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DIABETOLOGIE/ENDOKRINOLOGIE
Typ-2-Diabetes
Therapie in der Praxis – am Beispiel von 4 Fallberichten
Die mittlerweile breite Auswahl an Substanzen der kardiovaskulär wirksamen Medikamentenklassen SGLT2-Hemmer und GLP-1-Rezeptor-Analoga erlaubt es, auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Patienten einzugehen. Wie das in der Praxis aussieht, erläuterten Prof. Giatgen A. Spinas und Dr. med. Regula Honegger anhand von Fallberichten am virtuellen Ärztekongress Davos.
Der Zielwert für das HbA1c liegt je nach individueller Konstellation zwischen 6 und 8 Prozent. Welcher Zielwert für welchen Patienten der richtige ist, hängt unter anderem vom jeweiligen Risiko für Hypoglykämien und andere Nebenwirkungen, von der Diabetesdauer sowie von prävalenten kardiovaskulären Komplikationen ab. Auch die Motivation des Patienten, seine Lebenserwartung und Komorbiditäten seien wichtige Aspekte, sagte Prof. Giatgen A. Spinas, Senior Consultant Endokrinologie, Spital Oberengadin, Samedan. Idealerweise sollten Patient und Arzt gemeinsam entscheiden, welche Medikamente zum Einsatz kommen. Die Präferenzen aus der Sicht von Arzt und Patient sind nicht dieselben. Während Ärzte bei der Auswahl der Medikamente beispielsweise eher an die Reduktion vaskulärer Folgeerkrankungen, den Einfluss auf die Mortalität und die Kontraindikationen denken, möchten Patienten in der Regel so wenig Tabletten wie möglich, lieber eine Tablette anstelle einer Injektion und, falls Letztere unumgänglich ist, lieber nur eine Spritze pro Woche als jeden Tag. Einig sind sich Ärzte und Patienten meist in zwei Punkten: Sie wollen Hypoglykämien und eine Gewichtszunahme vermeiden.
Kardiovaskuläres Risiko ist entscheidend
Gemäss den aktuellen Guidelines der European Association for the Study of Diabetes (EASD) und der American Diabetes
KURZ & BÜNDIG
� Bei Typ-2-Diabetes sollten Arzt und Patient die Therapie gemeinsam auswählen, wobei nicht nur pharmakologische Fakten, sondern auch persönliche Präferenzen und das soziale Umfeld des Patienten eine Rolle spielen.
� Für Typ-2-Diabetiker mit kardiovaskulären Vorerkrankungen oder Niereninsuffizienz kommen in erster Linie GLP-1-Rezeptor-Analoga oder SGLT2-Hemmer infrage.
� Bei Patienten mit monogenen Diabetesformen vom Typ MODY-1 und -3 sind Sulfonylharnstoffe die Therapie der Wahl.
Association (ADA) sind Metformin und umfassende Lebensstilveränderungen für alle Typ-2-Diabetiker indiziert. Je nach kardiovaskulärem und nephrologischem Profil werden, unabhängig vom individuellen HbA1c-Zielwert, von Glykämie oder Metformingebrauch, GLP-1-Rezeptor-Analoga (GLP1-RA) oder SGLT2-Hemmer empfohlen (1). Bei einer klinisch manifesten kardiovaskulären Erkrankung beziehungsweise einem hohen kardiovaskulären Risiko kommen beide Medikamentenklassen infrage. Bei Herzinsuffizienz, vor allem mit reduzierter Ejektionsfraktion (HFrEF mit EF < 40%), sind SGLT2-Hemmer indiziert, ebenso bei diabetischer Nephropathie mit oder ohne Albuminurie (1). Bei Patienten ohne oder mit einem allenfalls moderaten kardiovaskulären Risiko könnten als erstes Addon zu Metformin auch DPP-4-Hemmer oder Sulfonylharnstoffe eingesetzt werden, sagte Spinas.
Fall 1: Diabetes, KHK und Herzinsuffizienz
Typ-2-Diabetes ist mit einem hohen Risiko für Herzinsuffizienz verbunden. So hatten in der Shortwave-Studie 2 von 3 erwachsenen Typ-2-Diabetikern innert 5 Jahren nach ihrer Diabetesdiagnose eine asymptomatische Linksherzinsuffizienz (2). Bei einem 79-jährigen Patienten mit einer langen Typ-2-Diabetes-Geschichte (Diagnose seit 25 Jahren) stellt sich die Frage, ob die Diabetestherapie angesichts der kardiovaskulären Entwicklung verändert werden sollte. Sein HbA1c-Wert ist gut (6,9%), sein Körpergewicht ist normal. Seine Medikamentenliste umfasst neben den Diabetesmedikamenten (Basalinsulin, Metformin, Sulfonylharnstoff) ein Antihypertonikum, ein Statin und Acetylsalicylsäure. Der Sulfonylharnstoff wird abgesetzt, weil er das Hypoglykämierisiko bei kardiovaskulären Erkrankungen erhöht. Stattdessen erhält der Patient nun Dapagliflozin, einen SGLT2-Hemmer, der das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Hospitalisationen bei diabetischen und nicht diabetischen HFrEF-Patienten vermindern kann (3). Diese Risikosenkung sei aber auch für die anderen SGLT2-Hemmer belegt, betonte Spinas (4). Fazit: Alle SGLT2-Hemmer werden als Erstlinientherapie für Typ-2-Diabetiker mit kardiovaskulären Erkrankungen emp-
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fohlen. Das Nebenwirkungsspektrum der SGLT2-Hemmer ist vergleichbar (Genitalmykosen, Ketoazidose).
Fall 2: Stimmt die Diagnose?
Bei einem 77-Jährigen (Diabetesdiagnose seit 15 Jahren) waren die Blutzuckerwerte mit dem Sulfonylharnstoff Gliclazid gut unter Kontrolle. Als der HbA1c-Wert über 8,5 Prozent stieg und gleichzeitig eine Arteriosklerose mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) auftrat, wechselte man auf einen SGLT2-Hemmer. Der Blutzucker sank aber nicht, im Gegenteil: Der HbA1c-Wert stieg rasant auf über 9 Prozent. Man kehrte wieder zum Gliclazid zurück, vorübergehend ergänzt durch Insulin. Danach waren die Blutzuckerwerte wieder unter Kontrolle. Eine erneute, detaillierte Anamnese ergibt eine hohe familiäre Belastung mit Typ-2-Diabetes. In der Familie sind alle eher schlank, und keiner verwendet Insulin. Bei dem Patienten wird ein homozygoter familiärer Faktor-V-Leiden-Defekt festgestellt. Unter Hypoglykämien leidet er nicht, er berichtet aber von einem «schummerigen Gefühl», das in letzter Zeit immer wieder einmal auftrete. Hier stelle sich die Frage, ob der Patient überhaupt einen Typ-2-Diabetes habe, sagte Spinas. Zurzeit unterscheidet man 3 Klassen von Diabetes: s Typ-1-Diabetes: zirka 10 Prozent aller Diabetiker, auto-
immun bedingt (> 20 immunsystemrelevante Genvarianten) oder idiopathisch s Typ-2-Diabetes: zirka 85 Prozent aller Diabetiker (> 80 insulinrelevante Genvarianten) s spezifische Diabetesformen: Zirka 2 Prozent monogene Formen mit gestörter Insulinsekretion (MODY [maturity onset diabetes of the youth], bis anhin 11 bekannte Formen). MODY-1 und MODY-2 sprechen sehr gut auf Sulfonylharnstoffe an. Dieser Patient hat vermutlich einen MODY, auf eine genetische Abklärung wird verzichtet. Die Ursache für das «schummerige Gefühl» bleibt unklar. Eine Hypoglykämie ist es jedenfalls nicht, weil die Reduktion des Gliclazids weder etwas an dem Gefühl ändert noch den Blutzuckerspiegel zu erhöhen vermag. Fazit: Bei Verdacht auf eine monogene Diabetesform (MODY) ist der probatorische Einsatz von Sulfonylharnstoffen indiziert.
Fall 3: Oraler GLP-1-RA wegen Spritzenangst
Die 69-jährige Typ-2-Diabetikerin in der Praxis der Diabetologin Dr. med. Regula Honegger, Horgen, erfüllt alle Kriterien, die für einen GLP-1-RA oder einen SGLT2-Hemmer sprechen: Sie hat zusätzlich Hypertonie, Dyslipidämie, Adipositas (BMI: 33) sowie KHK, und sie erlitt vor 2 Jahren einen Herzinfarkt (NSTEMI). Unter Kombinationstherapie mit Metformin und Sitagliptin liegt ihr HbA1c-Wert bei 8,1 Prozent. Die Patientin berichtet, dass sie früher schon einmal Basalinsulin habe spritzen müssen, aber das sei nicht gut gegangen, und sie habe schreckliche Angst vor Nadeln. Bei der Entscheidung zwischen einem GLP-1-RA oder einem SGLT2-Hemmer spielen in diesem Fall mehrere Aspekte eine Rolle: s Beide Klassen vermindern das Risiko für nicht tödlichen
Schlaganfall, nicht tödlichen Myokardinfarkt und kar-
diovaskulär bedingten Tod (MACE: major adverse cardiac event). s GLP-1-RA vermindern das Körpergewicht, und sie reduzieren insbesondere das Schlaganfallrisiko. s SGLT2-Hemmer bieten hingegen Vorteile bei der Nephroprotektion sowie bei der Herzinsuffizienz (s. Fall 1). Ein GLP-1-RA ist für diese Patientin sicher von Vorteil, zumal sie unbedingt abnehmen möchte. Wegen der Spritzenangst kommt nur der zurzeit einzige orale GLP-1-RA infrage, das orale Semaglutid (Rybelsus®). «Das ist aber kein ganz einfaches Medikament. Es ist wichtig, dass Sie die Patienten genau instruieren, sonst funktioniert es nicht», sagte Honegger. Das Medikament muss auf nüchternen Magen eingenommen werden, wobei seit der letzten Mahlzeit mindestens 6 Stunden vergangen sein müssen. Die Tablette darf nur mit Wasser eingenommen werden, und es dürfen nicht mehr als 120 ml sein: «Das sind keine 2 Deziliter, sondern wirklich nur 120 Milliliter», betonte die Referentin. Frühestens 30 Minuten nach der Einnahme darf dann wieder nach Wunsch gegessen und getrunken werden. Honegger empfahl, die Einnahme direkt nach dem Aufwachen einzuplanen (Tablette auf den Nachttisch legen). Ausser einer leichten Obstipation hat die Patientin weder Übelkeit noch andere Nebenwirkungen. Nach dem langsamen Erhöhen der Dosis wird sie nach 3 Monaten auf die Höchstdosis von 14 mg/Tag gesetzt. Nach weiteren 3 Monaten hat sie 4 kg abgenommen, und der HbA1c-Wert ist von 8,1 auf 7,2 Prozent gesunken. Nach einem weiteren halben Jahr hat sie wieder 1 kg zugenommen, und der HbA1c-Wert hat sich auf 7,5 Prozent stabilisiert. Die Patientin bleibt damit etwas unter den mittleren Werten, die in der Zulassungsstudie ermittelt wurden (HbA1c-Wert: –1,5%; Gewicht: –4,1 kg) (5). Fazit: Orales Semaglutid muss nach einer genauen Instruktion eingenommen werden. Es fördert das Sättigungsgefühl. Man sollte den Patienten sagen, dass mangelnder Appetit eine erwünschte Nebenwirkung ist. Gastrointestinale Nebenwirkungen, die meistens mild sind, können auftreten. Injizierbare GLP-1-RA bewirken eine deutlichere Senkung des HbA1c-Werts und eine höhere Gewichtsreduktion als das orale Präparat.
Fall 4: GLP-1-RA statt Insulin
Der 70-Jährige hat seit gut 10 Jahren Typ-2-Diabetes, ausserdem eine Dyslipidämie, Hypertonie und Adipositas (BMI: 31). Er ist körperlich fit. Sein HbA1c-Wert liegt bei 9,1 Prozent, sodass ihn sein Hausarzt zur Diabetologin schickt, um seinen Blutzucker besser einzustellen. Der Patient injiziert sich abends Insulin, möchte aber davon weg, zumal er wegen des Insulins 5 kg zugenommen hat. Er hat es bereits mit SGLT2-Hemmern versucht, dabei aber immer wieder rezidivierende Balanitiden erlitten. Gemeinsam mit dem Patienten entscheidet sich die Diabetologin für injizierbares Semaglutid, das 1-mal pro Woche unabhängig von den Mahlzeiten gespritzt wird (Ozempic®). «Bitte verschreiben Sie kein Ozempic®, wenn der BMI nicht über 28 liegt», sagte Honegger. Bei einem BMI > 28 braucht es keine Kostengutsprache, liegt der BMI darunter, kann es Probleme mit der Erstattung durch die Krankenkasse geben.
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In den ersten 4 Wochen wird das Insulin am Abend weiterhin
gespritzt. Der Patient berichtet von einer leichten Übelkeit
beim Start der neuen Therapie. Er habe nun deutlich weniger
Hunger und bereits 2 kg abgenommen. Nach 6 Wochen hat
er insgesamt 4 kg abgenommen, die Semaglutiddosis wird
auf 1 mg erhöht, das Insulin wird abgesetzt. Mit der Dosis-
steigerung tritt vorübergehend wieder Übelkeit auf, die der
Patient aber nicht als problematisch empfindet. Nach insge-
samt 14 Wochen ist die Obstipation die einzige Nebenwir-
kung. Nach weiteren 3 Monaten (insgesamt 25 Wochen seit
Beginn der Semaglutidtherapie) hat er insgesamt 10 kg ab-
genommen, und sein HbA1c-Wert liegt bei 6,8 Prozent. Ge-
wicht und HbA1c-Wert seien bis heute, also nach fast 1 Jahr,
stabil geblieben, sagte Honegger.
Fazit: Semaglutid kann zu einer deutlichen Senkung von
HbA1c-Wert und Gewicht führen. Das Risiko für kardiovas-
kuläre Ereignisse (MACE: kardiovaskuläre Mortalität,
nicht tödlicher Herzinfarkt, nicht tödlicher Schlaganfall)
wird vermindert, wobei 45 Patienten 2 Jahre lang behandelt
werden müssen, um 1 MACE zu verhindern (6). Dieser Ef-
fekt ist in ähnlichem Ausmass bei allen GLP-1-RA nachweis-
bar (6–9).
s
Renate Bonifer
Workshop: Innovation und Herausforderungen in der Diabetestherapie: Was muss der Hausarzt/die Hausärztin wissen? 61. Ärztekongress Davos, 10. bis 11. Februar 2022.
Referenzen: 1. American Diabetes Association Professional Practice Committee; Ame-
rican Diabetes Association Professional Practice Committee: Draznin B et al.: 9. Pharmacologic Approaches to Glycemic Treatment: Standards of Medical Care in Diabetes 2022. Diabetes Care. 2022;45(Supplement 1):S125-S143. 2. Faden G et al.: The increasing detection of asymptomatic left ventricular dysfunction in patients with type 2 diabetes mellitus without overt cardiac disease: data from the SHORTWAVE study. Diabetes Res Clin Pract. 2013;101(3):309-316. 3. Petrie MC et al.: Effect of Dapagliflozin on Worsening Heart Failure and Cardiovascular Death in Patients With Heart Failure With and Without Diabetes (published correction appears in JAMA. 2021 Apr 6;325[13]:1335). JAMA. 2020;323(14):1353-1368. 4. Zannad F et al.: SGLT2 inhibitors in patients with heart failure with reduced ejection fraction: a meta-analysis of the EMPEROR-Reduced and DAPA-HF trials. Lancet. 2020;396(10254):819-829. 5. Aroda VR et al.: PIONEER 1: Randomized Clinical Trial of the Efficacy and Safety of Oral Semaglutide Monotherapy in Comparison With Placebo in Patients With Type 2 Diabetes. Diabetes Care. 2019;42(9):1724-1732. 6. Marso SP et al.: Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2016;375(19):1834-1844. 7. Marso SP et al.: Liraglutide and Cardiovascular Outcomes in Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2016;375(4):311-322. 8. Gerstein HC et al. Dulaglutide and cardiovascular outcomes in type 2 diabetes (REWIND): a double-blind, randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2019;394(10193):121-130. 9. Husain M et al.: Oral Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med. 2019;381(9):841-851.
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