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BERICHT
Formen und Komplikationen der Otitis media
Gründliche Anamnese meist wegweisend
Entzündungen des Mittelohrs sind nicht selten, aber auch nicht immer ganz unproblematisch – vor allem dann nicht, wenn die Inflammation auf benachbarte Strukturen wie das Innenohr oder das Mastoid übergreift oder sich intrakraniell ausbreitet. Neben diesen Komplikationen beleuchtete Prof. Dr. med. Sandro Stöckli, Kantonsspital St. Gallen, beim WebUp Oto-Rhino-Laryngologie des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF) die verschiedenen Formen der Erkrankung, die Wege zur richtigen Diagnose und die Therapieoptionen.
Die Mittelohrentzündung (Otitis media) sei, vor allem im Kindesalter, eine der häufigsten Infektionen überhaupt und eine derjenigen, die am meisten Kosten verursachten, so Stöckli einleitend. Dabei gebe es Komplikationen, die man (er-)kennen und entsprechend behandeln oder auf die man zumindest entsprechend reagieren sollte, denn trotz ihrer Häufigkeit seien die Erkrankungen nicht immer einfach zu diagnostizieren – insbesondere bei Kindern, die sich nicht unbedingt gerne am Ohr untersuchen liessen. Nach Ansicht des Experten können die Guidelines der American Academy of Pediatrics (AAP) aus dem Jahr 2013 (1) immer noch als Referenz für das Management der akuten Otitis media gelten; die meisten anderen Leitlinien, unter anderem die der Pediatric Infectious Disease Group of Switzerland (PIGS), des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) und die französische Guideline, nehmen darauf Bezug.
KURZ & BÜNDIG
� Mittelohrentzündungen zählen, vor allem bei Kindern, zu den häufigsten Infektionen; es werden 3 Formen unterschieden: Otitis media acuta, sekretorische Otitis media und Otitis media chronica.
� Die Diagnose wird mittels Anamnese, Untersuchung von Ohrmuschel, Gehörgang und Trommelfell (Palpation, Otoskopie) sowie Gehörprüfung gestellt.
� Die akute Otitis media wird analgetisch und ggf. antibiotisch behandelt. Bei sekretorischer Mittelohrentzündung kann evtl. eine Parazentese bzw. das Einsetzen eines Paukenröhrchens zur Mittelohrbelüftung, bei der chronischen Form auch eine Operation (Tympanoplastik) indiziert sein.
� Eine akute Mittelohrentzündung kann sich in seltenen Fällen ins Mastoid, nach intrakraniell oder ins Innenohr ausbreiten, was dann, im letzteren Fall auch aufgrund einer drohenden Ertaubung, spezielle (Notfall-)Behandlungen erforderlich macht.
Anamnese führt meist zur Diagnose
Die Anamnese des Ohrs folgt dem 5-S-Prinzip, bei dem sämtliche der folgenden Symptome hinsichtlich ihres Auftretens abgefragt werden sollten: s Schwerhörigkeit s Schmerz (Otalgie) s Sekretion (Otorrhoe) s Sausen (Tinnitus) s Schwindel (Gleichgewichtsstörung). Aus den dabei gewonnenen Informationen lasse sich in der Regel bereits fast die Diagnose ableiten, so Stöckli. Die Inspektion beziehungsweise Palpation des Ohrs erfolgt dann stets von aussen nach innen und umfasst Ohrmuschel und Gehörgang mit besonderem Augenmerk auf den Zustand der Haut (Rötung?). Ein Tragusdruck- und Ohrmuschelzugschmerz weist auf eine Entzündung des äusseren Gehörgangs (Otitis externa) hin. Ein Klopfschmerz am Mastoid, dem hinter dem Ohr gelegenen Knochen, ist Kennzeichen einer Mastoiditis, welche als eine der Komplikationen der akuten Mittelohrentzündung relevant ist. Besteht die Dolenz dagegen im Bereich vor dem Tragus, auf Höhe des Kiefergelenks, ist dies ein Hinweis auf eine nicht otogene Ursache für den Ohrschmerz. Weiter innen gelegene Abschnitte des Gehörgangs und das Trommelfell werden mittels Otoskopie beurteilt. Wenn man dies nicht regelmässig mache, gestalte sich diese Untersuchung bisweilen schwierig, merkte der Referent an, vor allem bei Kindern. Weil bei ihnen deshalb immer von einer unsicheren Diagnose einer Otitis media acuta ausgegangen werden müsse, seien die Behandlungsschemata in den Guidelines denn auch zurückhaltender als bei Erwachsenen. Erschwert wird die Otoskopie mitunter durch Cerumen im Gehörgang, das man manuell oder auch durch Spülen entfernen kann – Letzteres allerdings nicht bei bestehenden Pathologien wie einer Mittelohrentzündung oder gar bei perforiertem Trommelfell. Für entsprechende Manipulationen könne am Otoskop die Lupe zur Seite geklappt werden, allerdings sei die Cerumenentfernung ohne mikroskopische Sicht eher dem Spezialisten zu überlassen, warnte Stöckli. Für die Otoskopie muss die Ohrmuschel nach hinten oben gezogen werden, um
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den äusseren knorpeligen Gehörgang in die gleiche optische Achse zu bringen wie den inneren knöchernen. Der Trichter ist dabei so gross zu wählen, wie es von der Anatomie her und ohne dem Patienten Schmerzen zuzuführen, möglich ist. Eine sehr viel bessere Optik als mit dem Otoskop lässt sich laut Stöckli mittels eines Endoskops erzielen. «Für den Arzt, der viele Ohren untersucht, lohnt sich eventuell eine solche Investition», ergänzte der Experte. Das Trommelfell stellt sich in der Otoskopie hinsichtlich Farbe und Transparenz unterschiedlich dar und zeigt sich im Normalbefund zart durchscheinend und leicht spiegelnd, differenziert (zu sehen sind Umbo [Ansatz des Hammers am Trommelfell], Hammergriff und Hammerfortsatz sowie der typische Lichtreflex im vorderen unteren Quadranten), intakt, das heisst ohne Perforation, und beweglich. Letzteres und somit die Mittelohrbelüftung lassen sich entweder aktiv mittels Valsalva- (forciertes Ausatmen bei zugehaltener Nase und geschlossenem Mund) beziehungsweise Toynbee-Manöver (Schlucken bei zugehaltener Nase) oder aber passiv per pneumatischer Otoskopie und Siegel-Spekulum überprüfen. Bei der Beurteilung des Gehörs ist es wichtig zu eruieren, ob eine vom Patienten allenfalls angegebene Schwerhörigkeit zur Diagnose einer Otitis media acuta passt. «In der Notfallsituation beziehungsweise in der Praxis steht dazu in der Regel zwar keine Audiometrie zur Verfügung, diese ist aber auch nicht erforderlich», erklärte Stöckli. Stattdessen kann man zum einen den Stimmgabeltest (500 Hz) nach Weber durchführen, welcher nach Aufsetzen der Stimmgabel medial auf den Kopf die Knochenschallleitung links und rechts vergleicht. Der normale Befund ist hier ein zentral lokalisierter Höreindruck; pathologisch wäre dessen Lateralisation ins gesunde (bei Schallempfindungsschwerhörigkeit) oder aber ins kranke Ohr (bei Schallleitungsschwerhörigkeit, wie z. B. bei Otitis media zu erwarten). Zum anderen kann der Test nach Rinne durchgeführt werden, mit dem Luft- (Stimmgabel vor dem Ohr) und Knochenschallleitung (Stimmgabel hinter dem Ohr aufgesetzt) am selben Ohr verglichen werden. Normalerweise sollte der Höreindruck bei vor dem Ohr positionierter Stimmgabel, also bei über die Luft geleitetem Schall, lauter sein, als wenn die Stimmgabel hinter dem Ohr angelegt wird (positiver Rinne-Test). Ist dies nicht der Fall (negativer bzw. pathologischer Test), weist dies wiederum auf eine Schalleitungsschwerhörigkeit hin. «Bei Otitis media wird also beim Weber-Test der Höreindruck ins kranke Ohr lateralisiert, an dem dann auch der Rinne-Test negativ ist.» Der HNO-Facharzt kann darüber hinaus die Knochen- und die Luftschallleitung auf mehreren Frequenzen mittels Tonaudiogrammen audiometrisch bestimmen.
3 verschiedene Formen
Bei der Mittelohrentzündung werden im Allgemeinen 3 verschiedene Formen differenziert: s Otitis media acuta (sehr häufig bei Kindern): rhinogen
aufsteigender Infekt (respiratorische Viren: Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae, Branhamella catarrhalis); Symptome: Ohrschmerz, Schwerhörigkeit, Otorrhoe bei Trommelfellperforation, Fieber, reduzierter Allgemeinzustand s sekretorische Otitis media: Tubenmittelohrkatarrh, Flüssigkeit (akut: klar, länger bestehend: mukös) im Mittel-
ohr; Symptome: Schwerhörigkeit, keine Schmerzen; Ursache: Tubenbelüftungsstörung, bei Kindern häufig Adenoidhyperplasie; Therapie: expektativ 3 Monate, keine Antibiotika, keine Steroide (weder systemisch noch topisch), evtl. Parazentese/Paukenröhrchen s chronische Otitis media (2 unterschiedliche Ausprägungen): – Otitis media chronica simplex: chronische zentrale
Trommelfellperforation (> 3 Monate: nicht mehr heilend); Symptome bei Infektion oder Wasserexposition: Otorrhö, Schmerzen (seltener, da durch die Perforation kein Druck aufgebaut wird); Therapie: operativ (Tympanoplastik, ab Schulalter) – Otitis media chronica mit Cholesteatom: verhornendes Plattenepithel im Mittelohr, randständige Trommelfellperforation; Symptome: fötide Otorrhoe, Schwerhörigkeit; absolute Operationsindikation.
Therapie der akuten Mittelohrentzündung
Für Kinder im Alter unter 2 Jahren, bei beidseitiger oder bei perforierter Otitis media acuta empfehlen die Guidelines eine Schmerzbehandlung mit Antibiotika (Amoxicillin 50 mg/kg Körpergewicht [KG]/Tag). Alle anderen Patienten sollten ebenfalls eine Analgesie, aber in den ersten 48 Stunden keine Antibiotika erhalten. Eine Antibiotikatherapie kann bei Immunsuppression, kontralateraler Taubheit oder Cochleaimplantat auch initial in Erwägung gezogen werden. Als Schmerzmittel kommen Klasse-I-Analgetika (Paracetamol [4-mal/Tag 15 mg/kg KG] oder Ibuprofen [3-mal/Tag 10 mg/ kg KG], gleich gut wirksam) für mindestens 48 Stunden infrage. Falls sich die Symptome nach 48 Stunden gebessert haben, wird bei erstgenannten Patienten die Antibiotikatherapie fortgesetzt (≥ 2 J.: 5 Tage, < 2 J.: 10 Tage), anderenfalls sollte eine alternative Diagnose oder eine Komplikation in Erwägung gezogen werden. Lässt sich Letzteres ausschliessen, kann auf Co-Amoxicillin (80 mg/kg KG/Tag) gewechselt werden. Bei allen anderen Patienten sollte im Falle einer Besserung nach 48 Stunden die symptomatische Therapie wie gehabt fortgesetzt werden; bei unverändert bestehenden Symptomen sollten auch sie zunächst mit Amoxicillin (50 mg/kg KG/Tag) oder nach weiteren 48 Stunden nach Ausschluss alternativer Diagnosen oder Komplikationen mit Co-Amoxicillin (80 mg/kg KG/Tag) behandelt werden. Bei Penicillinallergie können alternativ auch Cefuroxim oder Clarithromycin gegeben werden.
Komplikationen
Eine akute Mittelohrentzündung kann sich in seltenen Fällen ins Mastoid, nach intrakraniell oder ins Innenohr ausbreiten. Die häufigste dieser Komplikationen ist die Mastoiditis, bei der es zu einer Schwellung hinter dem Ohr mit abstehender Ohrmuschel und zu Klopfdolenz des Mastoids kommt. Für die Diagnose ist eine Bildgebung erforderlich. «Bei einem verschatteten Mastoid in der Computertomographie ohne entsprechende Klinik handelt es sich jedoch nicht um eine Mastoiditis», stellte Stöckli klar. Die Therapie besteht hier aus i.v. Antibiose, Analgesie und eventuell dem Einsatz eines Paukenröhrchens oder allenfalls (bei Abszessbildung) aus einer Mastoidektomie. Weitere Komplikationen involvieren die Gesichts- oder Hirnnerven – so etwa bei der Fazialisparese und beim Gradenigo-
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Syndrom. Zur Fazialisparese im Zuge einer Otitis media kann es unter anderem kommen, wenn der Gesichtsnerv (N. fazialis) im Mittelohr nicht wie üblich knöchern bedeckt ist. Die Fazialisparese ist in der Regel reversibel und eine Indikation für ein Paukenröhrchen, eine Parazentese oder eventuell für eine Mastoidektomie zur Druckentlastung des Mittelohrs. Beim extrem seltenen Gradenigo-Syndrom zieht die Entzündung entlang des Felsenbeins in die Pyramidenspitze und greift auf die dort lokalisierten Hirnnerven über, wodurch es zu Abduzensparese und Schmerzen im Trigeminusbereich kommt. Bei der Labyrinthitis besteht eine Innenohrbeteiligung mit Schwindel, Nausea, Erbrechen und Nystagmus als typischen Symptomen. Es droht eine Innenohrschwerhörigkeit bis hin zur Ertaubung. Anders als bei der unkomplizierten Otitis media ist hier nicht die Schallleitung, sondern die Schallempfindung beeinträchtigt. Hinweise liefere hier die Gehörprüfung, erklärte Stöckli: «Der Weber-Test ‹wechselt die Seite›, und es handelt sich um einen Notfall.»
Intrakranielle Komplikationen sind des Weiteren die Menin-
gitis (Symptome: Kopfschmerzen, Meningismus), intrakra-
nielle Abszesse und die Thrombose des Sinus sigmoideus;
Letztere ist dann immer auch eine Indikation für eine Anti-
koagulation.
s
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Die Mittelohrentzündung – nicht immer banal!» von Prof. Dr. med. Sandro Stöckli, Chefarzt Hals-Nasen-Ohrenklinik, Kantonsspital St. Gallen, im Rahmen des Update Oto-Rhino-Laryngologie (ORL) des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF), 23. November 2023, online.
Referenz: 1. Lieberthal AS et al.: The Diagnosis and Management of Acute Otitis
Media. Pediatrics. 2013);131(3):e964–e999.
Weiterführende Literatur: Plebani M et al.: Akute Mittelohrentzündung – moderne Betreuung. Paediatrica Vol. 34, 1/23.
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