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Hypertonie, Lipidwertmessung, Muskelschmerzen ...
«Was die Patienten wahrnehmen, müssen wir auch wahrnehmen»
Interview mit Prof. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich
Aktuelle Studienergebnisse sind das eine, ihre Einordnung für den ärztlichen Alltag das andere. Wir baten Prof. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich, um eine Einschätzung, welche Aspekte einiger am Jahreskongress der European Society of Cardiology präsentierter Daten für die hausärztliche Praxis besonders interessant sind.
zVg
Frau Prof. Sudano, gemäss der TIME-Studie ist
es anscheinend egal, ob man Blutdruckmedika-
mente morgens oder abends einnimmt. Was
raten Sie Ihren Patienten jetzt?
Prof. Isabella Sudano: Diese grosse Studie mit
über 20 000 Patienten ist eines meiner High-
lights: Damit haben wir, glaube ich, wirklich
die Bestätigung, dass es keine Vorgabe für den
Zeitpunkt der Einnahme gibt. Blutdruckmedi-
Prof. Isabella Sudano
kamente wirken am Morgen so gut wie am Abend. Deshalb lassen sie sich gut personalisie-
ren und den jeweiligen Bedürfnissen anpassen,
ohne das Obligatorische «es muss am Abend sein». Für mich
ist die erste Regel: Der Patient soll die Blutdruckmedika-
mente zu einem Zeitpunkt einnehmen, an dem er sie nicht
vergisst. Ich denke zum Beispiel an eine Mutter mit drei
Kindern. Medikamente am Morgen können sehr leicht ver-
gessen werden, wenn alle Kinder für die Schule parat sein
müssen. Oder an den Banker, der morgens um 6.00 Uhr
schon unterwegs ist. Das sind die Patienten, denen ich sage:
«Kein Problem, nehmen Sie Ihre Medikamente am Abend,
und legen Sie sie auf Ihren Nachttisch.» Aber es kommt auch
auf die Medikamente an. Diuretika würde in der klinischen
Praxis niemand vor der Bettruhe geben, ausser er ist ganz
gemein. Patienten mit einer nächtlichen Hypertonie profitie-
ren, wenn gewisse Medikamente am Abend genommen wer-
den. Und Alphaantagonisten, wie zum Beispiel Doxazosin,
könnten eine Orthostase bewirken, deshalb ist es nicht
schlecht, sie am Abend zu geben.
Laut einer aktuellen Metaanalyse sind Muskelschmerzen unter Statinen bei über 90 Prozent der Betroffenen nicht auf die Statine zurückzuführen. Was bedeutet das für die Praxis? Sudano: Auf wissenschaftlicher Basis sind die Daten wichtig, und sie können zur Diskussion beitragen. Aber für die Gespräche mit den Patienten ändert sich für mich nichts. Ich habe jede Menge Patienten mit Rückenschmerzen. Treten diese Beschwerden nach Statinen auf, sind die Patienten sicher, dass es am Medikament liegt. Bleiben die Muskelschmerzen nach 2 Wochen Einnahmepause gleich, ist klar,
dass es nicht an den Statinen liegt. Dann können die Patienten die Statine wieder einnehmen. Viele möchten das aber nicht. Das Problem ist die negative Presse: Geben Sie einmal «Statine» bei Google ein, die ersten Treffer handeln immer von Myalgien, Muskelschmerzen, gefährlichen Muskelschmerzen, lebensbedrohlichen Muskelschmerzen – und das macht Angst, genauso wie die Beipackzettel. Man vermittelt den Eindruck, dass fast jeder Patient, der Statine nimmt, unter mehr oder weniger gefährlichen Muskelschmerzen leidet, aber das ist nicht wahr. Statine können eine Myalgie provozieren, aber das betrifft nur einen ganz kleinen Prozentsatz der Behandelten. Für mich ist das kein Grund, Statine nicht einzusetzen.
Erwähnen Sie die Muskelschmerzen bei der Patientenaufklärung? Sudano: Immer. Wir erwähnen zudem den Husten bei ACE-Hemmern, das sind wirklich die bewiesenen Nebenwirkungen. Auch wenn das für mich mehr Aufwand am Telefon bedeutet, sage ich, dass sie sich melden sollten, wenn es nach dem Start der Medikation zu Nebenwirkungen komme. Das vermittelt den Patienten eine gewisse Sicherheit. Sie fühlen sich geschützt, und viele merken dann gar nichts. Falls sie wirklich echte oder angebliche Nebenwirkungen verspüren, stoppen wir die Therapie. Alles, was dann wieder verschwindet, wurde vom Medikament verursacht. Was hingegen nicht weggeht, muss abgeklärt werden, ist aber kein Grund, die Statine abzusetzen. Das verstehen die meisten Patienten.
Wie lang unterbrechen Sie die Therapie? Sudano: Bei einem Statin mit kurzer Halbwertszeit, wie Pravastatin oder Fluvastatin, die am Abend genommen werden müssen, können die Nebenwirkungen innerhalb weniger Tage verschwinden. Unter Rosuvastatin dauert es wegen seiner längeren Halbwertszeit ein bisschen länger. Nach 2 Wochen ist alles abgebaut, und das ist ein vernünftiger Zeitraum, in dem sich das kardiovaskuläre Risiko nicht nennenswert erhöhen kann. Würde man hingegen 2 Monate warten, wäre das besonders in der Sekundärprävention schon ein anderes Risiko.
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Was macht man, wenn die Schmerzen weiter anhalten? Sudano: Dann können wir ein anderes Statin einsetzen, denn ihr Metabolismus ist sehr unterschiedlich. So induziert Simvastatin etwas häufiger Nebenwirkungen, besonders in sehr hoher Dosis. 80 mg Simvastatin verwende ich seit Jahrzehn-
«Für mich ist die erste Regel: Der Patient soll die Blutdruckmedikamente zu einem Zeitpunkt einnehmen, an dem er sie nicht vergisst.»
ten nicht mehr. Pitavastatin ist ein Statin mit einer guten Wirkung auf das LDL und wenig Nebenwirkungen im Sinne von Myalgien. Fluvastatin ebenfalls, aber Sie müssen 80 mg retard geben, und das ist für viele Patienten psychologisch schwierig. Ansonsten sind Ezetimib und Bempedoinsäure sehr gute Alternativen für Patienten mit Statinintoleranz. Bempedoinsäure ist in der LDL-Reduktion so gut wie Ezetimib. Wir sprechen hier von durchschnittlich 20 bis 25 Prozent LDL-Reduktion. Bei Statinintoleranz kann Ezetimib allein oder in Kombination mit Bempedoinsäure gegeben werden. Es gibt allerdings viele Patienten, die unter Bempedoinsäure, unter Ezetimib oder sogar unter Fibraten – die mit den Muskeln wirklich überhaupt nichts zu tun haben – über Muskelschmerzen klagen, weil sie glauben, jede lipidsenkende Therapie könne Muskelschmerzen zur Folge haben. Was die Patienten wahrnehmen, müssen wir auch wahrnehmen, selbst wenn wir überzeugt davon sind, dass es nicht von den Medikamenten verursacht wird. Wenn ich darüber mit dem Patienten streite, wird er die Medikamente einfach nicht nehmen, und ich werde ihn nicht mehr sehen – das ist kardiovaskulär nicht von Vorteil. Ich versuche, diese Patienten trotzdem zu begleiten und eine vernünftige Lösung zu finden. Es gibt zum
«Wichtig zu erwähnen ist, dass die Patienten für die Bestimmung des Lipidprofils nicht nüchtern sein müssen. Das ist besonders für die Hausärzte sehr wichtig. Es steht in den Guidelines, bereits in denjenigen von 2016 und 2020, aber viele wissen es nicht.»
Beispiel Patienten, die doch ein niedrig dosiertes Statin mit Ezetimib tolerieren und damit eine gute Risikoreduktion erreichen.
Kommen wir zur Hypertonie, inwiefern spielt das Geschlecht bei der Behandlung eine Rolle? Sudano: Das wesentliche Problem ist, dass die grossen Studien mit Antihypertensiva einen Frauenanteil von maximal 30 Prozent haben. Wir behandeln also Frauen auf der Basis von Studien, die mit Männern gemacht wurden. Wir wissen
aber, dass es pharmakodynamische Unterschiede gibt, das heisst, gewisse Medikamente werden bei Frauen schneller oder langsamer metabolisiert. Die Dosis kann ebenfalls eine Rolle spielen, weil Frauen generell ein anderes Körpervolumen haben als Männer. Die gleiche 12,5-mg-Dosis hat bei einer 50 kg schweren Frau andere Effekte als bei einem Mann mit 90 kg, und weiter müssen wir die Nebenwirkungen berücksichtigen. Ausserdem finde ich es immer schade, dass Frauen nicht gleich gut wie Männer behandelt werden. Medikamente, die bei Herzinsuffizienz und Hypertonie gut wirken, werden bei Frauen nicht so konsequent eingesetzt wie bei Männern. Ich glaube, bei jüngeren Frauen sind manche Kollegen generell etwas zurückhaltend. Sie geben oft nur die minimale Dosis der Medikamente und natürlich keine Medikamente, die mit einer Schwangerschaft interferien würden. So sollen Statine in der Schwangerschaft nicht genommen werden. Überdies ist der Blutdruck bei Frauen tendenziell weniger gut kontrolliert. Dazu kommt, dass bei Frauen schon bei einem niedrigeren Blutdruck Endorganschäden auftreten: Bei Frauen reicht ein Blutdruck von 140/90 mmHg aus, um einen gewissen Organschaden zu provozieren, der bei Männern erst bei 150/100 oder 150/95 mmHg eintritt. Bereits mit einer leichten Blutdruckerhöhung kommt es bei Frauen zu mehr kardiovaskulären Komplikationen.
Wird das in den Guidelines berücksichtigt? Sudano: Die Zielwerte für Männer und Frauen sind in den Guidelines gleich – und auch die Definition, wann mit der Therapie zu beginnen ist.
Wird sich daran etwas ändern? Sudano: Wir geben alles, um das zu ändern. Viele glauben nach wie vor, dass die Hypertonie nur für Frauen in der Menopause oder nach der Menopause ein Problem sei. Aber das stimmt nicht. Wir müssen auch jüngere Frauen ausserhalb der Schwangerschaft anschauen und behandeln. Wir brauchen neue Daten, und wir sollten versuchen, neue Studien zu erzwingen. Wir kennen die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich Dosis, Pharmakodynamik und Interaktionen, aber sie werden selten thematisiert und in der Praxis sicher nicht ausreichend berücksichtigt.
Dann sollte man öfter daran erinnern ... Sudano: Genau. In Zürich gibt es eine Women’s-HeartSprechstunde. Wir versuchen, mit unserem Konsensus-Paper mehr Aufmerksamkeit zu schaffen. Wir werden Webinare durchführen, fokussiert auf die Hypertonie und diesbezügliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Es geht nicht nur um Frauen, sondern unter anderem darum, dass Männer und Frauen unterschiedlich zu behandeln sind.
In Ihrem Vortrag zur Erhebung von Lipidwerten nannten Sie viele praktische Aspekte. Welche sind Ihnen dabei besonders wichtig? Sudano: Mir würde es schon reichen, wenn die Lipidwerte regelmässig erhoben werden würden, und zwar bereits vor dem Alter von 50 Jahren, und dass dabei auf mögliche familiäre Hypercholesterinämien geachtet würde. Darüber hinaus gibt es gewisse praktische Aspekte, die wichtig sind. Wir
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Konsensuspapier «Sex differences in arterial hypertension»
Guidelines, bereits in denjenigen von 2016 und 2020, aber viele wissen es nicht. Notfalls kann man, wenn die Triglyzeride zu hoch sind, noch eine Nüchternbestimmung machen. Das ist für viele Patienten eine Hilfe. Aber sie dürfen keinen Kaffee trinken, wenn sie nüchtern einbestellt werden.
Webinar: Sex Differences in Hypertension Podcast: Sex Differences in Hypertension
Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen? Sudano: Mir hat die Polypill-Studie gut gefallen, die Valentin Fuster präsentiert hat. Ich finde, dass eine Polypille mit ASS, einem ACE-Hemmer und Atorvastatin eine sehr gute Kombination für die Sekundärprävention ist. Die Adhärenz ist natürlich besser, wenn ich 3 Medikamente in einer Pille kombiniere. Mit den gleichen Medikamenten braucht man nur 1 anstatt 3 Tabletten am Tag für den gleichen positiven Effekt.
haben Fortschritte bei der Erhebung des Lipidprofils gemacht. Anders als vor 10 Jahren, als nur Gesamtcholesterin und Triglyzeride erhoben wurden, wird heute immer das LDL oder sogar das HDL bestimmt. Auch das Lipoprotein a könnten wir ein bisschen näher anschauen, das wird kommen, wenn entsprechende Therapien zur Verfügung stehen. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Patienten für die Bestimmung des Lipidprofils nicht nüchtern sein müssen. Das ist besonders für die Hausärzte sehr wichtig. Es steht in den
Wer müsste die Initiative ergreifen, um so etwas zum Beispiel
hier in der Schweiz zu etablieren?
Sudano: Viele Komponenten sind zu berücksichtigen. Wir
haben zum Beispiel in der Hypertonie- und in der Lipidthera-
pie eine Polypille im Sinn von Kombinationstherapien. Bei
der KHK wird es komplizierter, hier haben wir nicht so viele
Möglichkeiten. Ich glaube, der grosse Vorteil einer Polypille
bestünde in der Primärprävention, nicht unbedingt in der
Sekundärprävention. Und dann bräuchte es die Zusammen-
arbeit mit der Industrie, allein können wir das nicht errei-
chen.
s
Das Interview führte Christine Mücke.
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