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26. SCHWEIZERISCHE TAGUNG FÜR PHYTOTHERAPIE, BADEN, 17. NOVEMBER 2011
Lokale Behandlung der Polyneuropathie mit Capsaicin
Dr. med. Stefan Hägele-Link
Einleitung
Bei dem häufigen neurologischen Krankheitsbild der Polyneuropathie (PNP) handelt es sich um eine generalisierte Erkrankung des peripheren Nervensystems, welches sich wiederum aus den motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren Schwann-Zellen, Ganglienzellen, ihrem Periund Epineurium sowie den dazugehörenden Blut- und Lymphgefässen zusammensetzt. Patienten, welche unter einer PNP leiden, berichten über sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen, aber auch motorische Schwäche, Muskelzuckungen (Faszikulationen), Krämpfe und Atrophien. Ebenfalls zu beachten sind autonome Ausfallerscheinungen des parasympathischen, des sympathisch noradrenergen sowie des sympathisch cholinergen Systems. Das klassische Bild im klinisch-neurologischen Befund zeichnet sich durch abgeschwächte bis ausgefallene Muskeleigenreflexe, schlaffe, atrophe Paresen, socken- beziehungsweise strumpf- und handschuhförmige Sensibilitätsstörungen und zum Beispiel im Falle eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) auch durch Beteiligung der Hirnnerven aus.
Einteilung der PNP
Die Elektroneuro- und Elektromyografie hilft uns, zwischen axonalen und demyelinisierenden Neuropathien zu differenzieren und eine erste ätiologische Zuordnung zu treffen. Je nach Verlauf und Dauer der Symptomatik wird zwischen akuten (z.B.
GBS), subakuten (z.B. chronisch inflammatorische demyelinisierende Neuropathie, CIDP) oder chronischen Neuropathien (z.B. heriditäre Neuropathien) unterschieden. Auch der Verteilungstyp der PNP, zum Beispiel im Sinne eines symmetrisch sensiblen Verteilungstyps (z.B. alkoholische oder diabetische Neuropathie), eines symmetrisch sensomotorischen Verteilungstyps (z.B. GBS) oder einer distal-symmetrischen Neuropathie mit autonomen Störungen (z.B. Amyloidose) kann für eine ätiologische Einordnung hilfreich sein. Klinische Sonderformen stellen typischerweise schmerzhafte Neuropathien mit asymmetrischem Verteilungstyp (z.B. Mononeuropathia multiplex) dar, welchen häufig eine vaskulitische Neuropathie zugrunde liegt (1). Eine Sonderform stellt die «Small fibre Neuropathy» dar, in deren Rahmen nur die kleinen, wenig beziehungsweise nicht myelinisierten Nervenfasern (z.B. C-Fasern) betroffen sind. Diese Small-fibre-Neuropathie ist klinisch-neurologisch und mittels elektrophysiologischer Untersuchung nicht sicher zu diagnostizieren, da sie den entsprechenden elektrophysiologischen Methoden nicht direkt zugänglich ist. Neuerdings steht die Möglichkeit der Durchführung einer Hautbiopsie und der Bestimmung der epidermalen Nervenfaserdichte zur Verfügung, welche es ermöglicht, diese Diagnose zu sichern (2). Nur wenn es gelingt, die Ursache einer PNP zu finden und diese zu behandeln, kann eine Progredienz verhindert werden. Die häufigsten Ursachen einer PNP sind der Diabetes mellitus gefolgt von der alkoholtoxischen Neuropathie, immunvermittelten Neuropathien wie dem GBS, Malabsorptionssyndromen, hereditären, aber auch toxischen einschliesslich medikamentös bedingten und paraneoplastischen Neuropathien. Letztere manifestieren sich häufig Wochen oder Monate vor Auftreten des Primärtumors. Trotz ausführlicher differenzialdiagnostischer Abklärung bleibt in über 20 Prozent der Fälle die Ursache der PNP ungeklärt (1).
Therapie
Gelingt es nicht, die kausale Ursache der Neuropathie zu finden und zu behandeln, steht die symptomatische Therapie insbesondere neuropathischer Schmerzen im Vordergrund der Behandlung. Hier stehen Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle, wie Gabapentin oder Pregabalin, und mit Wirkung auf Natriumkanäle, wie Carbamazepin und Lamotrigin, zur Verfügung. Ebenso kommen Antidepressiva wie Amitriptylin oder selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer sowie besonders lang wirksame Opioide zum Einsatz. Eine interessante Therapie ist die topische Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Lidocain oder Capsaicin (1).
Paprikapflanze
Capsaicin ist ein Alkaloid, welches aus der Paprikapflanze (Capsicum, Familie der Nachtschattengewächse, Gattung Capsicum, häufigste verbreitete Art Capsicum annum) gewonnen wird. Es handelt sich um eine krautig wuchernde, kräftig blühende Pflanze mit lang gedehnten Früchten, die sich in glühender Sonne am wohlsten fühlt und sehr kälteempfindlich ist. Die Farbtöne der Früchte reichen von Gelb bis Rot über Violett bis fast Schwarz mit grosser Variationsbreite, wobei grüne Früchte immer unreif sind. In der Literatur und der Alltagsverwendung werden verschiedene Namen wie Paprika, Chili, Peperoni, Pfefferoni und andere verwendet, welche mehr oder weniger als Synonyme gewertet werden können. Möglicherweise leiten sich diese Namen aus der Beschreibung von Christopher Columbus ab, der für seine Seereisen aufgebrochen war mit dem Ziel, den Pfeffer aus Indien zu gewinnen. Er traf auf dem amerikanischen Kontinent auf Menschen, welche ihre Speisen mit einer Substanz schärften, die er «Pimienta» taufte. Ursprünglich stammt die Pflanze aus Mittel- und Südamerika, fand jedoch im Rahmen der Kolonisation schnelle Ver-
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breitung über Afrika und Asien bis nach Japan. Dort hat die Würzung und Schärfung der Speisen in die Küche Eingang gefunden und sich mit dieser verbunden. Früher wurde zum Beispiel in Indien mit Ingwer und Pfeffer geschärft und im Verlauf erst Paprika eingesetzt. Neben Capsaicin ist die Pflanze auch sehr reich an Vitamin C.
Capsaicin
Capsaicin ist der Stoff, welcher für die Wahrnehmung von Schärfe, Hitze und Schmerz beim Verzehr von Paprikafrüchten verantwortlich ist. Dies ist entwicklungsgeschichtlich für die Pflanze von Bedeutung, da nur Säugetiere die Schärfe wahrnehmen und daher die Früchte meiden. Vögel dagegen haben andere Rezeptoren auf der Oberfläche ihrer Nozizeptoren und können daher die Früchte ohne Beschwerden aufnehmen, den Samen unverdaut wieder ausscheiden und so die Verbreitung der Pflanze sichern. Pharmakologisch machen Capsaicin und die verwandte Substanz Dihydrocapsaicin 90 Prozent aller Capsaicinoide aus. Chemisch handelt es sich um aus Vanillylamin und Fettsäuren kondensierte Amide. Je nach Länge der Fettsäuren wird in unterschiedliche Capsaicinoide eingeteilt. Die orale, aber insbesondere die transdermale Bioverfügbarkeit ist gut, was für die unten weiter ausgeführte therapeutische Anwendung Konsequenzen hat. Da Capsaicin möglicherweise als Antioxidans, antikanzerogen, antiinflammatorisch wirkt, wird die Substanz für die Ernährungs- und Pharmaindustrie zunehmend interessant. Limitierend für ihre weitverbreitete Einsetzbarkeit ist jedoch die Schärfewahrnehmung. Capsaicin wird insbesondere im Bereich der Drüsenzellen, der sogenannten Plazenta der Frucht, sowie in nahen Anteilen der Samen gebildet. Mit Abstand von der Plazenta nimmt die Schärfe in der Frucht ab, sodass typischerweise die Spitze weniger scharf als das Stielende ist. Capsaicin ist nicht in Wasser, jedoch in fetthaltigen Substanzen wie Milch und Joghurt oder hochprozentigem Alkohol löslich. Dies erklärt auch die Tatsache, dass nach dem Verzehr scharfer Speisen das Trinken von Wasser nichts nützt, die Aufnahme von Milch, Joghurt oder hochprozentigen alkoholischen Getränken dagegen zu einer Besserung der Schärfe führt.
TRPV1-Rezeptor
Capsaicin wirkt durch die Aktivierung des sogenannten TRPV1-Rezeptors (Transient Potential Receptor Vaniloid). Hierbei handelt es sich um einen aus 6 transmembranösen Domänen bestehenden, durch Liganden gesteuerten, nichtselektiven Kationenkanal, welcher auf der Oberfläche von nozizeptiven Neuronen angesiedelt ist, die wiederum viele Organe und Strukturen einschliesslich des Gehirns, der Haut, der Blase, der Niere, der Leber und des Darms innervieren. Dieser Rezeptortyp kommt somit im peripheren und im zentralen Nervensystem vor und spielt eine zentrale Rolle in der Verarbeitung von sensorischen Prozessen. Die Bindung von Capsaicin an TRPV1 führt zu einer Erhöhung des intrazellulären Kalziumspiegels, gefolgt von einer Freisetzung verschiedener Neuropeptide wie insbesondere Substanz P. Substanz P führt zu einer lokalen Vasodilatation, welche über die Freisetzung von Stickstoffmonoxiden (NO) und von Histamin aus Mastzellen vermittelt wird. Vom betroffenen Menschen wird eine schmerzhafte Erhitzung gefolgt von einer Hyperämie und lokaler Rötung der Haut wahrgenommen. Der Kanal wird neben Capsaicin auch durch PH-Wert-Änderungen und Hitze stimuliert. Das heisst, der Rezeptor enthält eine hitzesensible Untereinheit, welche durch Capsaicin und eine subjektive Hitzewahrnehmung stimuliert wird (3). Im Verlauf kommt es jedoch infolge einer Desensibilisierung zu einer Schmerzreduktion, da die Substanz-P-Speicher entleert werden und eine Weiterleitung von Aktionspotenzialen nach zentral und dort die entsprechende Schmerzwahrnehmung ausbleibt. Capsaicin wirkt somit in einer ersten Reaktion über eine Sensibilisierung, in einem zweiten Schritt über eine Desensibilisierung und schliesslich in einem dritten Schritt über eine Defunktionalisierung, da es nach langfristig niedrig dosierter oder kurzzeitig hoch dosierter Anwendung zu einem nachweislichen Rückzug der Nozizeptoren kommt, wie sich in entsprechenden Hautbiopsie-Präparaten zeigen liess (4).
Studien
Die Evidenz für die Therapie mit Capsaicin ist vergleichsweise gut. Es liegen ältere kontrollierte Studien über die Anwendung von niedrig dosiertem Capsaicin in einer 0,05-prozentigen Crème vor, in denen auch gezeigt werden konnte, dass nur die
Schmerzwahrnehmung, nicht jedoch die übrigen sensiblen Qualitäten durch Capsaicin beeinflusst werden (5). Diese Studien haben dazu geführt, dass in Evidenz-basierten Leitlinien zur Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie Capsaicin eine Level-B-Evidenz erreicht hat (6). Neuerdings liegt eine hochprozentige, als Pflaster zu verabreichende Form vor. Hier wird 8%iges Capsaicin über der schmerzhaften Stelle über 60 Minuten (an den Füssen 30 Minuten) appliziert und führt in der Folge für 3 Monate zu einer signifikanten Schmerzreduktion (7). Dieses Präparat (Qutenza®) ist zur Behandlung von peripher-neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen, die nicht an Diabetes leiden, als Monotherapie oder in Kombination mit anderen Arzneimitteln gegen Schmerzen zugelassen. Für eine Therapie der schmerzhaften diabetischen Neuropathie besteht bisher keine Zulassung, wobei nach Abschluss entsprechender Studien möglicherweise in Zukunft mit dieser Indikation gerechnet werden kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich bei der Therapie mit Capsaicin um eine Erfolg versprechende Ergänzung der uns zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung neuropathischer Schmerzsyndrome handelt, welche in Zukunft möglicherweise noch an Bedeutung gewinnen wird. ◆
Adresse des Referenten Dr. med Stefan Hägele-Link Kantonsspital St.Gallen 9007 St Gallen stefan.haegele-link@kssg.ch
Literaturreferenzen: 1. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 4. überarbeitete Auflage, Thieme Verlag 2008. 2. Sommer C, Lauria G.: Skin biopsy in the management of peripheral neuropathy, Lancet Neurology 2007, 6: 632–642. 3. Lourdes Reyes-Escogido et al.: Chemical and pharmacological aspects of capsaicin, Molecules 2011; 16, 1253–1270. 4. Kennedy WR et al.: A randomized, controlled, open-label study of the long-term effects of NGX4010, a high-concentration capsaicin patch, on epidermal nerve fiber density and sensory function in healthy volunteers, J Pain (2010), 11(6): 579–587. 5. Forst T et al.: The influence of local capsaicin treatment on small nerve fibre function and neurovascular control in symptomatic diabetic neuropathy, Acta Diabetol 2002; 39: 1–6. 6. Bril V et al.: Evidence-based guideline: Treatment of painful diabetic neuropathy, Neurology 2011; 76; 1758–1765. 7. NGX-4010, a high-concentration capsaicin patch, for the treatment of postherpetic neuralgia: a randomised, double-blind study, Lancet Neurol 2008; 7: 1106–1112.
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