Transkript
4 • 2016
Neues zu Cholesterin
Das Komplexe im scheinbar Einfachen
Kommentar von Dr. med. Reinhard Imoberdorf, Chefarzt Innere Medizin, Kantonsspital Winterthur
Meinem Kommentar möchte ich ein Zitat des Biochemikers Elmer V. McCollum
Dr. med. R. Imoberdorf
Epidemiologie Die starke inverse Assoziation zwischen HDL-
(«A History of Nutrition», 1957) voranstellen: «Oversimplification has been the characteristic weakness of scientists of every generation.»
Klinik für Innere Medizin Kantonsspital Winterthur
8401 Winterthur reinhard.imoberdorf@ksw.ch
C-Konzentrationen und koronaren Ereignissen in Beobachtungsstudien (je höher HDL-C desto tiefer die koronare Mortalität) hat das Interesse geweckt, ob zwischen den beiden Parametern
auch eine kausale Beziehung bestehen könnte.
LDL-Cholesterin the «bad» und HDL-Cholesterin the «good
Zur Klärung dieser Frage eignet sich, abgesehen von pro-
guy». Wer hat das nicht schon gehört, und für viele Leute gilt
spektiven randomisierten Studien, auch das Konzept der
dieses Statement als absolute Wahrheit. Zeigt uns die Arbeit
«Mendelschen Randomisierung». Es beruht darauf, dass ge-
von Zanoni et al. plötzlich eine verkehrte Welt? Hohe HDL-
netische Varianten bekannt sind, durch die die Ausprägung
Cholesterinplasmakonzentrationen (HDL-C-Konz.) führten zu
eines Risikomarkers – in diesem Fall das HDL-C – beeinflusst
einem deutlich erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkran-
wird. Sofern das HDL-C ein kausaler Faktor für kardiovasku-
kungen. Sind wir nicht alle trainiert, oder sollte ich sagen,
läre Erkrankungen ist, sollte sich auch ein Zusammenhang
indoktriniert worden, dass wir, wenn wir «LDL» und «HDL»
zwischen diesen genetischen Varianten und dem Risiko für
hören oder lesen, automatisch nur «Cholesterin» denken.
entsprechende Erkrankungen nachweisen lassen. In soge-
Wir reden hier aber von Lipoproteinen!
nannten genomweiten Assoziationsstudien sind zahlreiche
DNA-Varianten – man spricht von Single Nucleotide Polymor-
Kurzer Rückblick in die Physiologie
phisms (SNP) – identifiziert worden, die Einfluss auf diverse
Mit Ausnahmen der gut löslichen Fettsäuren werden Lipide
Lipidfraktionen haben. Nach dem Prinzip der «Mendelschen
wegen ihrer schlechten bis fehlenden Wasserlöslichkeit über
Randomisierung» haben Voight et al. (1) in zwei Analysen die
Vermittlung von Eiweissmolekülen in Lipoproteinpartikeln
mögliche protektive Wirkung des HDL-C überprüft. Für die
transportiert. Die dazu benutzten Apoproteine werden zum
erste Analyse nutzten sie einen Polymorphismus des LIPG-
Grossteil in der Leber gebildet, verfügen über lipophile als
Gens (Asn396Ser), der bei Trägern dieser Genvariante (2,6%
auch hydrophile Sequenzen und sind verantwortlich für den
der Bevölkerung) das HDL-C um 0,14 mmol/l (5,4 mg/dl) im
Transport (Löslichkeit) und die Signalvermittlung, also für die
Vergleich zu Nichtträgern erhöht. Ausgehend von epidemio-
Rezeptorbindung. Der Lipidtransfer von Darm und Leber in
logischen Daten lässt dieser Unterschied in der HDL-C-Kon-
Richtung Peripherie wird als Vorwärtstransport bezeichnet.
zentration eine Reduktion des Herzinfarktrisikos um 13 Pro-
Dieser versorgt periphere Zellen vor allem mit Triglyzeriden,
zent erwarten. Bei der Überprüfung von SNP in 20 Studien
Fettsäuren und Cholesterin. Beim Rückwärtstransport wird
mit 20 913 Herzinfarktfällen und 95 407 Kontrollen war je-
Cholesterin mittels HDL-Partikeln zur Leber zurücktranspor-
doch keine signifikante Beziehung zwischen Genvariante
tiert (Vorstufe für Gallensäuren) oder zu Zellen, die Choleste-
(also HDL-C Erhöhung) und Infarktrisiko festzustellen (1).
rin zu Synthesezwecken benötigen (Steroidhormone, wie z.B.
Auch die zweite Analyse ergab keinen Zusammenhang zwi-
Aldosteron, Kortison, Testosteron und Östradiol, sowie Vit-
schen einem genetischen Score aus 14 häufigen Polymor-
amin D). Es handelt sich dabei also nicht nur um eine «Abfall-
phismen, die alle mit einem erhöhten HDL-C assoziiert sind,
beseitigung» von überschüssigem Cholesterin. Wenn wir jetzt
und dem Herzinfarktrisiko. Eine hohe HDL-C-Konzentration
noch in Betracht ziehen, dass es zusätzlich verschiedene LDL-
garantiert also nicht automatisch bessere Gesundheit. Aber
und HDL-Subklassen gibt, rebelliert der gesunde Menschen-
es kommt noch besser. Wie Zanoni et al. (2) erklären, führte
verstand bei der Annahme, eine so komplexe Krankheit wie
in Mäusen die Überexpression eines bestimmten Rezeptors
die Arteriosklerose könnte man mit der Bestimmung eines
(SR-BI) in der Leber zu tieferen HDL-C Konzentrationen, wo-
Surrogatendpunktes erklären.
bei die Ausbildung einer Arteriosklerose reduziert wurde. Die
–9–
Neues zu Cholesterin
4 • 2016
Deletion des Rezeptorgens (knock-out) resultierte bei den Mäusen dagegen in höheren HDL-C-Konzentrationen und zunehmender Arteriosklerose. Diese Resultate haben Zanoni et al. nun auch bei Menschen mit sehr hohen HDL-C-Konzentrationen (aufgrund einer mutationsbedingten funktionslosen Variante des SR-BI-Rezeptors) nachweisen können: Je höher die HDL-C-Konzentrationen, desto höher das Risiko für koronare Ereignisse. Der genaue Zusammenhang zwischen HDL-C-Konzentration und arteriosklerotischen Erkrankungen ist enorm komplex. Es mehren sich Hinweise, dass funktionelle HDL-Eigenschaften und der Cholesterinflux wichtiger für das kardiovaskuläre Risiko sein könnten als die absolute Höhe der HDL-C-Konzentration.
Therapeutische HDL-Erhöhung enttäuschend Alle in grossen Studien unternommenen Versuche, durch zusätzliche Anhebung der HDL-C Konzentration etwa mit Niacin oder Cholesterinester-Transferprotein-(CETP-)Hemmern wie Anacetrapib, Dalcetrapib, Evacetrapib, die Rate kardiovaskulärer Ereignisse weiter zu reduzieren, schlugen fehl. In der 2007 publizierten randomisierten und doppelblind geführten ILLUMINATE Studie (3) wurde untersucht, ob die Kombination von Torcetrapib mit Atorvastatin gegenüber dem Statin allein kardiovaskuläre Endpunkte bei über 15 000 Patienten reduzieren könnte. In der Interventionsgruppe wurde LDL-C um 25 Prozent gesenkt, während HDL-C um sagenhafte 72 Prozent zunahm. Die Erleuchtung? Leider nein; die Gesamtmortalität stieg um 58 Prozent. Jeffrey B. Kindler, damals CEO bei Pfizer, meinte 2006 noch enthusiastisch «This will be one of the most important compounds of our generation.» So kann man sich täuschen!
Da war doch schon was? Limone sul Garda, ein idyllisches Dorf, liegt am Westufer des Gardasees in der Lombardei. Interessant war die Beobach-
tung, dass von den knapp 1000 Einwohnern viele über 100
Jahre alt wurden. Um 1980 untersuchte ein klinischer Phar-
makologe, Cesare Sirtori aus Mailand, dieses medizinische
Wunder. Er traf dabei auf einen Mann mit spektakulären
Lipidwerten. Sirtori fand eine Mutation im Apolipoprotein A1
des HDL. Diese Mutation liess sich zurückverfolgen bis zu ei-
nem Paar, das 1750 geheiratet hat. Das Dorf war abgeschnit-
ten von der Umwelt, Inzest an der Tagesordnung, und so
konnte Giovanni Pomarelli dieses mutierte HDL-Gen an seine
Nachkommen weitervererben, die allesamt sehr alt wurden.
Die Mutation fand Cesare Sirtori bei 4 Prozent der Einwohner
von Limone, und sie wurde ApoA-1 Milano getauft (4). Be-
merkenswert war die Tatsache, dass alle Familienmitglieder
praktisch keine Arteriosklerose entwickelten. Der Mann mit
den spektakulären Lipidwerten zeichnete sich durch hohe
Triglyzeride aus und eine HDL-C Konzentration von 7 mg/dl
(0,18 mmol/l). Als «normal» betrachtet man bei Männern
eine HDL-C Konzentration von etwa 40 mg/dl (1 mmol/l)! Hat
diese ApoA-1-Milano-Mutation vielleicht zu einem «Turbo-
HDL» geführt, das trotz enorm tiefer Konzentrationen Lang-
lebigkeit garantiert?
Soll ich nun, da die synthetische Herstellung und Verabrei-
chung von ApoA-1 Milano beim Menschen klinisch erfolglos
blieb, den Inzest mit Bewohnern von Limone propagieren
oder wäre es nicht an der Zeit, die Cholesterinhypothesen
endgültig zu beerdigen?
x
Literatur: 1. Voight BF et al.: Plasma HDL cholesterol and risk of myocardial infarction : a mendelian randomisation study. Lancet 2012; 380: 572–580. 2. Zanoni P, Khetarpal SA, Larach DB et al.: Rare variant in scavenger receptor B1 raises HDL cholesterol and increases risk of coronary heart disease. Science 2016; 351 (6278): 1166–1671. 3. Barter P et al.: Effects of torcetrapib in patients at high risk for coronary events. N Eng J Med 2007; 357: 109–2122. 4. Sirtori CR, Franceschini G; Familial disorder of plasma apolipoproteins. Klin. Wochenschrift 1985; 63: 481–489.
– 10 –