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KHM
Hirnschlagpatienten mit Vorhofflimmern
Wie antikoagulieren bei hochbetagten Menschen?
Sehr alte Hirnschlagpatienten mit Vorhofflimmern profitieren von einer Therapie mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK). Warum eine Zurückhaltung bei Sturzgefährdeten, auf fremde Hilfe angewiesenen Gebrechlichen oder alten Patienten mit intrakraniellen Mikroblutungen unbegründet sei, erklärte Prof. Stefan Engelter, Chefarzt Rehabilitation Universitäre Altersmedizin Felix Platter und Leitender Arzt Behandlungskette Schlaganfall, Stroke Center, Klinik für Neurologie, Universitätsspital Basel, am Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM).
Wenn sich bei sehr alten (> 85 Jahre) Hirnschlagpatienten nach erfolgter thrombolytischer Akutbehandlung ein Vorhofflimmern detektieren lässt, stellt sich die Frage, ob und womit das künftige Thromboserisiko minimiert werden soll. Braucht es eine antithrombotische Therapie mittels Antikoagulation oder eine Plättchenhemmung? Der CHA2DS2-VASc-Score hilft bei dieser Frage weiter, er berechnet das 1-Jahres-Hirnschlagrisiko ohne antithrombotische Therapie (1). Ein mögliches Blutungsrisiko kann mit dem HAS-BLED-Score (2) eingeschätzt werden. Beide Scores sind aber laut dem Neurologen Engelter nur beschränkt für dieses hohe Alter anwendbar. Denn sie berechnen das Risiko für < 75- bzw. > 65-Jährige. Sind in der Magnetresonanztomografie (MRI) zusätzlich Mikroblutungen sichtbar, kann mit einem weiteren Score (MICON-ICH-Score), der die Anzahl Mikroblutungen, ein Alter > 80 Jahre, vorgängige inkrakranielle Blutungen sowie eine bestehende Antikoagulation mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) berücksichtigt, das jährliche intrakranielle Blutungsrisiko berechnet werden (3). Solange das Blutungsrisiko mit
KURZ & BÜNDIG
beiden Scores (HAS-BLED und MICON-ICH) tiefer ist als jenes Risiko, das mit dem CHA2DS2-VASc-Score für einen ischämischen Hirnschlag ermittelt wurde, ist laut Engelter eine Antikoagulation angezeigt. DOAK haben sich in der Behandlung aufgrund ihrer gesamthaft tieferen Blutungsrate gegenüber Vitamin-K-Antagonisten (VKA) durchgesetzt. Bei den intrakraniellen Blutungen haben sie ein günstigeres Profil als VKA, wie eine Metaanalyse zeigte, für gastrointestinale Blutungen ist das Risiko jedoch höher (4). Hochbetagte Patienten profitieren tendenziell mehr von DOAK als von VKA, wie eine Aufschlüsselung nach Alter > 75 und < 75 Jahre ergab (4). Evidenz für den Nutzen einer DOAK-Therapie bei hochbetagten Patienten (≥ 80 Jahre) mit Vorhofflimmern (n = 984) lieferte die ELDERCARE-AF-Studie aus Japan mit einer reduzierten Dosis Edoxaban (15 mg/Tag) (5). In der NOAK-Gruppe lag das jährliche Hirnschlagrisiko bei 2,3 Prozent, während es in der Plazebogruppe mit 6,7 Prozent signifikant höher war. Weder das jährliche Blutungsrisiko noch die Gesamtmortalität waren unter dem DOAK höher, gastrointestinale Blutungen traten dagegen häufiger auf (5). Der Nettonutzen sei selbst in diesem hohen Alter unter einer DOAK-Therapie immer noch höher als ohne Antikoagulation, so Engelter.
� Auch hochbetagte Patienten mit Hirnschlag infolge Vorhofflimmern profitieren von einer Antikoagulation.
� DOAK sind insbesondere bei alten Patienten wirksam und sicher.
� Auch Patienten, die häufig stürzen, scheinen von DOAK zu profitieren.
� Zerebrale Mikroblutungen sind kein guter Grund, den Patienten eine DOAK-Therapie vorzuenthalten.
� Von fremder Hilfe abhängige, fraile Hirnschlagpatienten scheinen von NOAK mehr zu profitieren als von Phenprocoumon (Marcoumar®).
Zurückhaltung bei DOAK unbegründet
Aber nicht alle Patienten mit Vorhofflimmern erhalten eine Antikoagulation mit DOAK. Als Hauptgründe für die Zurückhaltung gerade bei älteren Patienten nannte eine prospektive Studie aus der Basler Notfallstation das Sturzrisiko, schlechte Compliance und eine schwere Blutung in der Vorgeschichte (6). Sind das Sturzrisiko und die damit verbundene Verletzungsgefahr denn auch ein valabler Grund, bei alten Personen auf DOAK zu verzichten? Eine Studie ging dieser Frage auf den Grund. Sie analysierte die Blutungsgefahr bei der Subgruppe mit (77 Jahre) und ohne erhöhtes Sturzrisiko (72 Jahre) aus Daten der ENGAGE-AF-TIMI-48-Studie, die doppelblind randomisiert Edoxaban vs. Warfarin bei
20 CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | Hausarztmedizin | September 2021
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900 Patienten verglichen hatte (7). In der Gruppe mit den älteren Betagten erwies sich das Frakturrisiko aufgrund von Stürzen zwar als höher, doch war der Nutzen des DOAK in beiden Alters- beziehungsweise Sturzrisikogruppen höher als unter Warfarin. Das betraf insbesondere das Risiko für die gefürchteten intrakraniellen und für lebensbedrohliche Blutungen. Das bedeutet also, dass Edoxaban bei Patienten mit hohem Sturzrisiko eine attraktive Alternative zur VKA-Therapie darstellt, so das Fazit der Analyse (7). Wie steht es mit der Gefahr von Subduralhämatomen nach einem Sturz bei einer antithrombotischen Therapie? Gemäss einer Metaanalyse sei die Rate von Subduralhämatomen unter VKA höher als unter Plättchenhemmern, Faktor-Xa-Hemmern und direkten Thrombinhemmern (8), und die Analyse zeige ausserdem, dass Faktor-XaHemmer nicht gefährlicher seien als Plättchenhemmer, so Engelter.
Bei Demenz nicht antikoagulieren?
Eine weitere Erkrankung, die im Alter häufiger auftritt, ist die Demenz. Sollen Patienten mit einer demenziellen Erkrankung eine Antikoagluation erhalten? Solange die Medikamenteneinnahme gewährleistet sei, bestehe kein Grund, die Antikoagulation bei Demenz nicht durchzuführen, so Engelter. Im Gegenteil. Eine Antikoagulation könnte sogar vor einer (weiteren) Demenzentwicklung bewahren, wie eine schwedische populationsbasierte Kohortensstudie nahelegt. In der Studie wurden 2685 demenzfreie, > 60-jährige Patienten während 9 Jahren beobachtet, davon hatten 9,1 Prozent ein Vorhofflimmern. In der Beobachtungszeit entwickelten zusätzlich 11,4 Prozent erstmals ein Vorhofflimmern und 14,9 Prozent eine Demenz. Dabei fiel auf, dass in der Gruppe mit Vorhofflimmern eine signifikant schnellere Kognitionsverschlechterung auftrat als in der Gruppe ohne Vorhofflimmern. Bei Patienten mit Vorhofflimmern, die mit Antikoagulanzien behandelt wurden, war das Risiko für eine Demenzentwicklung um 60 Prozent tiefer.
Kontroverse bei Frailty
Gebrechlichkeit nach Hirnschlag infolge Vorhofflimmern sei laut Engelter per se kein Grund, auf eine Antikoagulation mit DOAK zu verzichten. Die Guidelines raten aber bei schwerer Frailty mit Bedarf an fremder Hilfe von einer DOAK-Therapie ab (9). Vor dem Hintergrund der wachsenden Population an polymorbiden alten Patienten nach Hirnschlag analysierten Engelter und Kollegen Basler Langzeitdaten aus dem Stroke-Center und dem Geriatriespital Felix Platter. Die NOACISP-Registerstudie berücksichtigte Patienten, die sich vom Hirnschlag schlecht erholt hatten und bei der Bewältigung des Alltags auf die Hilfe anderer angewiesen waren. Das sind Patienten, die von den grossen Studien normalerweise ausgeschlossen werden. Die Forscher verglichen Patienten, die nach dem Hirnschlag während 2 Jahren DOAK oder VKA (Marcoumar®) erhalten hatten. Das Ergebnis zeigte, dass unter DOAK weniger Ereignisse, wie ein erneuter Hirnschlag, eine schwere Blutung oder Tod, auftraten als unter der Therapie mit VKA (10). Der Nutzen einer DOAK-Therapie scheint damit laut Engelter auch in dieser Patientengruppe vorhanden zu sein.
Bei Patienten mit wiederholten Hirnschlägen ohne Vor-
hofflimmern, aber mit peripherer arterieller Verschluss-
krankheit, Karotisstenose oder koronarer Herzkrankheit
ist laut Engelter eine DAPT, bestehend aus Acetylsalicyl-
säure plus tief dosiertem Rivaroxaban (2 × 2,5 mg/Tag),
eine Option (11).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Antikoagulation bei Hochbetagten mit Afib», Jahreskongress des Kolle-
giums für Hausarztmedizin (KHM), 24.–25. Juni 2021, virtuell.
Referenzen: 1. Lip GY et al.: Refining clinical risk stratification for predicting
stroke and thromboembolism in atrial fibrillation using a novel risk factor-based approach: the euro heart survey on atrial fibrillation. Chest 2010;137:263-272. 2. Pisters R et al.: A novel user-friendly score (HAS-BLED) to assess 1-year risk of major bleeding in patients with atrial fibrillation: the Euro Heart Survey. Chest. 2010;138(5):1093-1100. 3. Best JG et al.: Development of imaging-based risk scores for prediction of intracranial haemorrhage and ischaemic stroke in patients taking antithrombotic therapy after ischaemic stroke or transient ischaemic attack: a pooled analysis of individual patient data from cohort studies. Lancet Neurol. 2021;20(4):294303. 4. Ruff CT et al.: Comparison of the efficacy and safety of new oral anticoagulants with warfarin in patients with atrial fibrillation: a meta-analysis of randomised trials. Lancet. 2014;383(9921):955962. 5. Okumura K et a.l: Low-dose edoxaban in very elderly patients with atrial fibrillation. N Engl J Med. 2020;383(18):1735-1745. 6. Altmann DR et al.: Use of the CHADS2 risk score to guide antithrombotic treatment in patients with atrial fibrillation--room for improvement. Swiss Med Wkly. 2010;140(5-6):73-77. 7. Steffel J et al.: Edoxaban versus warfarin in atrial fibrillation patients at risk of falling: ENGAGE AF-TIMI 48 Analysis. J Am Coll Cardiol. 2016;68(11):1169-1178. 8. Connolly BJ et al.: Vitamin K antagonists and risk of subdural hematoma: meta-analysis of randomized clinical trials. Stroke. 2014;45(6):1672-1678. 9. Steffel J et al.: 2021 European heart rhythm association practical guide on the use of non-vitamin K antagonist oral anticoagulants in patients with atrial fibrillation. Europace. 2021;euab065. 10. Meya L et al.: Oral anticoagulants in atrial fibrillation patients with recent stroke who are dependent on the daily help of others. Stroke. 2021;STROKEAHA120033862. 11. Anand SS et al.: Rivaroxaban with or without aspirin in patients with stable peripheral or carotid artery disease: an international, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet. 2018;391(10117):219-229.
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