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Geschlechtsunterschiede in der Rheumatologie
Frauen leiden häufiger unter Autoimmunerkrankungen
RHEUMA TOP
Dass nicht alle rheumatologischen Erkrankungen bei Frauen und Männern gleich verbreitet sind, ist schon seit Längerem bekannt. Besonders Autoimmunerkrankungen sind bei Frauen häufiger anzutreffen. Die Gründe dafür sind noch nicht abschliessend geklärt. PD Dr. med. Carmen-Marina Mihai vom Universitätsspital in Zürich präsentierte in ihrem Vortrag den aktuellen Stand des Wissens.
PD Dr. med. Carmen-Marina Mihai, Universitätsspital Zürich, begann ihren Vortrag mit einem Seitenblick in die Kardiologie. Zu den Geschlechtsunterschieden bei Herzerkrankungen liegen schon einige Daten vor. Unter anderem ist bekannt, dass die Frühsterblichkeit nach Herzinfarkt bei jüngeren Frauen (< 50 Jahren) deutlich höher ist als bei altersgleichen Männern (1). «Auch die Auslöser für einen Myokardinfarkt scheinen unterschiedlich zu sein. Während bei Männern physischer Stress den wichtigsten Faktor darstellt, ist dies bei Frauen der psychische Stress», erläuterte sie und ergänzte, dass es auch hinsichtlich der Pathophysiologie akuter Koronarsyndrome Geschlechtsunterschiede gebe. «So scheinen bei Frauen vor allem Vasospasmen und Spontandissektionen kleinerer Arterien von Bedeutung zu sein, was bei einer Koronarangiographie allerdings auch verpasst werden kann», betonte sie. Frauen mit akuten pektanginösen Schmerzen würden daher eine Diagnostik benötigen, die über eine routinemässige Koronarangiographie hinausgeht. Und schliesslich gibt es noch Hinweise darauf, dass Frauen mit einer Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion niedrigere Dosen von Medikamenten wie ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker oder Betablocker benötigen (2). Nicht nur Häufigkeit unterschiedlich In der Rheumatologie schon länger bekannt ist, dass es hinsichtlich der Häufigkeit einzelner Erkrankungen deutliche Geschlechtsunterschiede gibt. «So wissen wir schon seit Jahrzehnten, dass eine Osteoporose vor allem Frauen betrifft», erklärte Mihai. Aber auch die rheumatoide Arthritis (RA) und Kollagenosen wie das Sjögren-Syndrom, der systemische Lupus erythematodes (SLE) oder die systemische Sklerose (SSk) sind bei Frauen verbreiteter als bei Männern (3). Das Geschlecht kann aber nicht nur die Häufigkeit einer Erkrankung beeinflussen, sondern auch ihren Verlauf. So kommt es bei Männern mit SLE häufiger zu kardiovaskulären Komorbiditäten, peripheren Neuropathien und Thrombosen sowie zu einer Nierenbeteiligung (4). «Die Prävalenz eines SjögrenSyndroms ist bei Frauen 16-mal höher als bei Männern», führte Mihai weiter aus. Bei Männern besteht jedoch ein Risiko für einen schwereren Verlauf: So ist die Mortalität 3-mal höher als bei Frauen, und Männer entwickeln häufiger und auch früher Lymphome als Komplikation (5). Bei Männern mit SSk ist im Vergleich zu Frauen eine höhere Prävalenz von diffusen Hautfibrosen, einer Lungen- und Herzbeteiligung, einer Nierenkrise sowie von Ulzerationen an den Fingern bekannt. Zudem ist die Mortalität bei Männern höher (6). Nicht zuletzt beeinflusst das Geschlecht auch die Wirksamkeit und Sicherheit einer Therapie (3). So sprechen Frauen mit einer Spondyloarthritis oder einer Psoriasisarthritis schlechter auf eine Behandlung mit einem TNF-α-Hemmer an und es kommt bei ihnen unter krankheitsmodifizierenden, antirheumatischen Therapien (DMARD), Allopurinol und Nintedanib häufiger zu Nebenwirkungen. «Weshalb das so ist, wissen wir noch nicht genau. Hier läuft aber einiges an Forschung», so die Referentin. Gesteigerte Schutzreaktion bei Frauen Unter den entzündlich rheumatischen Erkrankungen lassen sich autoimmune und autoinflammatorische Erkrankungen unterscheiden (Abbildung) (7). «Autoinflammatorische Erkrankungen treten bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig beziehungsweise zum Teil bei Männern leicht häufiger auf», erläuterte Mihai. Von Autoimmunerkrankungen dagegen sind auffallend häufiger Frauen betroffen: «Bekannt ist, dass Frauen immunologisch stimulierenden Phänomenen wie Infektionen, Malignomen und Traumata mit einer stärkeren Schutzreaktion begegnen als Männer», erläuterte die Referentin. Männer weisen in Bezug auf eine Vielzahl von Infektionen eine erhöhte Anfälligkeit und eine schlechtere Prognose auf. Bei ihnen kommt es nach einem Trauma häufiger zu einer Sepsis. Nicht zuletzt haben Männer bei fast allen nicht reproduktiven Krebsarten ein schlechteres Überleben. Die gesteigerte Schutzreaktion der Frauen kann aber auch zu einer Prädisposition für den Verlust der Selbsttoleranz und die Entwicklung einer Autoimmunität führen, was sich in der unterschiedlichen Geschlechtsverteilung von Autoimmunerkrankungen widerspiegelt (8). Geschlechtshormone als mögliche Ursache Die höhere Inzidenz an Autoimmunerkrankungen bei Frauen hat zur Annahme geführt, dass Geschlechtshormone eine Rolle spielen könnten. Im Allgemeinen ist das Ungleichge- CongressSelection Rheumatologie | November 2023 5 RHEUMA TOP Monogenetische periodische Fiebersyndrome Spondyloarthritis Autoinflammatorische Erkrankungen Morbus Behçet Entzündl. Darmerkrankungen (IBD) Psoriasis Gicht Uveitis Autoimmunerkrankungen Rheumatoide Arthritis (RA) Systemische Sklerose (SSk) Systemischer Lupus Erythematodes (SLE) ANCAassoziierte Vaskulitis (AAV) Autoimmune Myopathien (AIM) SjögrenSyndrom angeborene Immunität T- und B-Zellbeteiligung gleiche Prävalenz bei beiden Geschlechtern Frauenanteil überwiegt Abbildung: Autoimmunerkrankungen treten bei Frauen häufiger auf als bei Männern; adaptiert nach (7). wicht zwischen betroffenen Frauen zu Männern bei den drei Autoimmunerkrankungen RA, SLE und SSk vom späten Teenageralter bis zu den Vierzigern am höchsten, was mit den grössten Veränderungen im Hormonspiegel zusammenfällt (9). Bekannt ist zudem, dass Östrogen und Prolaktin proinflammatorisch und Androgene und Progesteron eher antiinflammatorisch wirken. Je länger die Lebensphase mit einer Menstruation ist, desto grösser ist auch die lebenslange Exposition gegenüber proinflammatorisch wirkenden Sexualhormonen. «Wir wissen aus entsprechenden Studien, dass eine frühe Menarche das Risiko für einen SLE sowie das Risiko für eine seropositive RA verdoppelt», so Mihai. Die mögliche Rolle der Geschlechtshormone wird zudem durch die Beobachtung unterstützt, dass eine Schwangerschaft Erkrankungen wie RA und SLE beeinflusst. So verbessert sich eine RA in der Regel während der Schwangerschaft, während es bei einem SLE zu einer Verschlechterung kommt. «Stillen dagegen kann einen RA-Schub auslösen, wirkt aber bei SLE protektiv», berichtete die Referentin. Hypothesen gehen davon aus, dass eine robustere Immunität bei Frauen einen evolutionären Vorteil darstellt. So postuliert die sogenannte Schwangerschaftskompensationshypothese, dass geschlechtsspezifische Immunitätsunterschiede als Reaktion auf die Herausforderung entstanden sind, den Schutz vor Krankheitserregern aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Plazenta und Fetus zu tolerieren (8). Schliesslich können in Bezug auf die Geschlechtsunterschiede bei der Häufigkeit rheumatologischer Erkrankungen auch Umgebungsfaktoren eine Rolle spielen. Mihai nannte hier das Rauchen (wichtig in der Pathogenese der ACPA-positiven RA), berufsbedingte körperliche Belastungen, Exposition gegenüber bestimmten Schadstoffen (Siliziumdioxid bei SSk). «Ein Thema hier sind auch die Silikonimplantate. Allerdings wird ihre Rolle kontrovers diskutiert. Studien zeig- ten bisher keinen sicheren Zusammenhang mit dem Auftre- ten von RA, SLE und SSk», betonte sie. Auf die Frage, weshalb es Geschlechtsunterschiede bei rheu- matologischen Erkrankungen gibt, liegt damit momentan noch keine abschliessende Antwort vor. «Es wird auf diesem Gebiet aber viel Forschung betrieben. Wir hoffen, dass diese auch neue therapeutische Ziele identifizieren und uns Instru- mente liefern wird, mit deren Hilfe wir entscheiden können, welche Therapie wir bei welchen Patientinnen und Patienten einsetzen sollen», schloss Mihai. s Therese Schwender Quelle: Rheuma Top – Symposium für die Praxis, 24. August 2023, Pfäffikon/ SZ und online. Referenzen: 1. Regitz-Zagrosek V: Gendermedizin in der klinischen Praxis für Innere Me- dizin und Neurologie, Springer Verlag, in press. 2. Santema BT et al.: Identifying optimal doses of heart failure medications in men compared with women: a prospective, observational, cohort study. Lancet. 2019;394:1254-1263. 3. Albrecht K, Strangfeld A: Geschlechtsspezifische Unterschiede in Diagnostik und Therapie entzündlich-rheumatischer Erkrankungen. Inn Med. (Heidelb) 2023;64:744-751. 4. Riveros Frutos A et al.: Systemic lupus erythematosus in Spanish males: a study of the Spanish Rheumatology Society Lupus Registry (RELESSER) cohort. Lupus. 2017;26:698-706. 5. Brandt JE et al.: Sex differences in Sjögren’s syndrome: a comprehensive review of immune mechanisms. Biol Sex Differ. 2015;6:19. 6. Hughes M et al.: Gender-related differences in systemic sclerosis. Autoimmun Rev. 2020;19:102494. 7. Generali E et al.: Nature versus nurture in the spectrum of rheumatic diseases: Classification of spondyloarthritis as autoimmune or autoinflammatory. Autoimmun Rev. 2018;17:935-941. 8. Xing E et al.: Sex Bias and Autoimmune Diseases. J Invest Dermatol. 2022;142:857-866. 9. Oliver JE, Silman AJ: Why are women predisposed to autoimmune rheumatic diseases? Arthritis Res Ther. 2009;11:252. 6 CongressSelection Rheumatologie | November 2023