Transkript
FORTBILDUNG
Lässt sich Zucker mit Zucker bekämpfen?
Rosinen, Datteln und Granatapfelsaft bei Diabetes
Das Leben mit Diabetes bedeutet auch, sich kulinarisch einschränken zu müssen. Das gilt besonders bei Süssem. Wie praktisch wäre es da, zu Lebensmitteln zu g reifen, die süss schmecken, jedoch weder den Blutzucker noch den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Gibt es natürliche Produkte, die diese Quadratur des Kreises hinbekommen? Wenn ja, was können Betroffene davon erwarten, und wie gut ist die wissenschaftliche Evidenz? Blanka Magyarosi versuchte in ihrer B achelorthesis, diese Frage zu klären.
Blanka Magyarosi, David Fäh
In der Schweiz leidet rund eine halbe Million Menschen an Diabetes mellitus Typ 2 (DMT2), Tendenz steigend (1). Ernährung und die daraus resultierende Gewichtszunahme spielen bei der Entstehung eine zentrale Rolle (2). Die Therapie von DMT2 erfolgt hauptsächlich über Lebensstilveränderungen und Medikamente. In den letzten Jahren hat jedoch das Interesse seitens der Betroffenen und der Wissenschaft an spezifischen Lebensmitteln im Kontext der Diabetesbehandlung zugenommen. Allerdings gibt es weder in der Leitlinie der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (3) noch in der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (4) Empfehlungen für den gezielten Einsatz solcher L ebensmittel. Im Rahmen einer Bachelorthesis an der Berner Fachhochschule wurde in einer systematischen Literaturrecherche dieser Thematik nachgegangen.
Warum Süsses selbst bei Diabetes helfen könnte
Die Ernährungsumstellung bei DMT2 beinhaltet die Restriktion von schnell verfügbaren Kohlenhydraten, wie sie in Getränken und Süssigkeiten vorkommen, zugunsten komplexer, faserreicher Kohlenhydrate (3, 4). Einschränkungen bergen jedoch Herausforderungen, wie eine verstärkte Neigung von DMT2-Betroffenen hin zu süss schmeckenden Lebensmitteln (5). Zudem verringert das Einhalten einer Diät die Lebenszufriedenheit der Betroffenen (6). Angesichts dieser Herausforderungen könnte der Einsatz spezifischer Lebensmittel, die süss schmecken, aber gleichzeitig auch Stoffe enthalten, die helfen, den Blutzucker positiv zu beeinflussen, das DMT2- Management unterstützen. Bisher konnten jedoch keine eindeutigen Aussagen über den systemischen Wirkmechanismus von Lebensmitteln wie Granatapfelsaft getroffen werden. In-vitro- oder Tierversuche postulieren bioaktive Polyphenole und Nahrungsfasern für die blutzuckersenkende Wirkung von Lebensmitteln. Diese Substanzen scheinen die Glukosetransporter in den M uskeln zu beeinflussen, kohlenhydratspaltende E nzyme zu hemmen
sowie die Funktion und die Anzahl der B-Zellen, die Insulin produzieren, zu verbessern (7–12).
«Speziallebensmittel» für DMT2: Suche nach Evidenz
Bei einer Onlinerecherche nach blutzuckersenkenden Lebensmitteln wird ein umfassendes Trefferbild gezeigt. In vielen Fällen fehlt allerdings die wissenschaftliche Evidenz, da entweder nur wenige Studien oder solche mit schwachem Studiendesign durchgeführt wurden. Angesichts der Empfehlung, bei DMT2 auf schnell verfügbare Zucker zu verzichten, wurden im Rahmen der Bachelorthesis Lebensmittel mit hohem Zuckergehalt ausgewählt, für die aussagekräftige Studien verfügbar waren. In diesem Zusammenhang fiel die Entscheidung auf Granatapfelsaft, Datteln und Rosinen. Um die Wirkung dieser Lebensmittel zu untersuchen, wurde für jedes der genannten Lebensmittel eine systematische Literaturr echerche in PubMed, in der Cochrane Library und in Google Scholar durchgeführt. Eingeschlossen wurden dabei alle randomisierten, kontrollierten Studien und Metaa nalysen, die mit erwachsenen DMT2-Patientinnen und -Patienten durchgeführt wurden. Die untersuchten Endpunkte umfassten HbA1c, Nüchternblutzucker, den HOMA(Homeostasis Model Assessment)-Index als Indikator für Insulinresistenz sowie die postprandialen Blutzuckerwerte. Basierend auf der CASP(Critical Appraisal Skills Programme)Checkliste wurde ein Punktesystem entwickelt, um die Qualität der Studien zu veranschaulichen. Dieses Bewertungsinstrument ermöglichte die Beurteilung folgender 3 Qualitätskriterien (13): 1. die Validität, die untersuchte, ob das Studiendesign dazu
geeignet war, das geplante Messziel zu erfassen, 2. die Reliabilität, die zeigt, wie verlässlich ein Verfahren ist,
indem sie darauf hinweist, dass unter denselben Bedingungen reproduzierbare wissenschaftliche Ergebnisse erzielt werden können, und 3. die Repräsentativität, die beurteilt, ob die Ergebnisse der Studien auf die Schweizer Allgemeinbevölkerung übertragbar sind.
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ARS MEDICI 18 | 2024
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Charakteristiken und Qualität der untersuchten Studien
Lebensmittel
Rosinen
Studien
Kanellos
et al. (2014)
Anzahl Teilnehmende (n=) 48
Anteil Männer (%)
52
Dauer Diabetes (Jahre) –
HbA1c-Baseline (%)
6,7
Nüchternblutzucker
(mmol/l)
–
Validität
●
Reliabilität
●
Repräsentativität
●
Gesamtpunktzahl
32
Gesamtqualität
●
Butler et al. (2022) 61 55 – 7,6
12,3 ● ● ● 30 ●
Datteln Bays et al. (2015) 46 41 – 7,4
Alalwan et al. (2020) 100 39 – 6,6
8,5 – ● ● ● ● ● ● 27 31 ● ●
Mirghani (2021) 195 33–47* 2,4–6,4* 6–6,6*
9,3* ● ● ● 26 ●
Granatapfelsaft
Sohrab
Sohrab
et al. (2015) et al. (2017)
44 60
52 50
2,5–10
9,5
7,9 –
Shishehbor et al. (2016) 31 48 4–10 –
Banihani et al. (2014) 85 47 – –
Parsaeyan et al. (2012) 50 50 – –
8,5 9,7 7,9 6,1 10,8 ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● 31 30 23 20 20 ● ● ● ● ●
*Die Metaanalyse informiert nicht über die Studienpopulation der einbezogenen Studien. Aufgrund unvollständiger Daten in einigen Studien wurde eine Bandbreite erstellt, die die unterste und oberste Angabe berücksichtigt.
● gut bis sehr gut; ● genügend bis befriedigend; ● sehr schwach bis ungenügend
Tabelle 2:
Quantitative Auswertung der untersuchten Studien
Lebensmittel Rosinen
Datteln
Granatapfelsaft
Studien
Kanellos Butler
Bays
Alalwan Butler
Mirghani Sohrab
Sohrab
HbA1c Nüchternblutzucker HOMA-Index Postprandiale
et al. (2014) et al. (2022) et al. (2015) et al. (2020) et al. (2022) (2021)
0 ↑↓ 0
↓0
↓ ↓↓ ↓ – ↓– –
↑ ↓* ↓–
et al. (2015) et al. (2017) ↓–
↑ ↓ ––
Blutzuckerwerte – – ↓* –
– ↓* –
–
– = nicht gemessen; 0 = keine Veränderung; ↑ = erhöht; ↓ = gesenkt; * = statistisch signifikant (p < 0,05) Shishehbor et al. (2016) – ↓ – – Banihani Parsaeyan et al. (2014) et al. (2012) –– ↓* ↓* ↓* – –– Wie stand es um die Qualität der eingeschlossenen Studien? Die qualitative Auswertung der eingeschlossenen Studien ergab, dass die Hälfte davon gut bis sehr gut war, während der Rest ungenügend bis befriedigend ausfiel (siehe Tabelle 1). Insbesondere Studien, die ein statistisch signifikantes Ergebnis zeigten, wiesen eine ungenügende bis mässige Qualität auf. Positivpunkte waren: 1. präzis formulierte Forschungsfrage 2. Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf die betreffende Allgemeinbevölkerung. Negativpunkte umfassten: 1. Fehlen einer Kontrollgruppe 2. fehlende Verblindung 3. Fehlen von Konfidenzintervallen, was zu einer ungenügen- den Einschätzung der Streubreite der Studienergebnisse führte. Was können «Speziallebensmittel» bewirken? Von den eingeschlossenen Lebensmitteln zeigte der Konsum von Granatapfelsaft am häufigsten eine statistisch signifikante 14 SchweizebtrelZrunetibztuslucchtkzreiufrtcskefünerrkEewrnnudärehdruWeniignrskm2uenvdgoizn(ins5ie3|hS2et0u2Td4aiebnelulend2)d. eDr eHr ONMücAh-- Index in 1 von 5 Studien signifikant gesenkt. Bei den Rosinen wurde in allen Studien eine Tendenz zur Senkung des Nüchternblutzuckers beobachtet, wobei einzig in 1 Studie die postprandialen Blutzuckerwerte signifikant gesenkt wurden. Ebenfalls bei den Datteln wurde in 1 von 3 Studien eine signifikante Senkung des Nüchternblutzuckers festgestellt. Auffallend ist, dass keines der 3 Lebensmittel trotz des jeweils hohen Glukosegehalts zu einer signifikanten Erhöhung der Blutzuckerwerte führte. Was bedeuten diese Ergebnisse für Ernährungsfachpersonen? Zusammenfassend reichen die analysierten Studien nicht aus, um eine spezifische Empfehlung zur Blutzuckersenkung mit den ausgesuchten Lebensmitteln zu geben. Die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass die Blutzuckerwerte trotz des hohen Zuckergehalts der 3 Lebensmittel sich zumindest nicht erhöhen. Vor diesem Hintergrund könnten diese – im Mass konsumiert – bei DMT2 toleriert werden und bei Lust auf Süsses als Ersatz für stark verarbeitete zuckerhaltige Lebensmittel wie Süssgetränke dienen. Dabei sollten die in den Studien angegebene Mengen (2,5 dl Granatapfelsaft/Tag, 3–6 Datteln/Tag, 80 g Rosinen/Tag) beachtet werden. ARS MEDICI 18 | 2024 425 FORTBILDUNG Rosinen, Datteln und Granatapfelsaft haben im Rahmen des DMT2-Managements durchaus ihre Berechtigung, insbeson- dere im Rahmen einer Hauptmahlzeit, wenn der Insulinspie- gel ohnehin erhöht ist, oder unter Berücksichtigung individu- eller Vorlieben in einem Müesli oder als Süssungsmittel in einem Dessert. Darüber hinaus könnte Granatapfelsaft eine sinnvolle Alternative für Personen mit einer Vorliebe für zu- ckerhaltige Getränke sein. Eine Lockerung in Bezug auf diese 3 süss schmeckenden Le- bensmittel könnte sich positiv auf die L ebenszufriedenheit der Betroffenen auswirken. Um den Zusammenhang mit der Le- benszufriedenheit besser zu verstehen, ist weitere Forschung erforderlich. Trotz der v orliegenden Ergebnisse ist anzumer- ken, dass weitere Studien zur Klärung der Langzeiteffekte und der optimalen Aufnahme dieser Lebensmittel bei Diabe- tes durchgeführt werden müssen. s Autorin: Blanka Magyarosi Berner Fachhochschule (BFH) Des. Ernährungsberaterin BSc BFH (SVDE) Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. David Fäh FMH Prävention und Gesundheitswesen Master of Public Health Berner Fachhochschule (BFH) Departement Gesundheit/Ernährung und Diätetik Finkenhubelweg 11, 3008 Bern E-Mail: david.faeh@bfh.ch Interessenkonflikte: keine Referenzen: 1. Bundesamt für Gesundheit (BAG): Diabetes. Published November 13, 2020. 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