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FORUM
Evidenzbasierte Dermatologie
INTERVIEW MIT PROFESSOR DR. MED. DR. H.C. GÜNTER BURG, KLINIKDIREKTOR DER DERMATOLOGISCHEN KLINIK DES UNIVERSITÄTSSPITALS ZÜRICH
Professor Dr. med. Günter Burg,
Klinikdirektor der Dermatologischen Klinik
des UniversitätsSpitals Zürich
I m Namen Ihrer Klinik waren Sie Gastgeber der 87. Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Dermatologie und Venerologie. Die Veranstaltung fand unter dem Motto «evidenzbasierte Dermatologie» statt. Welches waren die Beweggründe, sich diesem Thema zu widmen? Evidenzbasierte Medizin ist ein vor allem in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen in der Medizin ist es wichtig, dass diese sinnvoll und gezielt eingesetzt werden. Dabei soll der Patient individuell jene diagnostischen und therapeutischen Massnahmen erhalten, die am effizientesten sind und möglichst wenig Nebenwirkungen haben. In vielen medizinischen Disziplinen, wie auch in der Dermatologie, wird dieses Thema in der Praxis noch zu wenig beachtet. Deshalb haben wir uns entschlossen, uns in der Tagung intensiver damit zu beschäftigen.
Was waren die Highlights der Tagung? Besonders interessant waren die beiden Übersichtsvorträge von Prof. Dr. Johann Steurer vom Horten Zentrum Zürich und von Prof. Dr. Gottfried Schatz von der Universität Basel sowie diverse Vorträge aus der Dermatologie zur evidenzbasierten Medizin. Zudem sind die Fallvorstellungen der Kliniken immer sehr lehrreich. Auch wurde der Verein «Forum Hautkrebsforschung» vorgestellt, der das Ziel verfolgt, die Hautkrebsforschung in der Schweiz besser zu koordinieren und die Zusammenarbeit zu vertiefen.
Es war uns ein Anliegen, die Zuhörer für die bereits existierenden Leitlinien zu sensibilisieren. Es gibt zum Beispiel die von der Deutschen dermatologischen Gesellschaft für den deutschsprachigen Raum in einem Buch zusammengestellten Leitlinien für Hauterkrankungen, an deren Abfassung auch Autoren aus der Schweiz und Österreich beteiligt waren. Wir stellen fest, dass die Guidelines teilweise noch zu wenig ins Bewusstsein praktizierender Ärzte gelangt sind. Insbesondere sind sie auch für jüngere Ärzte sehr hilfreich, die noch nicht auf einen grossen Erfahrungsschatz zurückgreifen können.
In welchen Bereichen der Dermatologie wurden besonders grosse Fortschritte bezüglich Evidenz erzielt? In den letzten 50 Jahren ist die Diagnostik durch effizientere und zuverlässigere Testmethoden enorm verbessert worden, insbesondere im Bereich immunologischer, autoimmunologischer und allergologischer Erkrankungen. So sind zum Beispiel Allergietests mit viel besser gereinigten Substanzen möglich. Aber auch im Bereich der dermatologischen Therapien sind grosse Erfolge erzielt worden. Ein Beispiel dafür ist die spezifische Immuntherapie, die einen hohen Grad an Wirksamkeit aufweist und für
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welche eine gute Evidenz nachgewiesen wurde. Seit der Entdeckung des Penicillins in der Vierzigerjahren sind auch grosse Fortschritte in der antimykotischen und antibiotischen Therapie von Hauterkrankungen realisiert worden. Vorher war eine wirksame Behandlung von Geschlechtskrankheiten wie der Syphillis nicht möglich.
In welchen Bereichen der Dermatologie ist der Evidenzgrad diagnostischer und therapeutischer Massnahmen noch eher gering? Es gibt in der Dermatologie einige altbewährte Substanzen, deren Wirksamkeit allgemein anerkannt ist, aber nicht mit doppelblind randomisierten Studien nachgewiesen wurde. Wir wissen, dass Harnstoff einen wesentlichen Einfluss auf die Regeneration der Hautbarriere aufweist und bei verschiedenen Hauterkrankungen sinnvoll eingesetzt wird. Da evidenzbasierte Studien fehlen, leisten Krankenkassen in Deutschland keine Beiträge mehr an harnstoffhaltige Präparate. Dieser Entscheid hatte einen Sturm der Entrüstung zur Folge, zumal dadurch die Gefahr besteht, dass an Stelle dieser Präparate vermehrt teurere Kortikosteroide verschrieben werden oder mehr Arztbesuche die Therapie verteuern.
Eine andere, bei Psoriasis oder Ekzemen sehr wirksame Substanz, die wir gelegentlich einsetzen, ist Teer. Auch für diesen Wirkstoff ist die Effektivität leider nicht in evidenzbasierten Studien nachgewiesen.
Ein anderes Thema, das ja kürzlich bezüglich Evidenz diskutiert wurde, ist die Alternativ- oder Komplementärmedizin. Ich denke, dass in der Dermatologie die Komplementärmethoden durchaus ihren Platz haben, aber nicht als Erstmassnahme einzusetzen sind. Wenn die Schulmedizin versagt, kann man sie durchaus in Erwägung ziehen und damit Erfolge erzielen.
Auch bei seltenen Hauterkrankungen ist es aufgrund der geringen Patientenzahl schwierig, signifikante Aussagen zu machen und zu evidenzbasierten Richtlinien zu gelangen. Hier ist die Erfahrung des Arztes wichtig. Die Wahl der diagnostischen und therapeutischen Massnahmen sollte aber immer auf einer rationalen Entscheidungsfindung beruhen.
Bei der Therapie des fortgeschrittenen Melanoms ist die Evidenz ungenügend und erfolgt deshalb im Rahmen kontrollierter Studien an Kliniken, die untereinander vernetzt sind. Dadurch kann dem Patienten unter strengen Sicherheitsmassnahmen und Kontrollen der Zugang zu neuen, innovativen Methoden ermöglicht werden. So ist die dermatologische Klinik des Universitätsspitals in internationalen Netzwerken wie der EOTRC (European Organisation for Treatment and Research on Cancer) tätig. Meist werden Phase-3-Studien durchgeführt, welche die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsoptionen vergleichen.
Gibt es bei Studien Aspekte, die aus ethischen Gründen nicht mehr vertretbar sind? Verpönt ist es heute, in Studien einen Wirkstoff oder eine Methode gegen einen Nullarm, also nur gegen Plazebo, zu prüfen. Heute werden diagnostische oder therapeutische Massnahmen miteinander verglichen. Es wird höchstens beim selben Patienten für einen definierten Zeitrahmen das Verum gegen Plazebo ausgetauscht.
Leitlinien gelten für den Regelfall. Wie verbindlich sind sie im Praxisalltag in bestimmten individuellen Situationen? Gerade bei den komplexen und sich rasch verändernden Fragestellungen in Diagnose, Therapie und medizinischer Technik sind Leitlinien ein geeignetes Mittel, um den medizinischen Entscheidungsprozess zu erleichtern. Sie leisten eine wertvolle Hilfe zur Verbesserung der Qualität der ärztlichen Versorgung, da sie sich auf evidenzbasierte Publikationen und Expertenmeinungen abstützen und damit den aktuellen Stand des Wissens darstellen. Guidelines sind aber nur Empfehlungen und lassen dem behandelnden Arzt die Entscheidung offen, im Einzelfall von ihnen abzuweichen. Eine Diagnose oder Therapie sollte immer individuell auf den Patienten abgestimmt sein. Sieht sich ein Arzt aufgrund seiner Erfahrung gezwungen, von den Vorgaben der Leitlinien abzuweichen, muss sein Vorgehen begründbar und möglichst nahe an der Leitlinie sein. q
Die Redaktion dankt Herrn Professor Dr. med. Günter Burg für das interessante Gespräch.
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