Transkript
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Freispruch für Statine
Muskelschmerzen meist nicht von Statinen
Muskelbeschwerden während einer Statintherapie sind ein häufiger Grund für einen Therapiestopp. Diese Nebenwirkung figuriert in den grossen, randomisierten, kontrollierten Studien allerdings meist auf Plazeboniveau. In nicht randomisierten und offenen Studien sowie in Fallberichten werde sie dagegen häufig gemeldet, berichtete Prof. Colin Baigent, University of Oxford (UK), an einer HotlineSession am Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC). Was ist richtig?
Über Muskelschmerzen als Nebenwirkung von Statinen wird häufig berichtet. Diese Wahrnehmung widerspricht jedoch der Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studien diametral. Um herauszufinden, was stimmt, erstellte die Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration eine Metaanalyse zu der Frage, wie häufig diese Nebenwirkung tatsächlich vorkommt. Dazu analysierten sie 19 doppelblind randomisierte und plazebokontrollierte Studien, bei denen gesamthaft knapp 123 940 Patienten ein Statin oder ein Plazebo während median 4,3 Jahren eingenommen hatten. Aus der Statingruppe meldeten 16 835 Patienten (27,1%) Muskelschmerzen oder -schwäche als Nebenwirkung, in der Plazebogruppe waren es etwa gleich viele (16 446 bzw. 26,6%). Während des ersten Jahres stieg die relative Rate (Rate Ratio [RR]) dieser Nebenwirkung in der Statingruppe um 7 Prozent an (RR: 1,07), was einem absoluten Anstieg (excess rate) von 11/1000 Personenjahre entspricht. In den Folgejahren verschwand dieser jedoch. Im ersten Jahr stand demnach nur 1 von 15 Meldungen über Muskelschmerzen oder -schwäche in Zusammenhang mit einem Statin, 93 Prozent der Meldungen konnten nicht auf eine Statineinnahme zurückgeführt werden. Bei der Analyse der verschiedenen Patientensubgruppen zeigte sich einzig ein Unterschied beim Geschlecht: Bei Frauen trat diese Nebenwirkung signifikant häufiger auf (RR: 1,09 vs. 1,00). In weiteren 4 randomisierten, plazebokontrollierten Studien (n = 30 724 Patienten) wurden normale mit höheren Statindosen verglichen. In der Gruppe mit den höheren Dosen kam es zu einer relativen Erhöhung des Risikos für Muskelschmerzen oder -schwäche von 1,08 (Rate Ratio). Hier zeigte sich jedoch kein Geschlechterunterschied.
KURZ & BÜNDIG
� Therapieabbrüche wegen Muskelschmerzen sind häufig.
� Statine sind selten die Ursache für Muskelschmerzen.
� Ein Noceboeffekt könnte von Statinen ausgehen.
� Der kardiovaskuläre Nutzen von Statinen überwiegt das Risiko für Nebenwirkungen.
Über die Schwere der Muskelschmerzen lasse sich in dieser Metaanalyse keine gesicherte Aussage treffen, denn die Angaben zu Therapieabbrüchen seien unvollständig, so Baigent. Angaben zur Kreatinkinase (CK) lagen bei 7 Prozent der Meldungen vor, davon wiesen 96 Prozent ≤ 3 × ULN auf (1). Die Adhärenz war in der grossen, in der Metaanalyse untersuchten Heart Protection Study (HPS) (n = 20 536) bei den Patienten mit und bei jenen ohne Muskelschmerzen allerdings ähnlich. Das bedeutet gemäss Baigent, dass die Muskelschmerzen meist milder Natur waren, und die meisten Patienten die Therapie dennoch fortsetzen konnten.
Statine meist nicht die Ursache
Diese Resultate zeigen, dass Muskelschmerzen häufig sind, sie treten bei einem Viertel der Patienten auf. Sie zeigen aber auch, dass Statine meist (> 90%) nicht die Ursache der Muskelschmerzen sind, denn sie kommen unter Plazebo ähnlich häufig vor. Das Risiko dafür beträgt < 1 Prozent, wenn Statine eingenommen werden, und die Symptome sind meist milder Natur. Im ersten Jahr der Einnahme erhöhten sie die Frequenz von muskelbedingten Symptomen marginal, nicht aber deren Schwere, so Baigent. Im Vergleich mit dem kardiopräventiven Nutzen von Statinen sei das Risiko für diese Nebenwirkung sehr klein. Eine Entscheidung zum Abbruch oder zur Weiterführung einer Statintherapie sollte deshalb im Licht dieser Fakten, anhand von Guidelines und von Fachinformationen getroffen werden, so die abschliessende Empfehlung des Studienleiters.
Noceboeffekt wahrscheinlich
Gemäss Diskutantin Prof. Erin Bohula, Brigham & Women’s Hospital, Boston (USA), können die Abbrüche einer Statintherapie aufgrund von Muskelsymptomen in 2 Kategorien eingeteilt werden: jene mit einem signifikanten CK-Anstieg (Rhabdomyolyse, Myopathie), deren Häufigkeit 2 bis 3/ 100 000 pro Jahr bzw. 1/10 000 pro Jahr beträgt, und jene ohne signifikante CK-Erhöhung (leichte Erhöhung, Myalgien). In der grossen HPS-Studie mit Simvastatin waren Muskelschmerzen unter dem Statin häufig (ca. 33%), aber nicht häufiger als unter Plazebo, und Therapieabbrüche in beiden Gruppen gleich selten (0,5%) (2). Eine interessante Studie zeigte zudem einen Noceboeffekt bei Statinen. 60 Patienten,
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die unter einer Statintherapie Muskelschmerzen erlitten,
wurden verblindet einer sequenziellen Therapie zugeführt:
1 Monat Atorvastatin, 1 Monat kein Medikament, 1 Monat
Plazebo, mit Wiederholungen in dieser Reihenfolge während
12 Monaten. Nach Studienende war die von den Patienten
angegebene Symptomschwere unter Plazebo und dem Statin
gleich stark, ohne Therapie halb so stark (3).
Vor dem Hintergrund all dieser Daten sei es wichtig, die
Patienten zu ermuntern, auch bei milden Muskelschmerzen
die Statintherapie fortzuführen. Die Vorteile überwögen die
Risiken bei Weitem, so die eindringliche Empfehlung von
Bohula.
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Quelle: «Hotline 9». Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC),
26. bis 29. August 2022 in Barcelona.
Referenzen: 1. Cholesterol Treatment Trialists’ Collaboration: Effect of statin
therapy on muscle symptoms: an individual participant data meta-analysis of largescale, randomised, double-blind trials. Lancet. 2022;400(10355):832-845. 2. Heart Protection Study Collaborative Group. MRC/BHF Heart Protection Study of cholesterol lowering with simvastatin in 20 536 high-risk individuals: a randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2002;360(9326):7-22. 3. Wood FA et al.: N-of-1 Trial of a statin, placebo, or no treatment to assess side effects. N Engl J Med. 2020;383(22):2182-2184.
Valérie Herzog
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