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BERICHT
Polyneuropathien
Vielfältig, einschränkend und oft schmerzhaft
Polyneuropathien sind häufige neurologische Erkrankungen mit unterschiedlichen Phänotypen und vielfältigen Ursachen. Betroffene Patienten sind stark beeinträchtigt, weil sie sensible Störungen haben, Schmerzen haben können, gehunsicher sind, ihre Mobilität und Lebensqualität eingeschränkt sind sowie eine erhöhte Sturzgefahr besteht. Über die verschiedenen Formen und Symptome der Polyneuropathien sowie ihre Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten informierte Dr. Christian Lanz, Chefarzt Neurologie, Schulthess Klinik Zürich, am Update-Refresher Allgemeine Innere Medizin des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF).
Seinen Vortrag zum Thema Polyneuropathien untergliederte der Referent zum einen in eine Erläuterung der Definition dieses Krankheitbildes und eine allgemeine Beschreibung der je nach Phänotyp unterschiedlich ausgeprägten Symptomatik und ihres zeitlichen Verlaufs, der diagnostischen Abklärungen und der Therapieoptionen sowie zum anderen in eine spezielle, ausführliche Darstellung der wichtigsten polyneuropathischen Syndrome, die man in der Praxis sieht, nämlich der diabetischen, der chronischen idiopathischen axonalen (CIAP), der alkoholtoxischen sowie der Vitamin-B12Mangel-bedingten Polyneuropathie.
Vielfältige Ursachen
Bei Polyneuropathien handelt es sich um generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die sich auf sensible, auf motorische wie auch auf vegetative Nervenfasern erstrecken können. Erstere sind am häufigsten betroffen, wobei hier wiederum die für Berührung und Propriozeption zuständigen sogenannten dicken Fasern und die dünnen Fasern (C-Fasern), welche Schmerz- und Temperaturreize übertragen, unterschieden werden.
KURZ & BÜNDIG
� Polyneuropathien sind häufige neurologische Erkrankungen.
� Es liegen unterschiedliche Phänotypen vor, der häufigste ist die längenabhängige distale Polyneuropathie.
� Es gibt sehr viele (> 100) Ursachen, die meisten Polyneuropathien sind allerdings auf Diabetes zurückzuführen, haben eine idiopathische oder eine toxische Genese bzw. sind immunvermittelt.
� Die Patienten sollten dazu angehalten werden, ihre körperliche Aktivität beizubehalten, gute Schuhe zu tragen sowie bei Gangunsicherheit einen Stock zu verwenden und auf gute Sichtverhältnisse zu achten.
Polyneuropathien treten mit diversen Phänotypen in Erscheinung; die häufigste Form sei die längenabhängige distale Polyneuropathie, wie Lanz ausführte. Sie beginnt mit symmetrischen Missempfindungen an den Füssen, die langsam und «sockenförmig» aufsteigen. Daneben gibt es auch asymmetrische Formen, die im Zusammenhang mit einer Diabeteserkrankung auftreten können. Die Prävalenz der Polyneuropathien beträgt etwa 2 bis 3 Prozent der Gesamtpopulation und nimmt mit dem Alter zu; bei den über 55-Jährigen liegt sie bei ungefähr 8 Prozent. Die Gründe, warum sich Polyneuropathien entwickeln, sind schier unüberschaubar: «Es sind mehr als 100 mögliche Ursachen bekannt», sagte der Neurologe. Die verschiedenen Formen von Polyneuropathien zeigen eine jeweils charakteristische Altersverteilung: Während die Inzidenz der diabetischen und der idiopathischen Polyneuropathie linear mit dem Alter zunimmt, erreicht die toxisch (durch Alkohol oder Zytostatika) bedingte Polyneuropathie ihr Maximum im mittleren Lebensalter; die immunvermittelte Polyneuropathie (chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie [CIDP]) dagegen ist in jüngeren Jahren häufiger und nimmt mit zunehmendem Alter ab. Gemäss einer statistischen Auswertung von insgesamt 1,2 Mio. elektronischen Patientendossiers zeigt die Gesamtheit der Polyneuropathien eine gedrittelte Verteilung. Etwa ein Drittel ist diabetesbedingt, und knapp ein weiteres Drittel machen jeweils die idiopathische axonale und die toxischen beziehungsweise immunvermittelten Formen aus. Daneben gibt es wenige andere, seltene Polyneuropathien wie die vererbten oder die mit systemischen Erkrankungen oder mit Vitamin-B12-Mangel einhergehenden Formen.
Anamnese und Abklärung
Die Einordnung in die oben beschriebene Einteilung erfolgt nach eingehender Anamnese und mit den Ergebnissen der klinisch-neurologischen Untersuchungen, welche wiederum anhand der anamnestischen Informationen ausgewählt werden. Eine Reihe gezielter Fragen, etwa zur Symptomatik und zu Begleiterkrankungen, und wenige diagnostische Ab-
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Anamnese und Untersuchungen bei Verdacht auf Polyneuropathie
Anamnestische Fragestellungen: ▲ Wo beginnen die Symptome? ▲ Wie ändern sich die Symptome im Zeitverlauf? ▲ Wie ist der zeitliche Verlauf (meist langsam zunehmend, evtl. auf-
steigend – bei akuten Symptomen dagegen sehr enge Differenzialdiagnose: Guillain-Barré-Syndrom, Vaskulitis)? ▲ Sind Füsse und Hände betroffen? ▲ Ist das autonome Nervensystem (Stuhlunregelmässigkeiten, Verdauungsstörungen, Sexualfunktionsstörungen, orthostatische Dysregulation) betroffen? ▲ Wie viel Alkohol trinkt der Patient? ▲ Gibt es Familienmitglieder mit Polyneuropathien oder mit Fussdeformitäten (typisch für vererbte Formen; z. B. Hohlfuss, Krallenzehen)? ▲ Welche anderen (v. a. internistischen) Erkrankungen hat der Patient?
Neurologische Untersuchung: ▲ Motorik/Sensibilität: Ganguntersuchung (Gehen, komplexe Gang-
arten wie Fusspitzen-/Fersen-/Seiltänzergang) ▲ Tiefensensibilität (Stimmgabeltest, Gelenkstellung) ▲ Untersuchung der dünnen Nervenfasern (Schmerz, Temperatur) ▲ Muskeleigenreflexe (nicht auslösbar oder abgeschwächt?) ▲ Achtung: asymmetrische Ausfälle (hinweisend auf zusätzliche
Mononeuropathie oder Radikulopathie?)
Zusatzdiagnostik: ▲ Elektrophysiologie (Welche Nerven sind betroffen?), nur mit dicken
Fasern möglich ▲ Small-Fiber-Neuropathie: Sudoscan®, Hautbiopsie (Bestimmung
der Nervenfaserdichte in der Epidermis) ▲ Bildgebung (Nervenultraschall/MRT): v. a. bei Verdacht auf immun-
vermittelte Polyneuropathie (Nerven verdickt als Reaktion?) ▲ Labor: bei Verdacht auf längenabhängige Polyneuropathie sinnvolle
(ausreichende) Blutuntersuchungen (weil mit therapeutischer Konsequenz): – Blutbild inkl. Differenzialblutbild – C-reaktives Protein, Blutsenkungsgeschwindigkeit – Ausschluss Diabetes mellitus (Glukose, HbA1c) – Vitamin B12 (Holotranscobalamin, Methylmalonsäure, Homo-
cystein) – Eiweisselektrophorese inkl. Immunfixation – Nieren-/Leberwerte
klärungen mit besonderem Augenmerk auf das Gangbild des Patienten können bereits konkrete Hinweise für die kausale Zuordnung von polyneuropathischen Beschwerden geben. Weiteren Aufschluss liefere dann gegebenenfalls die Auswertung von Laborwerten oder die Zusatzdiagnostik wie etwa Elektrophysiologie oder Bildgebung, welche dann das Feld des Neurologen sei, so Lanz (siehe Kasten).
Diabetische Polyneuropathie
Bei Prädiabetes und Diabetes könne man von der globalen Epidemie des 21. Jahrhunderts sprechen, so der Referent. Gemäss der International Diabetes Federation leiden welt-
weit etwa 425 Mio. Menschen an Diabetes, und etwa die Hälfte von ihnen entwickelt eine Polyneuropathie, meist als längenabhängige distale symmetrische (socken-/handschuhförmig) und seltener als asymmetrische Form. Zu den Risikofaktoren zählen die Dauer des Diabetes und dessen Einstellung (HbA1c) sowie bei Diabetes mellitus Typ 2 (DMT2) auch das metabolische Syndrom, also Parameter wie Hochdruck, Cholesterinwerte und Übergewicht, die dann auch therapeutisch von Bedeutung sind. Betroffen sind überwiegend sensible, aber auch autonome und im weiteren Verlauf auch motorische Nervenfasern. Neben Parästhesien, eventuell in Kombination mit Hypästhesien, kommt es bei 30 bis 50 Prozent der Patienten, darunter mehr Frauen als Männer, und in allen Stadien, aber häufiger bei fortgeschrittener Erkrankung, zu neuropathischen Schmerzen, zum einen spontan auftretend mit stechenden oder brennenden Empfindungen oder auch Kältegefühl in den Füssen und zum anderen als Allodynie, das heisst als schmerzhafte Wahrnehmung von nicht schmerzhaften Reizen. Als Risikofaktoren gelten hier ein schlecht eingestellter Diabetes, eine Nierenfunktionsstörung, aber auch wiederum das metabolische Syndrom. Die Therapie umfasst insbesondere bei DMT1 eine optimale Blutzuckereinstellung und bei DMT2 auch ein Augenmerk auf Lebensstil (körperliche Aktivität) beziehungsweise die Behandlung der vaskulären und metabolischen Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, Übergewicht oder Hyperlipidämie. Zur medikamentösen Behandlung von neuropathischen Schmerzen, nicht nur bei der diabetischen Polyneuropathie, stehen mit Antiepileptika, Serotonin-Noradrenalin-ReuptakeInhibitoren (SNRI) und trizyklischen Antidepressiva 3 Substanzklassen zur Verfügung. Hier sei es allerdings wichtig, so der Neurologe, den Patienten darüber zu informieren, dass es einige Wochen dauere, bis die Medikamente wirkten, man wegen der dann geringeren Nebenwirkungen mit niedrigen Dosen beginne und diese langsam steigere und dass realistischerweise keine Schmerzfreiheit, sondern eine Abnahme der Schmerzen um etwa 30 bis 50 Prozent zu erwarten sei.
Chronische idiopathische axonale Polyneuropathie
Die CIAP beginnt meist in der 6. Lebensdekade; Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Es kommt zu überwiegend sensiblen Störungen wie Taubheit, Kribbeln oder Schmerzen, die meist an den Füssen, seltener an den Händen einsetzen und langsam aufsteigen. Die Beschwerden nähmen im Verlauf über Jahre sehr langsam und meist ohne relevante Einschränkungen der Mobilität zu, so der Experte, dennoch sei die Lebensqualität erheblich eingeschränkt. Klinischneurologisch zeigt sich ein typisches distales sensibles längenabhängiges Polyneuropathiesyndrom mit gestörter Tiefensensibilität, Taubheit, verminderter Schmerzwahrnehmung, sockenförmiger Verteilung sowie herabgesetzten oder nicht auslösbaren Muskeleigenreflexen. Die Pathophysiologie ist sehr heterogen, wobei Hochdruck, Cholesterinwerte und Übergewicht auch hier möglicherweise eine Rolle spielen. Die Prognose ist per se günstig.
Alkoholische Polyneuropathie
Etwa 22 bis 66 Prozent der chronisch alkoholabhängigen Personen, darunter häufiger Frauen als Männer, entwickeln
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Empfohlene Medikamentendosierungen zur Behandlung neuropathischer Schmerzen
▲ Pregabalin: beginnend mit 25 mg wöchentlich, um 25 mg steigern bis 75-0-75 mg (max. 300-0-300 mg), Gabapentin: 900–3600 mg täglich, verteilt auf 3 Einzelgaben
▲ Duloxetin: 30 mg, nach 1 Woche 60 mg 1-mal täglich ▲ Venlaflaxin: 37,5 mg, langsam (wöchentlich) erhöhen bis 75–150 mg
täglich ▲ Amitriptylin: 25 mg, langsam (wöchentlich) erhöhen bis 75 mg am
Abend ▲ ggf. Opiate
eine Polyneuropathie, wobei die Dauer des Alkoholkonsums und die kumulative Menge hier entscheidende Faktoren darstellen. Als Ursachen seien über lange Zeit zum einen der bei Alkoholikern auftretende Vitamin-B-Mangel und zum anderen die toxische Wirkung des Alkohols selbst vermutet worden; heute nehme man eher an, dass beide Faktoren zusammenwirkten, so Lanz. Klinisch imponieren vor allem sensible, seltener motorische, autonome oder Gangstörungen. Die Beschwerden sind langsam aufsteigend und häufig zu Beginn einhergehend mit brennenden, auch sehr starken Schmerzen. Im weiteren Verlauf über Jahre kommen distale Paresen hinzu, und die Mobilität ist eingeschränkt. Grund für das Auftreten der neuropathischen Schmerzen ist hier, dass dünne Nervenfasern stärker betroffen sind als «large fibers». Die Therapie besteht neben Alkoholabstinenz in einer Umstellung der Ernährung (Vitamin B zuführen!) und einer symptomatischen Behandlung der neuropathischen Schmerzen.
Ernährungsbedingte Polyneuropathien
Ernährungsbedingte Polyneuropathien sind häufig sensible und längenabhängige Formen, im Falle eines Mangels an Vitamin B12 (Cobalamin) handelt es sich oft auch um nicht längenabhängige Störungen, wie sie auch bei einer Intoxikation mit Vitamin B6 (Pyridoxin) auftreten. Bei Vitamin-B12und Kupfermangel entwickelt sich eine Myelopathie, bei Vitamin-E-Mangel ein spinozerebelläres Syndrom.
Vitamin B12 sei sehr wichtig für die Myelinisierung von peri-
pheren und zentralen Nerven, erklärte der Referent, und zu
einem Mangel komme es bei fehlender Zufuhr (z. B. vegane/
vegetarische Ernährung) oder Aufnahme (z. B. nach bariatri-
scher Chirurgie, bei atrophischer Gastritis, bei Pathologien
im terminalen Ileum wie Morbus Crohn oder Zöliakie oder
bei Pankreaserkrankungen). Auch Medikamente, die die
Aufnahme von Vitamin B12 hemmen, wie etwa H2-Rezeptor-
Antagonisten, Protonenpumpeninhibitoren oder Metformin,
kommen als Ursache infrage. Die Klinik ist sehr heterogen
und umfasst neben den vor allem sensiblen Polyneuropathien
(distal symmetrisch, Beginn an den Händen) auch spinale
(Myelopathien im Magnetresonanztomogramm der Hals-
wirbelsäule erkennbar) und psychiatrische Syndrome (De-
pressionen, Psychosen, Fatigue u. a.) sowie autonome Dys-
funktion.
Zur Diagnostik eines Vitamin-B12-Mangels existiere kein
Goldstandard, so Lanz, und welcher Parameter dabei be-
stimmt werden solle, sei Gegenstand von Kontroversen, denn
auch bei normalem Serumspiegel könne ein Mangel vorlie-
gen, und zwar bezüglich der aktiven Form (Holotranscoba-
lamin) oder der Metaboliten (Methylmalonsäure, Homo-
cystein). «Ich mache mittlerweile die gesamte Palette, falls
der entsprechende Verdacht besteht», sagte der Neurologe.
Auch die Therapie werde durchaus kontrovers betrachtet,
und es gebe keine anerkannte Leitlinie zum Vorgehen. Als
Richtschnur zitierte Lanz die Empfehlungen der British So-
ciety for Haematology, denen zufolge bei neurologischen
Symptomen Hydroxycobalamin 1 mg i.m. jeden 2. Tag (bis
Symptomrückbildung) sowie pragmatisch 1 mg i.m. jeden
2. Tag für 3 Wochen gegeben werden sollte. Die Erhaltungs-
therapie bei neurologischen Defiziten erfolgt lebenslang mit
Hydroxycobalamin 1 mg i.m. alle 2 Monate. Abschliessend
wies der Experte in diesem Zusammenhang noch darauf hin,
dass neurologische Symptome nicht immer auch mit Blut-
bildveränderungen (megaloblastäre Anämie) einhergehen
müssen.
s
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Polyneuropathie – Symptome, Verlauf und therapeutische Herangehensweise» von Dr. med. univ. Christian Lanz, Schulthess Klinik Zürich, am FOMF-Update-Refresher Allgemeine Innere Medizin, 16. November 2023 in Zürich.
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