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DIABETES
Noch mehr Gewicht auf die Ernährung legen
Interview mit Prof. Roger Lehmann, Universitätsspital Zürich
Foto: zVg
Am EASD-Kongress traf ARS MEDICI Prof. Roger Lehmann, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich. Im Interview verriet er, was ihm bei der Therapie des Typ-2-Diabetes wichtig ist und wie die diesjährigen Kongressneuigkeiten zu bewerten sind.
Ars Medici: Die UKPDS* feiert ihren 40. Ge-
burtstag. Was hat sich seither geändert?
Roger Lehmann: Das Ziel dieser Studie war es,
zu beweisen, welche Therapie überlegen ist:
Lebensstiländerungen wie Ernährung und kör-
perliche Aktivität, Metformin, Sulfonylharn-
stoffe oder Basalinsulin. Nach Randomisie-
rung zu einer dieser Therapien hat man gewar-
tet, bis der Nüchternblutzucker über 15 mmol/l
Prof. Roger Lehmann
lag, bevor man eine Kombinationstherapie einsetzte. Von den 5000 Teilnehmern der Studie
erhielten aber nur gerade 342 Metformin. Das waren die
Übergewichtigen. Der erste Effekt einer Diät war immer gut,
der HbA1c-Wert sank. Doch dann fuhr man weiter mit Ein-
zeltherapien. In der heutigen Zeit sollte der Diabetes mög-
lichst früh entdeckt werden. Auch in der UKPDS hatten bei
Neudiagnose 50 Prozent der Teilnehmer bereits diabetische
Komplikationen. Der Diabetes soll möglichst frühzeitig be-
handelt werden. Dies wohl mit Metformin, aber nicht allein,
sondern multifaktoriell und intensiv in Kombination mit an-
deren Antidiabetika. Denn die ersten Jahre der Therapie sind
für die Prognose entscheidend.
Was ist wichtig in der Therapie beim Hausarzt? Mit einer besseren Therapie, wie sie heute zur Verfügung steht, das heisst mit Medikamenten, die zu keinen Hypoglykämien führen, und besseren Insulinen provoziert man weniger Hypoglykämien. Sulfonylharnstoffe sollten nie zusammen mit Insulin eingesetzt werden, weil dadurch die Hypoglykämierate 9- bis 40-mal höher ist. Für Patienten, die kardiovaskuläre Ereignisse erlitten haben oder deren kardiovaskuläre Erkrankungen noch zu keinem Ereignis geführt haben, kommen zwei Antidiabetikagruppen infrage: langwirksame GLP-1-Rezeptor-Agonisten und SGLT2-Hemmer. Diese sollte man sehr früh in Kombination mit Metformin verordnen und später vielleicht die verbleibende Gruppe dazukombinieren. Mit dieser Kombination lassen sich Herz und Nieren schützen. Mit SGLT2-Hemmern lässt sich auch das Risiko für eine Herzinsuffizienz senken. Im Vergleich zu früher ist die Herzinfarktrate zwar etwa um
die Hälfte geschrumpft, doch sind die Zahlen bei der Herzinsuffizienz ums Dreifache angestiegen. Diese Therapien bieten neben der blossen HbA1c-Senkung einen Mehrnutzen für Herz und Nieren, haben aber auch mehr Nebenwirkungen als DPP-4-Hemmer. Diese Art von Therapie ist erklärungsbedürftiger, aber es lohnt sich, dies zu versuchen. Wichtig ist auch die Beratung betreffend Lebensstilmodifizierung. Daher legen wir in den neuen schweizerischen Empfehlungen noch mehr Gewicht auf die Lebensstilmodifikation.
Wie soll der Patient an den Umgang mit der Erkrankung herangeführt werden? Mit der heutigen Technologie ist dies viel einfacher geworden. Beispielweise kann mit einem 24-Stunden-Blutzuckermessgerät wie dem Freestyle Libre, das der Patient an seinem Körper trägt, die unmittelbare Auswirkung von verschiedenen Lebensmitteln auf dem Ablesegerät direkt sehen. In der Meinung, mit Cornflakes zum Frühstück etwas Gesundes zu essen, wird plötzlich sichtbar, wie der Blutzucker in die Höhe schiesst. So lernen die Patienten abzuschätzen, welche Lebensmittel sich wie auf den Blutzucker auswirken. Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die noch kein Insulin brauchen und auch nicht permanent den Blutzucker messen müssen, ist diese Messmethode in der Anfangsphase trotzdem edukativ sehr wertvoll, weil es das Verständnis für die Erkrankung und die Therapieadhärenz verbessert.
Lässt sich eine Typ-2-Diabetes-Erkrankung mit Diät rückgängig machen? Den Zusammenhang mit dem Gewicht sollte man den Patienten besser erklären. Beispielsweise mit einem Gefäss, das in jungen Jahren mit hundert Prozent Insulin gefüllt ist und mit zunehmender Erkrankungsdauer stetig an Füllmenge verliert. Je nach Anstrengung bei der Gewichtsreduktion lässt sich die sinkende Insulinproduktion verlangsamen, sodass es wesentlich später zur Insulinpflichtigkeit kommt. Gewichtsverlust senkt den Bedarf an Insulin, und Bewegung erhöht die Insulinsensitivität, das heisst, man braucht weniger und kommt mit dem Vorhandenen weiter. Den Patienten diesen
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Zusammenhang verständlich zu machen lohnt sich unbedingt. Dann verstehen sie, dass sie das Tempo der Erkrankungsprogression durch ihr Verhalten selber mitsteuern können. Dies gerade auch bei älteren Patienten, die jahrzehntelang dasselbe gegessen haben und bei denen eine Ernährungsumstellung eigentlich schlechte Chancen hat.
Was war wichtig am Kongress? Vorherrschendes Thema an diesem EASD-Kongress waren die vielen kardiovaskulären Outcome-Studien. Hier gab es mit der HARMONY-Studie positive Daten von Albiglutid, einem albumingebundenen GLP-1-Rezeptor-Agonisten, den es in der Schweiz schon lange gibt. Mit der CARMELINAStudie gab es Daten zu Linagliptin und mit der PIONEERStudie zu Semaglutid. Diese Studien wurden alle mit kardiovaskulären Hochrisikopatienten durchgeführt. Die meisten Hausarztpatienten sind jedoch keine Hochrisikopatienten und nicht durch diese Studien erfasst. Daher sind Daten von Real-World-Studien für den Hausarzt aussagekräftiger, da der Praxisalltag in diesen Studien besser abgebildet ist.
Bei den SGLT2-Hemmern gibt es Unterschiede in der Mortalitätssenkung. Wie ist das zu erklären? Das hat meiner Meinung damit zu tun, dass es bei den Studien unterschiedliche Einschlusskriterien gab, dass die Endpunktdefinitionen unterschiedlich waren und dass die Studien auch nicht gleich gross waren, um die kritische Masse für eine Aussage zu erreichen. Wenn man schaut, welche Wirkungen die Substanzen in den Studien auf die einzelnen Endpunkte hatten, so ist der Unterschied zwischen den Substanzen nicht mehr so gross, weder in der Wirkung noch bezüglich Nebenwirkungen.
Wie muss das Amputationsrisiko von SGLT2-Hemmern eingeschätzt werden? In einer Studie mit Canagliflozin tauchte plötzlich eine erhöhte Amputationsrate auf, und niemand wusste, woher das kam. Heute besteht ein Konsens darüber, dass SGLT2-Hemmer Hypovolämien fördern können und daher bei Patienten mit kritischen Ischämien der kleinen Gefässe nur vorsichtig eingesetzt werden sollten. Des Weiteren sollte eine gleichzeitige Gabe von Diuretika, die ihrerseits zu einer Hypovolämie führen können, vermieden werden. Aber insgesamt ist die Amputationsrate bei SGLT2-Hemmern niedriger als bei Nicht-SGLT2-Hemmern, wie eine am Kongress präsentierte Real-World-Studie zeigte.
Kann man bei der Wirkung von SGLT2-Hemmern von einem Klasseneffekt ausgehen? Bei Wirkung und Nebenwirkungen handelt es sich bei den SGLT2-Hemmern um Klasseneffekte. Kleinere Unterschiede sind zwischen den einzelnen Substanzen aber dennoch sichtbar.
Gilt das auch für GLP-1-Rezeptor-Agonisten? Hier gibt es grosse Unterschiede. Liraglutid, Semaglutid, Dulaglutid und Albiglutid sind humane GLP-1-Rezeptor-Agonisten, Exenatid und Lixisenatid nicht. In der Blutzuckersenkung sind sie alle vergleichbar, bei den kardiovaskulären Effekten und der Gewichtssenkung sind die humanen stärker,
doch gibt es auch da Unterschiede. Eine stärkere Gewichtssenkung hängt vermutlich mit der Grösse der Moleküle zusammen und der damit verbundenen Gehirngängigkeit beziehungsweise der Appetithemmung. Semaglutid senkt das Gewicht am stärksten. Eine Gemeinsamkeit der GLP-1-Rezeptor-Agonisten besteht dagegen im Zusammenhang von Wirkung und Nebenwirkung: je stärker die Wirkung, desto stärker auch die Nebenwirkung.
Am Kongress wurde eine Studie mit dem GLP-1-RezeptorAgonisten Semaglutid in Tablettenform vorgestellt. Ist die Zukunft oral? Für die Patienten ist das ein riesiger Fortschritt. Per os könnte man den GLP-1-Rezeptor-Agonisten schon sehr früh geben, beispielsweise als Dreifachkombination Metformin/SGLT2Hemmer/GLP-1-Rezeptor-Agonist. Das Problem der oralen Formulierung ist jedoch die Bioverfügbarkeit, die viel schlechter ist als die zu spritzende Formulierung. Das bedeutet, dass es oral eine viel grössere Wirkstoffmenge braucht, um auf dieselbe Wirkung zu kommen. Wenn der Preis aufgrund der grösseren Wirkstoffmenge auch umso höher ist, wird diese tolle Neuerung nicht allen Patienten offenstehen. Das gleiche Problem wird auch beim Insulin eintreten. Die Technologie für eine Insulintablette ist zwar vorhanden, doch werden die Krankenkassen keine teuren Pillen bezahlen, wenn die Spritzen viel günstiger sind. Das Prinzip wäre sehr gut und eine grosse Erleichterung für den Patienten.
Mit Sotagliflozin, einem neuen, noch nicht verfügbaren
SGLT1/2-Hemmer, kann bei Typ-1-Diabetes als Add-on In-
sulin gespart werden. Was ist davon zu halten?
Das Prinzip der SGLT2-Hemmung mit der verminderten
Glukosereabsorption bringt auch beim Typ-1-Diabetes einen
Nutzen, und eine Nephroprotektion wäre wünschenswert.
Sotagliflozin hemmt durch zusätzliche SGLT1-Inhibition
auch die Glukoseresorption aus dem Dünndarm, was zu we-
niger hohen Blutzuckerspitzen führt. SGLT2-Hemmer kön-
nen aber zu Ketoazidosen führen, die lebensbedrohlich sein
können. Diese Komplikation ist eigentlich typisch für den
Typ-1-Diabetes, wenn wegen Insulinmangels die Glukose
nicht verwertet werden kann und zu Ketonkörpern ver-
brannt wird. Unter SGLT2-Hemmern gab es auch Fälle von
diabetischer Ketoazidose, die untypisch verliefen und auch
bei tieferen Blutzuckerwerten auftreten können. Die Add-on-
Therapie zum Insulin ist daher nur etwas für gut eingestellte,
sehr sorgfältige Patienten mit Typ-1-Diabetes, die wissen,
dass sie den SGLT1/2-Hemmer an Tagen, an denen sie sich
schlecht fühlen, absetzen müssen. Diese Massnahme gilt
auch für Patienten mit Typ-2-Diabetes: Bei Krankheit, Erbre-
chen, Durchfall, geplanter Operation oder Hospitalisation
sollen Metformin und SGLT2-Hemmer abgesetzt werden
und falls nötig durch Insulin ersetzt werden.
L
* UK Prospective Diabetes Study
Das Interview führte Valérie Herzog.
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