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RHEUMATOLOGIE
Schmerztherapie
Vorsicht im Umgang mit Opioiden
Die aktuellen Erfahrungen aus den USA zeigen, wohin die kritiklose Verordnung von Opioid-Analgetika führen kann. Doch auch in der Schweiz ist der Opioidgebrauch pro Kopf in den vergangenen 20 Jahren um den Faktor 23 gestiegen. Gefragt ist also ein umsichtiger und evidenzbasierter Umgang mit diesen Schmerzmitteln.
Das Schmerzerleben wird bestimmt einerseits durch einen nozizeptiven oder neuropathischen Input und andererseits durch die individuell stark unterschiedliche Schmerzverarbeitung, die unter anderem durch Erfahrungen, Prägungen oder etwaige psychische Erkrankungen bestimmt wird, so Prof. Wilhelm Ruppen, Leitender Arzt Schmerztherapie am Universitätsspital Basel beim Rheuma Top 2020. Traumata haben starken Einfluss auf die Fähigkeit des Individuums, mit Schmerz umzugehen. Dies hat messbare mechanistische Hintergründe. Ruppen verwies auf eine Studie, die bei sicher gebundenen Menschen im Thalamus und einigen weiteren für die Schmerzwahrnehmung wichtigen Hirnregionen eine höhere Dichte von μ-Rezeptoren fand. Unsicher gebundene Menschen haben also weniger endogene Möglichkeiten, Schmerzreize zu dämpfen. Studien im Tiermodell fanden bei Ratten, die früh von der Mutter getrennt wurden, eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Psychische und physische Traumata in der Kindheit und im späteren Leben erhöhen also die Vulnerabilität für chronischen Schmerz (2). Man spricht in solchen Fällen von einer stressinduzierten Hyperalgesie. Bei entsprechender Disposition kann bereits der geringste Schmerzreiz für den Betroffenen unerträglich werden. Für die Praxis bedeute dies, so Ruppen, dass die Therapie eines chronischen, komplexen Schmerzpatienten eine umfassende biopsychosoziale Exploration erfordert.
Starker Anstieg der Opioidverschreibungen seit den 90er-Jahren
Was in der Schmerzmedizin auf der Populationsebene schlimmstenfalls schiefgehen kann, zeigt die aktuelle Opioidkrise in den USA. Obwohl die Schweiz von solchen Zuständen weit entfernt ist, bleibt doch ein beständiger Anstieg des Opioidkonsums pro Person festzustellen – und zwar zwischen 1995 und 2015 auf das 23-fache. Damit liegt die Schweiz im weltweiten Vergleich auf Platz 7 (3). Vorsicht sei also durchaus angebracht, so Ruppen. Dies bedeute, dass Opioide nur indikationsgemäss eingesetzt werden und ihre Wirksamkeit nicht überschätzt werden sollte. Eine Studie in der Indikation chronischer Rückenschmerz zeigt, dass 26,2 Prozent der Patienten mit einem Opioid eine Schmerzreduktion um 50 Prozent erreichen – im Vergleich zu
21 Prozent unter Plazebo. Das bedeutet eine Number needed to treat (NNT) von 19 für eine Reduktion der Schmerzen um die Hälfte. Dazu kommen Nebenwirkungen, die in der Opioidgruppe bei fast einem Viertel der Patienten zum Abbruch der Behandlung führten. Die Number needed to harm (NNH) lag in dieser Studie bei 5 (4). Ruppen verwies auf eine Reihe weiterer Studien, die ganz ähnliche Ergebnisse brachten. Wenn überhaupt ein signifikanter Effekt gefunden wurde, so war dieser in aller Regel gering. Dies zeige vor allem, dass beim Einsatz von Opioiden, ebenso wie bei allen anderen Schmerztherapien, eine zeitnahe Evaluation vorgenommen werden sollte, um Wirkung und mögliche Nebenwirkungen gegeneinander abwägen zu können. Ein Cochrane-Review von 16 Reviews zu 14 verschiedenen Opioiden fand Nebenwirkungen bei 78 Prozent der Patienten, wobei es sich in 7,5 Prozent um schwere Nebenwirkungen handelte (5). Die möglichen unerwünschten Wirkungen der Opioide sind zahlreich. Ruppen nannte unter anderem Obstipation, Pruritus, sexuelle Dysfunktion, endokrinologische Störungen und Zahnschäden, die für die Patienten zu einer erheblichen finanziellen Belastung werden können, da die Versicherungen die Sanierung durchaus nicht in allen Fällen übernehmen. Eine weitere bedeutsame, aber wenig bekannte Nebenwirkung ist die opioidinduzierte Hyperalgesie (OIH). Die Entdeckung der OIH geht auf eine mehr als 20 Jahre alte Studie zurück, in der Frauen, die sich einer Hysterektomie unterzogen, intraoperativ entweder hohe oder sehr niedrige Fentanyl-Dosen erhielten. Ergebnis war eine geringere postoperative Schmerzbelastung und ein geringerer postoperativer Opioidbedarf jener Patientinnen, die intraoperativ wenig Fentanyl bekommen hatten (6). Die Hyperalgesie trete dosisabhängig auf, so Ruppen.
Missbrauchpotenzial der Opioide
Ein erhebliches Problem im Umgang mit Opioiden stellt der Missbrauch dar. Man könne, so Ruppen, damit rechnen, dass einer von drei Patienten unter Opioidtherapie einen missbräuchlichen Konsum und 8 bis 12 Prozent eine echte Abhängigkeit entwickeln (7). Dies hat mit dem besonderen Wirkmechanismus der Opioide zu tun, die zu einer Schmerz-
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distanzierung führen, da sie die emotionalen Schmerzzentren beeinflussen und nicht das somatosensorische System. Der Schmerz ist nach wie vor vorhanden, wird jedoch nicht mehr als störend empfunden. Die Patienten können nicht mehr zwischen einer Schmerzverminderung und einer verbesserten Stimmung unterscheiden. Ruppen betonte jedoch, dass ungeachtet aller dieser Probleme Opioide nach wie vor benötigt werden. Dies betreffe beispielsweise die postoperative oder die onkologische Schmerztherapie. Der Einsatz von Opioiden muss mit Bedacht erfolgen. Die tägliche Dosis sollte 120 mg orales Morphinäquivalent nicht überschreiten und die Therapiedauer in aller Regel auf maximal drei Monate begrenzt bleiben. Das WHO-Schema ist ausschliesslich für onkologische Patienten validiert und kann nicht ohne weiteres auf andere Schmerzformen umgelegt werden. Und nicht zuletzt müsse dem Patienten im Rahmen einer ausführlichen Schmerzedukation vermittelt werden, mit welchen Medikamenten er es zu tun habe, betonte Ruppen.
Schmerz, in Verbindung mit einer Reduktion von Angst und
Depression. Bei Fibromyalgie erwies sich Ketamin als nicht
wirksam und führe sogar zu einer Verschlechterung der Sym-
ptomatik (11). Dabei wird die Wirkung von Ketamin nicht
vollständig verstanden, denn durch den antagonistischen Ef-
fekt am NMDA-Rezeptor ist sie nicht zur Gänze erklärbar.
Ebenfalls zu den Coanalgetika zählen die Antidepressiva,
wobei die alten Trizyklika nach wie vor die stärkste Wirkung
aufweisen. Laut Cochrane-Database liegt die NNT beim
neuropathischen Schmerz bei den trizyklischen Antidepres-
siva bei 2 bis 3, bei den SNRI zwischen 3 und 5 und bei den
SSRI bei 7. Ruppen berichtete von guten Erfahrungen mit
dem Trizyklikum Trimipramin in sehr niedrigen Dosierun-
gen. Eine gute Alternative ist der SNRI Venlafaxin mit einer
NNT von 3.
Fazit von Ruppen: «Wenn ich auf eine Insel müsste und nur
drei Schmerztherapeutika mitnehmen könnte, so wären das
Lidocain, Trimipramin und Ketamin. Die Opioide wären
nicht dabei».
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Cannabinoide allenfalls schwach wirksam gegen den Schmerz
Leider haben sich auch die Cannabinoide in der Schmerztherapie als enttäuschend und nur sehr begrenzt einsetzbar erwiesen. In einer Metaanalyse von 104 Studien ergab sich für die Cannabinoide eine NNT von 24 für eine Schmerzreduktion um 30 Prozent – wobei die NNH bei 6 lag (8). Dass sich diese negative Einschätzung der Cannabinoide deutlich von dem Bild unterscheidet, das in anderen Metaanalysen gezeichnet wird, habe primär methodische Gründe, wie in einem Positionspapier der europäischen Schmerzgesellschaft EFIC festgehalten wird. Mehrere negative Studien seien in Folge eines publication bias zurückgehalten worden und daher in ältere Analysen nicht eingegangen (9).
Coanalgetika als wichtige Komponente der Schmerztherapie
Eine wichtige Komponente einer guten Schmerztherapie sind nicht zuletzt auch die sogenannten Coanalgetika, wie zum Beispiel die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin. Dass sich diese beiden doch substantiell unterscheiden, zeigt eine aktuelle Metaanalyse. Zwar ist die Wirksamkeit vergleichbar – mit einem leichten Vorteil für Gabapentin – doch bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Nebenwirkungen. Während die NNH bei Gabapentin bei 25,6 liegt, beträgt sie für Pregabalin 13,9 (10). Für Ruppen sind diese Daten ein Grund, Gabapentin im Vergleich zu Pregabalin den Vorzug zu geben, zumal auch die klinische Erfahrung zeige, dass Gabapentin besonders von älteren Patienten besser vertragen werde. Eine Substanz, deren Bedeutung für die Schmerztherapie zunehmend besser verstanden wird, ist niedrigdosiertes Ketamin. Eine Übersichtsarbeit fand eine dosisabhängige Schmerzreduktion, insbesondere beim neuropathischen
Reno Barth
Quelle: Vortrag «Medikamentöse Schmerztherapie nach der Opiat-Epidemie»
beim Rheuma Top 2020, online am 27. August 2020.
Referenzen: 1. Nummenmaa L et al.: Adult attachment style is associated with
cerebral µ-opioid receptor availability in humans. Hum Brain Mapp 2015; 36(9): 3621–3628. 2. Egle UT et al.: Stress-induced hyperalgesia (SIH) as a consequence of emotional deprivation and psychosocial traumatization in childhood: Implications for the treatment of chronic pain. Schmerz 2016; 30(6): 526–536. 3. Ruchat D et al.: Opioid consumption from 1985 to 2015: The situation in Switzerland, with an international comparison. Rev Med Suisse 2018; 14(612): 1262–1266. 4. Häuser W et al.: Long-term opioid use in non-cancer pain. Dtsch Arztebl Int 2014; 111(43): 732–740. 5. Els C et al.: Adverse events associated with medium- and longterm use of opioids for chronic non-cancer pain: an overview of Cochrane Reviews. Cochrane Database Syst Rev 2017; 10(10): CD012509. 6. Chia YY et al.: Intraoperative high dose fentanyl induces postoperative fentanyl tolerance. Can J Anaesth 1999; 46(9): 872–877. 7. Vowles KE et al.: Rates of opioid misuse, abuse, and addiction in chronic pain: a systematic review and data synthesis. Pain 2015; 156(4): 569–576. 8. Stockings E et al.: Cannabis and cannabinoids for the treatment of people with chronic noncancer pain conditions: a systematic review and meta-analysis of controlled and observational studies. Pain 2018; 159(10): 1932–1954. 9. Häuser W et al.: European Pain Federation (EFIC) position paper on appropriate use of cannabis-based medicines and medical cannabis for chronic pain management. Eur J Pain 2018; 22(9): 1547–1564. 10. Finnerup NB et al.: Pharmacotherapy for neuropathic pain in adults: a systematic review and meta-analysis. Lancet Neurol 2015; 14(2): 162–173. 11. Pickering G et al.: Ketamine and chronic pain: A narrative review of its efficacy and its adverse events. Therapie 2018; 73(6): 529–539. 12. Saarto T, Wiffen PJ: Antidepressants for neuropathic pain. Cochrane Database Syst Rev 2007; (4): CD005454.
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