Transkript
4 • 2016
Neues zu Cholesterin
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Kommentar von Dr. med. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur
Zu Beginn meines Kommentars möchte ich ausdrücklich nochmals das wich-
Dr. med. R. Imoberdorf
das nun das endgültige Aus für die «Lipid-HerzHypothese» oder die «Cholesterin-Herz-Hypo-
tigste Resultat dieser Analyse des Minnesota Coronary Experiments (MCE) hervorheben: Durch die Reduktion von Cholesterin in der Nahrung und die Substitution von gesättigten durch mehr-
Klinik für Innere Medizin Kantonsspital Winterthur
8401 Winterthur reinhard.imoberdorf@ksw.ch
these» oder die «Diet-Heart-Hypothese», wie man sie auch immer nennen mag?
Fettreduktionsempfehlungen ohne Einfluss auf die Prognose
fach ungesättigte Fettsäuren wurde die Choleste-
Wie Gary Taubes in einem sehr lesenswerten Artikel schreibt,
rinplasmakonzentration um 15 Prozent gesenkt. Je
konnten 50 Jahre Forschung und hunderte von Millionen Dol-
tiefer die Cholesterinplasmakonzentration, desto
lar Kosten nie beweisen, dass eine fettarme Ernährung mit
höher war das Sterblichkeitsrisiko!
einer längeren Lebenserwartung korreliert (3). Im MCE und
in der SDHS wurde das Gesamtfett aber nicht reduziert, son-
Die Originalstudie wurde 1973 beendet, aber erst 16 Jahre
dern gesättigte durch ungesättigte linolsäurereiche Fettsäu-
später publiziert (1). Vielleicht ging es darum so lange, weil
ren ersetzt. Die Linolsäure ist eine essenzielle Omega-6-Fett-
die Resultate negativ und darum so schwer zu verdauen
säure, die mit der Nahrung aufgenommen werden muss. Sie
waren? Im Originalpaper ist zu lesen, dass die Autoren die
wird über Gamma-Linolensäure, Dihomo-Gamma-Linolen-
Daten auf verschiedenste Art und Weise betrachtet hätten:
säure, zur Arachidonsäure (20:4 n-6) umgewandelt (4). Mehr
«for example, persons who had a poor cholesterol response
als 80 proinflammatorische Substanzen, sogenannte Eicosa-
or whose initial electrocardiogram showed evidence of a pre-
noide, werden aus der Arachidonsäure gebildet, die entzün-
vious myocardial infarction were omitted from the study.
dungsfördernd wirken und in der Pathogenese der Arterio-
Other combinations of end-points were examined. Subse-
sklerose mit eine Rolle spielen könnten. Vielleicht wurden
quent events after the initial one in a given subject were dis-
einfach die falschen ungesättigten Fettsäuren substituiert?
regarded. None of these maneuvers changed the conclu-
In der Nurses Health Study (5) mit über 80 000 Kranken-
sions.» Die Autoren konnten es drehen und wenden, wie sie
schwestern zeigte die gesamte Fettaufnahme keine signifi-
wollten, die Resultate blieben negativ. Auch die unterschla-
kante Korrelation zu koronaren Ereignissen. Die Aufnahme
genen Daten konnten daran nichts ändern. Lobend zu bemer-
von gesättigten und Transfettsäuren erhöhte das koronare
ken ist, dass die Autoren den harten Endpunkt «Tod» mit
Risiko, während der Konsum von einfach und mehrfach
einer Autopsie bestätigt haben. Sie erreichten eine Autop-
ungesättigten Fettsäuren das Risiko verminderte. Das syste-
sierate von 57,1 Prozent, wovon wir nur träumen können.
matische Review von Hooper et al. (6) untersuchte den Effekt
Ramsden et al. haben diese neuen nicht publizierten Daten
einer Fettreduktion oder Fettmodifikation auf kardiovasku-
gesucht, weil sie bereits zuvor nicht publizierte Daten einer
läre Endpunkte. Die Auswertung von 27 Studien mit 30 902
wichtigen Ernährungsstudie, nämlich der Sydney Diet Heart
Personenjahren zeigte keine Reduktion der Gesamtsterblich-
Study (SDHS) gefunden hatten (2). Diese zwischen 1966 und
keit (Ereignisrate [ER] 0,98; 95%-Vertrauensintervall [VI]
1973 durchgeführte Studie wollte ebenfalls zeigen, dass der
0,86–1,12) und keine Reduktion der kardiovaskulären Sterb-
Ersatz gesättigter Fette durch linolsäurereiche, ungesättigte
lichkeit (ER 0,91; VI 0,77–1,07). Im Abstract zum Artikel lesen
pflanzliche Öle die Inzidenz der koronaren Herzkrankheit zu
sich diese Resultate jedoch folgendermassen: «Alteration of
senken vermag. Die Analyse mit allen Daten ergab auch hier
dietary fat intake had small effects on total mortality …» und
ein klares Bild: In der Interventionsgruppe war das Risiko für
«Cardiovascular mortality was reduced by 9% (0.91; 0,77–
die Gesamt- und die kardiovaskuläre Mortalität signifikant
1,07)».
höher trotz einer Senkung der Cholesterinplasmakonzentra-
Bei der Durchsicht der «Fettliteratur» fällt immer wieder auf,
tion. Sind das überraschende, paradoxe Resultate oder ist
dass die Formulierungen in Abstracts nicht unbedingt durch
–5–
Neues zu Cholesterin
4 • 2016
die Daten gestützt werden und dass negative Studien durch die Befürworter der Fetthypothese schlichtweg ignoriert werden. Zudem führte auch in der Women’s Health Initiative Randomized Controlled Dietary Modification-Studie bei 48 836 postmenopausalen Frauen die Reduktion der Gesamtfettaufnahme und die Erhöhung der Einnahme von Gemüsen, Früchten und Körnern über 8,1 Jahre zu keiner Verminderung von tödlichen und nicht tödlichen Herzinfarkten und Schlaganfällen (7).
Vorsätzliches Ignorieren unliebsamer Tatsachen Hooper et al. haben 2012 ein weiteres systematisches Cochrane Review verfasst (8), in dem sie den Effekt einer Fettreduktion oder Fettmodifikation auf die Gesamtmortalität, die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität sowie auf individuelle Outcomes wie Myokardinfarkt, Hirnschlag und Krebs analysierten. Es war eine äusserst aufwendige Arbeit, für die man die Autoren nur beglückwünschen kann. Einziges Problem: Sämtliche harten Endpunkte waren negativ! Die Autoren fanden «die Nadel im Heuhaufen» aber doch noch. Sie analysierten einen kombinierten Endpunkt, bestehend aus einem der folgenden Ereignisse: kardiovaskulärer Tod, kardiovaskuläre Morbidität (nicht tödlicher Herzinfarkt, Angina pectoris, Hirnschlag, Herzinsuffizienz, peripher vaskuläre Ereignisse, Vorhofflimmern) und nicht geplante kardiovaskuläre Interventionen (kardiovaskuläre Bypasschirurgie oder Angioplastie). Die relative Risikoreduktion für diesen kombinierten Endpunkt betrug 14 Prozent (RR 0,86; 95%-VI 0,77–0,96). Dieser statistisch signifikante, klinisch jedoch irrelevante Effekt wurde im Abstract als Hauptresultat beschrieben, die vollständig negativen Ergebnisse wurden mit keinem Wort mehr erwähnt, und es wurde die Empfehlung abgegeben, gesättigte Fette einzuschränken und durch ungesättigte Fette zu ersetzen. Da schweigt des Sängers Höflichkeit.
Ernährungsempfehlungen 1977 haben die Behörden in den USA und 1983 in England Ernährungsempfehlungen eingeführt, die sich beide auf die Einschränkung des Nahrungsfettes konzentrierten. Im Besonderen wurde empfohlen, die gesamte Fettmenge auf 30 Prozent der totalen Energieaufnahme zu reduzieren und höchstens 10 Prozent gesättigte Fette zu konsumieren (9). Harcombe et al. (10) führten ein systematisches Review mit Metanalyse durch, das den Zusammenhang zwischen Fett in der Ernährung, Cholesterinplasmakonzentrationen und der Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit untersuchte, und zwar bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Ernährungsrichtlinien. Sie fanden lediglich sechs randomisierte, kontrol-
–6–
lierte Studien, die sie in die Analyse einschliessen konnten, und es fand sich kein Unterschied sowohl in der Gesamt- wie auch in der kardiovaskulären Mortalität. Bis 1983 wurden also für 220 Millionen Amerikaner und 56 Millionen Engländer Ernährungsempfehlungen zur Fettreduktion eingeführt ohne jede Evidenz! Auch die Einschränkung des Nahrungscholesterins auf 166 mg pro Tag hatte keinen protektiven Effekt, wie die Analyse von Ramsden gezeigt hat, im Gegenteil. Ich möchte darum in diesem ausführlichen Kommentar noch kurz auf das Thema Cholesterin in der Ernährung eingehen.
Der Cholesterinmythos Wohl kein anderes Thema wird seit vielen Jahrzehnten kontroverser diskutiert. Allgemein wird angenommen oder behauptet, dass mit zunehmender Cholesterinplasmakonzentration die koronare Mortalität zunimmt. Es gibt aber eine Vielzahl von Ausnahmen von dieser Regel. Die FraminghamUntersuchungen Ende der Fünzigerjahre bestätigten die Meinung, nach der Teilnehmer mit hohen Gesamt-Cholesterinplasmakonzentrationen ein höheres Herzinfarktrisiko aufweisen als diejenigen mit niedrigen Werten. Eine genaue Auswertung der Cholesterindaten 30 Jahre nach Beginn ergab ein völlig anderes Bild (11). Zwar fand sich bei unter 50-Jährigen eine direkte positive Beziehung zwischen Cholesterinplasmakonzentrationen und der 30-Jahre-Gesamtsowie der kardiovaskulären Mortalität. Bei den über 50-Jährigen korrelierte jedoch die Gesamtsterblichkeit weder mit tiefen noch mit hohen Cholesterinplasmakonzentrationen. Noch schlimmer: Es zeigte sich eine inverse Korrelation zwischen Cholesterinplasmakonzentrationen während der ersten 14 Jahre und der Mortalität über die folgenden 18 Jahre (11% Anstieg der Gesamtmortalität und 14% Anstieg der kardiovaskulären Mortalität pro 0,026 mmol/l [1 mg/dl] jährlichem Abfall der Cholesterinplasmakonzentrationen). Die Interpretation dieser Daten war schwierig, wichtig ist aber zu beachten, dass Korrelationen nicht mit Kausalität gleichgesetzt werden dürfen. Der Grund, warum hohe Cholesterinplasmakonzentrationen in vielen Studien eine koronare Herzerkrankung voraussagen, könnte sein, dass die wahren, eigentlich kausalen Ursachen für Koronarerkrankungen auch die Cholesterinplasmakonzentrationen erhöhen. Beispielsweise führen mentaler Stress, körperliche Inaktivität und Rauchen zu einer Erhöhung der Cholesterinplasmakonzentrationen. Die Darstellung in der ursprünglichen Veröffentlichung der Framingham-Daten wurde teilweise kritisiert, da in ihr der gegenteilige Eindruck erweckt worden sein soll. Die Framingham-Studie ist in der Zwischenzeit als eines der Musterbeispiele für den Interpretationsspielraum von Studien in die Lehrbücher eingegangen.
4 • 2016
Neues zu Cholesterin
Beobachtungen und Experimente Die Einschränkung des Nahrungscholesterins führte in verschiedenen Interventionsstudien nicht zum erhofften Erfolg. Sogar Ancel Keys, der in seiner berühmten, viel kritisierten Sieben-Länder-Studie eine bemerkenswerte positive Korrelation zwischen der Aufnahme von gesättigtem Fett, der Cholesterinplasmakonzentration und der KHK-Mortalität zeigte, kam 20 Jahre später zum Schluss: «There’s no connection whatsoever between cholesterol in food and cholesterol in blood. And we’ve known that all along. Cholesterol in the diet doesn’t matter at all unless you happen to be a chicken or a rabbit.» Er sprach damit Experimente von Ignatowski und Anitschkow an, die Hasen mit Fleisch, Eiern und Milch mästeten und so Läsionen in den Arterien produzierten, die makroskopisch den menschlichen ähnelten. Hasen fressen aber kein Fleisch und keine Eier, und bei Experimenten mit anderen Tierspezies waren die Resultate nicht reproduzierbar.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf Die Initianten des viel beachteten 115 Millionen Dollar teuren Multiple Risk Factor Intervention Trials (MRFIT, 12) waren überzeugt, dass die koronare Mortalität gesenkt werden könne, wenn man mehrere Risikofaktoren gleichzeitig positiv beeinflusst: «It is extremely doubtful whether any other current experimental or analytical studies, except MRFIT, will be able to determine the actual efficacy of multiple risk factor reduction.» Über 350 000 Männer wurden gescreent, und davon wurden schliesslich 12 866 zwischen 35 und 57 Jahren mit sehr hohem KHK-Risiko randomisiert. Die Interventionsgruppe erhielt eine intensive Beratung mit dem Ziel, das Rauchen aufzugeben, den Blutdruck und das Cholesterin zu senken (Ernährungsumstellung in der Interventionsgruppe: Gesamtcholesterin –42%, gesättigte Fettsäuren –28%, mehrfach ungesättigte Fettsäuren +33%, Kalorienzahl –21%). Die Kontrollgruppe blieb in der üblichen Behandlung ihrer Hausärzte. Die Resultate waren für die Autoren eine schwere Enttäuschung. Es fand sich absolut kein Unterschied zwischen den Gruppen: weder für die koronare noch für die gesamte Mortalität. Eine der Erklärungen war, dass die intensive Ernährungsintervention zu einer Abnahme der Cholesterinplasmakonzentration von lediglich 2 Prozent geführt habe. Dies ist aber meiner Meinung nach ein von den Autoren sicherlich ungewollter Beweis oder zumindest eine weitere Bestätigung, dass die Einschränkung des Nahrungscholesterins nichts bringt. In der Folge wurden von der MRFIT Studie an die 50 Publikationen veröffentlicht. Post-hoc-Analysen, statistische Turnübungen und andere Manipulationen führten beispielsweise zu folgender unglaublicher Schlussfolgerung:
–7–
«In conclusion, we have shown that it is possible to apply an
intensive long-term intervention program against three co-
ronary risk factors with considerable success in terms of risk
factor changes.» Dies die Schlussfolgerung aus einer wohl-
gemerkt negativen Studie! Hier braucht es wohl keinen wei-
teren Kommentar.
Schlussfolgerung – eine fette Geschichte
Die Ergebnisse aus der Analyse von Ramsden et al. sind
keine Überraschung. Eine Fettreduktion in der Ernährung
oder eine Substitution von gesättigten durch mehrfach un-
gesättigte linolsäurereiche Fettsäuren ist nicht evidenzba-
siert und führt zu keinem besseren Überleben. Nahrungscho-
lesterin ist völlig unbedenklich, und die Begrenzung der
Nahrungscholesterinzufuhr wurde mangels Evidenz sogar in
den neuesten amerikanischen Ernährungsrichtlinien von
2015 ersatzlos gestrichen (13). Freispruch für Fett, Eier & Co!
x
Literatur: 1. Frantz ID et al.: Test of effect of lipid lowering by diet on cardiovascular risk. The Minnesota Coronary Survey. Arteriosclerosis 1989; 9: 129–135. 2. Ramsden CE et al.: Use of dietary linoleic acid for secondary prevention of coronary heart disease and death: evaluation of recovered data from the Sydney Diet Heart Study and updated meta-analysis. BMJ 2013; 346: e8707. 3. Taubes G: Nutrition. The soft sciences of dietary fat. Science 2001; 291: 2536–2545. 4. Adam O. SZE 2013; Nr.1: 6–10. 5. Hu FB et al.: Dietary fat intake and the risk of coronary heart disease in women. N Engl J Med 1997; 337: 1491–1499. 6. Hooper L et al.: Dietary fat intake and prevention of cardiovascular disease: systematic review. BMJ 2001; 322: 757–763. 7. Howard BV et al.: Low-fat dietary pattern and risk of cardiovascular disease: the Womens Health Initiative Randomized Controlled Dietary Modification Trial. JAMA 2006; 295 (5): 655–66. 8. Hooper L et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2012; Issue 5. Art. No.: CD002137. DOI: 10.1002/14651858.CD002137.pub3. 9. Select Committee on Nutrition and Human Needs. Dietary goals for the United States. 1st edn. Washington: US Govt Print Off, 1977. 10. Harcombe Z et al.: Evidence from randomized controlled trials did not support introduction of dietary fat guidelines in 1977 and 1983: a systematic review and metaanalysis. Open Heart 2015; 2: e000196. 11. Anderson KM et al.: Cholesterol and mortality. 30 years of follow-up from the Framingham study. JAMA 1987; 257: 2176–2180. 12. Multiple Risk Factor Intervention Trial Research Group. Risk factor changes and mortality results. JAMA 1982; 248: 1465–1477. 13. http://health.gov/dietaryguidelines/2015/guidelines/