind allein Grund genug, bei Wachs-
tumsstörungen der Haare sowie Haar-
ausfall und brüchigen Nägeln auch
eine Biotinbehandlung in Erwägung
zu ziehen.
I
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