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27. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 22. NOVEMBER 2012
Pflanzliche Antiinfektiva als wirksame Multi-Target-Wirkstoffe: ein pharmakognostisch-naturstoffpharmakologischer Streifzug durch die Traditionelle Europäische Medizin (TEM)
Matthias F. Melzig
Lange Tradition mit Arzneipflanzen
Ausgehend von einer historischen Betrachtung zum Stellenwert pflanzlicher Antiinfektiva kann festgestellt werden, dass über 4000 Jahre nachweislich in allen Kulturkreisen mit Pflanzen der gleichen Gattungen Infektionen bei Mensch und Tier behandelt wurden und dies bis etwa 1850 die schulmedizinische Standardversorgung darstellte. Im europäischen Raum werden bis heute im Rahmen der TEM etwa 80 Arzneidrogen zur Therapie bei Infektionen eingesetzt. Das Spezifikum der verwendeten Arzneipflanzen besteht in ihrem breiten Spektrum an antimikrobiellen Stoffen, die als Multi-Target-Wirkstoffe unspezifisch eine Vielzahl von Stoffwechselvorgängen und biologischen Strukturen der Mikroorganismen beeinflussen. Die Kombination aus Vielstoffgemisch und unspezifischem Angriff führt bei Drogenextrakten zu einer Art Breitspektrumwirkung, die die Entwicklung von Resistenzen gegenüber diesen Naturstoffen fast unmöglich macht. Auch unter evolutionär-ökologischen Aspekten sind antiinfektive Naturstoffe als «biologisch geprüfte und optimierte Substanzen» im Ergebnis einer langen Entwicklungszeit entstanden. Sie weisen unter anderem Abwehrfunktionen gegen ubiquitär vorkommende Mikroorganismen auf.
Zu den wichtigsten Gruppen der antiinfektiven Naturstoffe gehören: ◆ phenolische Verbindungen (u.a. Flavo-
noide, Phenolsäuren, Gerbstoffe) ◆ terpenoide Verbindungen in ätheri-
schen Ölen ◆ Glucosinolate (Senfölglykoside) ◆ Alliine beziehungsweise daraus gebil-
dete Alliinderivate ◆ Saponine ◆ Fettsäuren.
Phenole
Phenolische Verbindungen wirken bakterizid durch vielfältige Wechselwirkungen mit Mikroorganismen, zum Beispiel durch Adsorption an Bakterienoberflächen mit nachfolgender Aufnahme in die Zelle und Bildung oxidativer Metaboliten (v.a. Chinone) sowie Schädigung des Bakterienstoffwechsels auf vielen Ebenen durch Bindung an Enzymproteine, Kofaktoren, Verdrängung von natürlichen Substraten und so weiter. Besonders aktive Naturstoffe aus dieser Stoffklasse sind zum Beispiel Zimtsäure, Salizylsäure, p-Hydroxybenzoesäure oder Thymol, aber auch komplexere Verbindungen wie die Flechtensäuren aus Lichen islandicus (Islandmoos). Alle in der TEM verwendeten Gerbstoffdrogen besitzen ebenfalls eine antiseptische Wirkung. Als Beispiel sei die Eichenrinde genannt, die moderate bakterizide mit fungiziden Aktivitäten aufweist.
Terpenoide Verbindungen
Terpenoide Verbindungen in ätherischen Ölen beeinflussen in der Regel die Zellmembranen von Bakterien oder Pilzen und verändern damit die Permeabilität dieser Membranen. Die Anwendung kann extern oder intern erfolgen, die Bioverfügbarkeit ätherischer Öle ist aufgrund ihrer hohen Lipophilie auch in Körperhöhlen sehr gut. Ihre antiseptischen Eigenschaften werden
Phenolkoeffizienten ätherischer Öle beziehungsweise deren Hauptkomponenten (nach Rideal-Walker, 1903)
Anisöl Cineol Eukalyptusöl Eugenol Fenchelöl Geraniol Kampfer Lavendelöl Menthol Nelkenöl Teebaumöl Thymianöl Zimtaldehyd Zitral
0,4 2,2 3,5 8,6 13,0 7,1 6,2 1,6 0,9 8,0 12 20,0 3,0 5,2
vielfältig genutzt, ein Mass für ihre Wirksamkeit ist der Phenolkoeffizient. Diese Kennzahl, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde, gibt an, wie stark ein Stoff im Vergleich zu Phenol antiseptisch wirkt. Die Tabelle führt besonders aktive Verbindungen auf, wie zum Beispiel Cineol, Thymol, Eugenol, Citral oder Kampfer beziehungsweise Fenchelöl, Nelkenöl, Teebaumöl oder Thymianöl.
Senfölglykoside
Eine ebenso gute Bioverfügbarkeit bei antibakterieller und fungizider Wirksamkeit weisen auch Senfölglykoside, zum Beispiel aus der Kapuzinerkresse oder den Senfsamen auf. Ihre Wirkung ist vergleichbar mit dem Antibiotikum Polymyxin B. Das Allicin aus dem Knoblauch ist auch eine schwefelhaltige Verbindung mit bakterizider Wirkung gegen verschiedene Streptokokkengruppen, die bei Infektio-
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Saponine
Saponine aus der Süssholzwurzel hemmen das Wachstum von pathogenen Bakterien und Pilzen auf Schleimhäuten und die Replikation von Hepatitis-C-Viren.
Fettsäuren
Kurzkettige Fettsäuren, wie sie in pflanzlichen und tierischen Fetten vorkommen, können antiinfektiv wirken, Alkalisalze der
längerkettigen Fettsäuren wirken als Seifen desinfizierend. Zusammenfassend kann für die antiinfektiv wirkenden Drogen der TEM festgestellt werden, dass deren Inhaltsstoffe durch die Evolution positiv auf eine breite antimikrobielle Aktivität selektiert wurden, die durch ihre Charakteristik als Multi-Target-Wirkstoffe kaum Resistenzen erzeugen und daher auch prophylaktisch eingesetzt werden können. Die Kombination verschiedener Drogen mit den oben genannten Eigenschaften verbreitert das antiinfektive Wir-
kungsspektrum. Im Zuge der Diskussion um
eine zunehmende Resistenzentwicklung
bei Tier und Mensch kann der Einsatz von
pflanzlichen Drogenzubereitungen unter
dem Aspekt der Prophylaxe, aber auch der
Therapie eine wichtige Option sein, die bis
heute noch nicht den ihr zustehenden Stel-
lenwert hat.
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Matthias F. Melzig Freie Universität Berlin Institut für Pharmazie Königin-Luise-Str. 2+4 D-14195 Berlin
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