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BERICHT
Medikamentöse Schmerztherapie im Alter
Individuelle Therapieauswahl für ein höchst subjektives Phänomen
In einem kurzweiligen und detailreichen Vortrag am Update-Refresher Innere Medizin des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF) erklärte Dr. Dieter Breil, Universitäre Altersmedizin Felix Platter, Basel, welche Schmerzmedikamente in welchen Indikationen bei älteren Patienten eingesetzt werden können und bei welchen Substanzen in bestimmten Situationen aufgrund von Nebenwirkungen Vorsicht geboten ist.
Grundgerüst der Ausführungen von Breil, der sich dabei auf chronische Schmerzen beschränkte, bildete das Stufenschema der medikamentösen Schmerztherapie der World Health Organization (WHO). «Wenn ihr nun denkt, jetzt kommt er mit dieser alten Schmerzleiter, dann muss ich euch enttäuschen – sie ist auch heute noch aktuell», begründete der Altersmediziner seine Bezugnahme auf die bereits in den 1980er-Jahren primär für Tumorpatienten entwickelten Empfehlungen. Sie vermittelten ein strukturiertes Vorgehen, wenn eine Dosiseskalation gefragt sei, so der Experte weiter, aber im Gegensatz zu früher richte sich die Medikamentenauswahl heute nicht mehr nach der Intensität, sondern nach dem potenziellen Mechanismus des Schmerzes. Von dessen verschiedenen Komponenten, als da wären die neuropathische, die inflammatorische, die nozizeptive oder die hyperalgische, kommen bei geriatrischen Patienten besonders die beiden erstgenannten sehr häufig vor. Die Schmerzintensität allerdings ist ein höchst subjektives Kriterium. Das Wort des Patienten sei der Goldstandard, und es gelte diese Grauzone der Subjektivität zu akzeptieren, sagte Breil und gab zu, dass gelegentlich auch für ihn die vom
KURZ & BÜNDIG
� Bei der Analgesie chronischer Schmerzen gibt es keine Garantie auf Schmerzfreiheit; Arzt und Patient sollten ein realistisch erwartbares Therapieziel formulieren.
� Cave: Chronische Schmerzen führen oft zu körperlichem Schonverhalten (Dekonditionierung), deshalb den Fokus auf Aktivität und Bewegung legen.
� Der Schmerzmechanismus bestimmt die Medikamentenauswahl.
� Kombinationstherapien ermöglichen tiefere Opioiddosen.
� Komorbiditäten (z. B. Parkinson) verlangen individuelle Therapielösungen.
� Wenn der Schmerz unter Opioidtherapie wiederkommt, kann eine Opioidrotation sinnvoll sein.
Patienten angegebene Schmerzintensität nur schwer nachvollziehbar sei, etwa «… wenn jemand in Strandposition im Bett liegt und auf unsere Frage, wo er auf einer Skala von 0 bis 10 sei, antwortet: ‹Bei 11!› …». Das aber sei eben Ausdruck des individuellen Schmerzempfindens dieses Patienten, erklärte der Referent. Seiner Erfahrung nach gibt es in der Generation, die jetzt alt ist, auf der anderen Seite auch viele, die denken, Schmerz gehöre natürlicherweise zum Alter dazu, und deswegen darüber gar nicht erschöpfend berichten. Neben den in der Folge von ihm ausführlich besprochenen pharmakologischen Optionen plädierte Breil durchaus auch für den Einsatz von nicht medikamentösen Massnahmen wie autogenem Training, Entspannungstechniken und (neuro-) psychologischer Begleitung oder auch von lokalen Anwendungen wie Wärme, Kälte, Heublumenwickel oder dergleichen. Diese im Einzelnen zu besprechen würde den Rahmen sprengen, sagte er, sie seien aber gerade bei chronischen Schmerzen absolut wichtig. Das Entscheidende jedoch sei Bewegung, auch wenn der Patient sage, er habe dann noch mehr Schmerzen: »Deshalb lasst bitte keine Schmerz-, sondern Aktivitätstagebücher verfassen und richtet den Fokus auf das, was noch geht – auf das halb volle, nicht auf das halb leere Glas», riet Breil. Wichtig sei es zudem, bei der medikamentösen Schmerztherapie realistische Etappenziele mit dem Patienten zu vereinbaren.
NSAR bei über 75-Jährigen nicht empfohlen
Auf Stufe 1 der WHO-Analgesieleiter stehen die Nichtopioidanalgetika wie Paracetamol/Metamizol, nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) und Steroide sowie die eigentlich für andere Indikationen bestimmten Wirkstoffgruppen der Antidepressiva und Antikonvulsiva, der Muskelrelaxanzien und der Bisphosphonate, die sogenannten Koanalgetika. Alle diese Substanzen können mit jeder anderen Stufe des Schemas kombiniert werden. «Sie beeinflussen die Schmerzentstehung und -weiterleitung auf Stufe des Rückenmarks und sind deshalb gerade bei neuropathischen Schmerzen sehr wertvoll», so Breil. Paracetamol ist ein sehr häufig eingesetztes und laut dem Experten gut verträgliches, aber wenig effektives Basisanal-
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getikum mit einer flachen Dosis-Wirkungs-Kurve. Metamizol dagegen wird kontrovers diskutiert; nach Breils Ansicht ist es eigentlich ein sehr effektives Mittel mit guter Organverträglichkeit, das sich insbesondere anbietet, wenn Opioide schlecht verträglich sind und NSAR nicht indiziert sind beziehungsweise nicht angewendet werden können. Wegen des assoziierten Agranulozytoserisikos wird es in der Schweiz nur in der Zweitlinie eingesetzt und darf nicht zusammen mit anderen agranulozytosefördernden Medikamenten wie beispielsweise Trimethoprim-Sulfamethoxazol, Methotrexat oder Antikonvulsiva gegeben werden. Die Hälfte der Agranulozytosen unter Metamizol tritt laut Breil bereits in der ersten Therapiewoche auf, in den ersten 2 Monaten sind es sogar zirka 95 Prozent. Die Anfertigung eines Blutbilds nach 4 bis 5 Tagen sei deshalb sinnvoll, riet der Referent, der in der eigenen Klinik die betreffenden Patienten, bevor er sie mit Metamizol nach Hause entlässt, über die möglichen Symptome informiert, damit sie bei Fieber oder Halsschmerzen das Medikament absetzen und einen Arzt aufsuchen. Die Agranulozytose sei als Immunreaktion zum Glück oft reversibel und dauere normalerweise 1 Woche, könne aber auch schwerer verlaufen. NSAR wie Acetylsalicylsäure (ASS), Ibuprofen, Diclofenac, Mefenacid und Naproxen oder selektive Cox(Cyclooxigenase)-2-Hemmer wie Etoricoxib und Celecoxib sind hilfreich bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen und auch postoperativ oder posttraumatisch wertvoll, aber aufgrund ihres nicht unerheblichen Nebenwirkungsprofils (gastrointestinal, kardiovaskulär, renal) generell bei über 75-Jährigen nicht mehr empfohlen. Asthmatiker müssten nach vorangegangenen schlechten Erfahrungen mit ASS oder anderen NSAR gefragt werden, warnte Breil, denn durch die Cox-2Hemmung würde die Arachidonsäure als Substrat vorwiegend in Leukotriene umgewandelt, die wiederum proinflammatorische Substanzen darstellten, welche dann den sogenannten Morbus Widal, ein Analgetikaintoleranzsyndrom, auslösen könnten.
Antidepressiva und Antikonvulsiva sind auch Schmerzmittel
Antidepressiva und Antikonvulsiva sind nach Ansicht Breils grossartige Koanalgetika, vor allem bei neuropathischem Schmerz. Erstere, darunter die trizyklischen Antidepressiva wie Trimipramin und Amitriptylin sowie die SerotoninNoradrenalin-Reuptake-Inhibitoren (SNRI) Duloxetin und Venlafaxin, wirken unabhängig vom Vorliegen depressiver Symptome analgetisch, und zwar ebenfalls über eine Schmerzmodulation auf Stufe des Rückenmarks. Die «guten alten Trizyklika» seien hier zwar besonders wirksam, aber in der Altersmedizin nicht so gern gesehen, weil sie anticholinerg wirkten und Orthostasen verursachen könnten, so Breil. Zu den als Schmerzmedikament einsetzbaren Antikonvulsiva zählen Gabapentin beziehungsweise das etwas schneller, dafür aber dämpfender wirkende Pregabalin, das auch (Angio-)Ödeme verursachen kann und in Dosierungen ab 2-mal 75 mg zwar zusätzlich anxiolytisch wirkt, aber sorgfältig eintitriert werden muss, sowie Carbamazepin, das sich zum Beispiel bei Trigeminusneuralgie besonders anbietet. Bei Aufdosierung auf 1,2 g Carbamazepin pro Tag könne es zu zentralnervösen Störungen wie Tremor, Ataxie, Nystagmus
oder Dysarthrie kommen, so Breil. In solchen Fällen könne man einen Trick anwenden und auf das Substrat, nämlich Oxcarbazepin, wechseln, welches weniger zentralnervöse Nebenwirkungen habe. «Bei Trigeminusneuralgie switchen wir gelegentlich alle 3 bis 4 Monate zwischen diesen beiden Medikamenten», berichtete der Experte aus seiner Klinik. Bei neuropathischem Schmerz können zudem topische Therapien Linderung verschaffen; so etwa das fast in Vergessenheit geratene Capsaicin, das eine reversible Schmerzhemmung an den Vanilloidrezeptoren bewirke, die für 2 bis 3 Monate anhalte und danach wiederholbar sei. Allerdings wies der Experte ausdrücklich darauf hin, dass für eine Behandlung mit Capsaicin die Haut unbedingt geschlossen sein muss. Topisches Lidocain hat als Natriumkanalblocker praktisch keine systemischen Nebenwirkungen, kann aber nur für 12 Stunden angewendet werden, ansonsten setzt eine Gewöhnung ein. Schliesslich steht für offene Haut, etwa bei floridem Herpes zoster, noch die sogenannte weisse Schüttelmixtur mit entzündungshemmender, austrocknender und antipruriginöser Wirkung zur Verfügung.
Lieber keine Prodrugs
Wenn Stufe-1-Analgetika unzureichend wirkten, werde in der Altersmedizin direkt in die Stufe 3 zu den hoch potenten Opioiden wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Buprenorphin oder Fentanyl gewechselt, erklärte Breil, und zwar zum einen deshalb, weil im Falle einer klinisch notwendigen Dosissteigerung dann kein erneuter Präparatewechsel mehr erforderlich sei. Der eigentliche Grund, warum nicht in Stufe 2 zu den niedrig potenten Opioiden gewechselt werde, sei aber, dass sämtliche dieser Substanzen wie Codein, Tramadol oder Tilidin Prodrugs seien. Damit diese wirksam sind, müssen sie in der Leber zur aktiven Substanz, nämlich zu Morphin, demethyliert werden. Da die Lebern im Alter aber meist polypharmaziert, kardial gestaut, infektiös, metastatisch oder verfettet seien, wolle er diesen nicht auch noch die über das Enzym Cytochrom P450 2D6 (CYP2D6) laufende Demethylierung zumuten, so der Referent. Zudem gibt es, regional abhängig, etwa 7 bis 10 Prozent «poor metabolizer» oder «fast metabolizer», das heisst Patienten, bei denen durch genetische Polymorphismen CYP2D6 entweder hochoder herunterreguliert ist. Im ersteren Fall kommt es innert kürzester Zeit zur Überflutung mit Morphin, im letzteren resultiert dagegen viel zu wenig aktive Substanz. Zudem besässen Prodrugs ein hohes serotonerges Potenzial, warnte Breil, und könnten daher, vor allem bei zusätzlicher Verabreichung weiterer serotonerger Wirkstoffe, darunter etwa auch das frei verkäufliche Johanniskrautextrakt, zur Ausbildung des inzwischen angesichts der zunehmenden Alterspolypharmazie recht häufigen sogenannten Serotoninsyndroms führen – eines sich dosisabhängig und rasch entwickelnden, durch neuromuskuläre, neurovegetative und psychische Symptome gekennzeichneten Notfalls, welcher durchaus lebensbedrohlich werden könne, meist aber nach Absetzen des Auslösers selbstlimitierend sei. «Wenn man nicht so recht weiterweiss, dann können einem manchmal noch die Tricks aus der Anästhesie weiterhelfen», fuhr Breil fort, um auf die früher intravenös, heutzutage per os verabreichte Kombination eines hoch potenten Neuroleptikums (z. B. Haloperidol) mit einem Opiat zu sprechen zu
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kommen. Mit einer solchen «Neuroleptanalgesie» könne man den Patienten in eine psychovegetative Gleichgültigkeit bringen, und seine Schmerztoleranz sei dann deutlich erhöht, was tiefere Opiatdosen ermögliche. Bei Parkinsonismus allerdings dürfen Neuroleptika, die als Dopaminblocker wirken, nicht eingesetzt werden, weil diese Patienten bereits ein massives dopaminerges Defizit haben.
Opioide mit Bedacht auswählen
Opioide sind psychotrope Substanzen. Die euphorisierende Wirkung, die zum Flash, zur Dosissteigerung und mithin zur Sucht führt, ist dabei proportional zur Anflutgeschwindigkeit im limbischen System. «Alle kurz wirksamen, nicht retardierten, intravenös beziehungsweise transmukosal verabreichten oder inhalierten Substanzen geben mir den Kick, den ich nicht vergessen kann», warnte der Experte. Deshalb müssten Opioide stets «mit Köpfchen» eingesetzt werden, riet er, und gerade bei fordernden Patienten sei die Auswahl gut zu überlegen und Opioiden mit hoher Dosisstabilität und tiefer Hyperalgesierate wie Buprenorphin oder Methadon eventuell der Vorzug zu geben. Beim nicht seltenen Phänomen der opiatinduzierten Hyperalgesie kommt es wie bei der Toleranzentwicklung zu einem graduellen Wirkungsverlust bei wiederholter Anwendung, aber eine Dosissteigerung führt hier zur Verschlechterung der Analgesie. Die Ursache: Ständiger Nachschub an Wirkstoff führt zu kompetitivem Kampf um den Rezeptor. Als Therapie sind hier ein Opiatentzug und eventuell der Einsatz von NMDA(N-Methyl-DAspartat)-Antagonisten wie Methadon und Ketamin oder von Buprenorphin angezeigt. Auch grundsätzlich gelte es gerade bei älteren Patienten, das geeignete Opioid sorgfältig auszuwählen, denn «Opioid ist nicht gleich Opioid», sagte Breil; im Alter lägen oft Multimorbidität und mithin Polypharmazie vor, die berücksichtigt werden müssten. Des Weiteren können nicht alle per os verabreichten Opioide problemlos etwa auch rektal gegeben werden, da dann die Pharmakokinetik zum Teil ungünstig beeinflusst wird. Als die am besten geeigneten Altersopioide empfahl der Experte bei Personen ab 65 Jahren sowie guter
Leber- und Nierenfunktion als erste Wahl Morphin, bei Nie-
reninsuffizienz (GFR [glomeruläre Filtrationsrate]: ca. 30 ml/
min) in dieser Reihenfolge Hydromorphon, Buprenorphin
und Fentanyl sowie bei Leberinsuffizienz wiederum Hydro-
morphon.
Für die Dosierung von Opioiden bei älteren Patienten gelte
der Grundsatz «start low, go slow», stellte Breil fest und riet,
stets und im Übrigen nicht nur bei Opioiden nur mit der
halben empfohlenen Dosis zu beginnen, weil im Alter oft eine
Leber- oder Niereninsuffizienz bestehe sowie viel mehr Fett-
gewebe, ein Muskelrückgang und anderes vorliege. Wichtig
zur Vermeidung von Emesis ist eine langsame Dosissteige-
rung bis zum Erreichen einer totalen Tagesdosis, von der
etwa 10 bis 15 Prozent als Reservoirdosis, und zwar als nicht
retardiertes Opioid, verabreicht werden.
Jedes Opioid habe ein therapeutisches Fenster, in dem es an-
algetisch wirke, erklärte der Altersmediziner, vorher sei es
unwirksam und könne Obstipation, Harnverhalt oder Übel-
keit und Erbrechen verursachen. Kommt es jenseits der an-
algetischen zu toxischen Wirkungen wie Atemdepression,
kognitiven Störungen, Delir oder Stürzen, zu Muskelfasziku-
lationen oder Krämpfen, dann ist ein Wechsel auf einen an-
deren Wirkstoff, die sogenannte Opioidrotation, angezeigt.
Dies gilt auch bei dosislimitierenden Nebenwirkungen sowie
bei Leber- oder Niereninsuffizienz. Dazu werden zunächst
die letzte Tagesdosis (Basis und Reserve) und anschliessend
die Äquivalenzdosis des neuen Opioids ermittelt. Die Dosis
des neuen Opioids sollte deutlich gesenkt werden, etwa um
30 bis 50 Prozent. Von dieser neuen täglichen Basisdosis
werden wiederum 10 bis 15 Prozent als nicht retardierte
Reservedosis verschrieben, die nach Bedarf bis stündlich ver-
abreicht werden kann.
s
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Analgetikatherapie im Alter» von Dr. med. Dieter Breil, Universitäre Altersmedizin Felix Platter, Basel, am FOMF-Update-Refresher Innere Medizin, 28. Juni 2024 in Zürich.
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