Transkript
BERICHT
Schwerhörigkeit
Mit Hörgeräten einer Demenz vorbeugen
Hörbeeinträchtigungen können unbehandelt unter anderem zu Depression und zu Kognitionseinbussen führen. Mit der Dauer der unbehandelten Phase verstärkt sich das Defizit des Sprachverstehens, umso länger dauert das «Wiederaufbautraining» mit einem Hörgerät. Wie Hörgeräte funktionieren, welche Kriterien bei der Auswahl wichtig sind und was Patienten dazu wissen müssen, erläuterte KD Dr. Dorothe Veraguth, Leitende Ärztin Klinik für HNO und Gesichtschirurgie, Universitätsspital Zürich.
Hörbeeinträchtigungen sind häufig, mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit dafür. Während Schulkinder zu etwa 1 bis 2 Prozent betroffen sind, liegt die Prävalenz bei 15bis 65-Jährigen bei etwa 8 Prozent, und bei > 65-Jährigen beträgt sie > 30 Prozent. Unter den Patienten mit Hörbeeinträchtigung ist etwa die Hälfte leichtgradig und zirka ein Drittel mittelgradig schwerhörig, etwa 7 Prozent sind hochgradig hörbeeinträchtigt. 1 bis 2 Prozent der Betroffenen sind fast taub. Unbehandelte Hörverluste korrelieren mit einem grösseren Risiko für Demenz, Depression und Stürze (1). Mit zunehmendem Hörverlust um jeweils 20 dB scheint zudem das Risiko für eine Depression um den Faktor 1,4 anzusteigen, wie eine Beobachtungsstudie (n = 5328) mit median 58 Jahre alten Patienten zeigte. Von diesen litten 33 Prozent unter einer Depression. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, stieg bei einem leichten Hörverlust von 32,5 dB im Vergleich zu keinem Hörverlust um den Faktor 1,8, mit einem mittelschweren Hörverlust von 47,5 dB um den Faktor 2,4 und bei jenen mit einer schweren Höreinbusse von 80 dB um den Faktor 4,3 (2). Auch die Inzidenz einer Demenz ist mit zunehmendem Hörverlust stärker ansteigend als ohne (3). Die Altersschwerhörigkeit ist assoziiert mit Veränderungen der Kognition und Veränderungen der Hirnstrukturen (3),
KURZ & BÜNDIG
� Unbehandelte Hörverluste führen zur Einbusse des Sprachverstehens und leisten der Entstehung von Depression und Demenz Vorschub.
� Ab einem Hörverlust von 30 dB bzw. 2 Frequenzen sollte ein Hörgerät evaluiert werden.
� Je grösser der Hörverlust, desto höher der Energieverbrauch, und desto grösser müssen die Batterie und das Gerät sein.
� Die heutigen Hörgeräte sind kleiner und technisch ausgefeilter.
� Durch regelmässiges Tragen kann das Sprachverstehen wieder auftrainiert werden; je nach Defizit kann dies mehrere Monate dauern.
insbesondere mit der Abnahme des Volumens des Temporallappens (4). Zur Kognitionsabnahme kommt es infolge einer verminderten Stimulation, der jedoch durch die Verwendung von Hörgeräten vorgebeugt werden kann, wie eine Langzeitstudie über 8 Jahre bei über 2000 ≥ 50-jährigen Personen signifikant zeigen konnte (5).
Schwierigkeiten im Lärm
Eine Schwerhörigkeit äussert sich durch Schwierigkeiten, im Lärm oder auf Distanz zu verstehen, oder durch Nichtwahrnehmen hoher Töne wie beispielsweise von Grillen oder Vögeln. Zusätzliche Ohrgeräusche, häufigeres Nachfragen und Missverständnisse können weitere Probleme sein. Als Resultat können diese Schwierigkeiten zu sozialem Rückzug und zur Vereinsamung führen. Pathophysiologisch liegt einer sensorineuralen Innenohrschwerhörigkeit eine schlechtere Frequenzauflösung zugrunde. Das heisst, verschiedene Tonhöhen können schlechter unterschieden werden. Dabei klingt alles wie verschmiert, weil viele Nervenfasern gleichzeitig stimuliert werden. Daher helfe diesen Patienten eine Erhöhung der Lautstärke nur bedingt, wie die Expertin ausführte. Mithilfe eines Ton- und eines Sprachaudiogramms wird das Defizit diagnostiziert. Bei einem Hochtonhörverlust sind neben Naturgeräuschen auch die Sprache und hier insbesondere die Konsonanten, die zum Verstehen von Sprache unabdingbar sind, betroffen. Andererseits wird im Sprachaudiogramm auch getestet, bei welcher Lautstärke der Patient Sprache versteht und speziell, wie viel er bei einer normalen Sprechlautstärke von 65 dB versteht. Diese Information ist wichtig für die Wahl des Hörgeräts. Ebenso wichtig ist die Frage nach der Dynamik der Schwerhörigkeit..
Kriterien für die Hörgerätewahl
Ab einem Hörverlust von 30 dB beziehungsweise von mindestens 2 Frequenzen am besseren Ohr lohnt es sich, diese Thematik mit dem Patienten zu besprechen. So auch, wenn zum Beispiel Kommunikationsprobleme in Beruf und Familie auftreten und keine hörverbessernde Operation möglich oder gewünscht ist. Ein Hörgerät arbeitet wie eine Lautsprecheranlage. Das Signal wird durch ein Mikrofon aufgenommen, durch den Ver-
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BERICHT
Längst widerlegte Mythen über Hörgeräte
▲ Hörgeräte lohnen sich noch nicht. ▲ Hörgeräte sind nur für Alte und Kranke. ▲ Hörgeräte sind gross und immer gut zu sehen. ▲ Hörgeräte führen zu unangenehmen Pfeiftönen. ▲ Hörgeräte kann man einfach im Internet bestellen. ▲ Hörgeräte sind immer teuer und unbezahlbar. ▲ Hörgeräte verschlechtern durch regelmässiges Tragen
das Hörvermögen. ▲ Hörgeräte führen sofort zu besserem Verstehen. ▲ Hörgeräte verstärken nur den Lärm.
stärker (Signalprozessor) verarbeitet und durch den Hörer beziehungsweise Lautsprecher ausgegeben. Allfällige Qualitätsunterschiede resultieren aus der unterschiedlichen Schallbearbeitung. Die Energieversorgung erfolgt durch Batterie oder Akku. Bei starkem Hörverlust ist der Energieverbrauch hoch, entsprechend grösser muss die Batterie zur Energieversorgung sein. Das Hörgerät ist in diesem Fall grösser, ebenso der Schallschlauch, der den Ton zum Ohr führt. Bei geringem Hörverlust sind die Geräte und der Schallschlauch entsprechend kleiner und unauffälliger. Die technischen Möglichkeiten seien mittlerweile sehr vielfältig, so Veraguth. Die Signalverarbeitung erfolgt digital und mehrkanalig, sodass Sprache von Nebengeräuschen unterschieden werden kann. Die Mikrofone sind omnidirektional, direktional oder adaptiv und können sich in Richtung Schallquelle ausrichten und Sprache erkennen. Damit können sie den störenden Lärm unterdrücken und Windgeräusche ausschalten, ebenso den Nachhall und das Feedback, das frühere Pfeifen. Mit modernen Hörgeräten besteht auch die Möglichkeit einer Frequenzverschiebung beziehungsweise der Transformation eines Tons von einer nicht gut wahrnehmbaren in eine besser hörbare Frequenz oder vom Hörgerät des einen Ohrs via Bluetooth-Verbindung zu jenem des anderen Ohrs. Welche Hörgerätetypen (Grösse, Hinter-dem-Ohr, In-Ohr) zum Einsatz kommen, entscheidet sich beim Akustiker anhand des Audiogramms. Wichtige Faktoren für die Wahl des Hörgeräts sind Art und Ausmass des Hörverlusts, die Form von Gehörgang und Ohrmuschel sowie die Anforderungen des Patienten. Dazu gehören die Geräuschsituation im Alltag (z. B. Telefonieren, Kirche, Konzert, Fernsehen, Gespräche), die psychische und physische Konstitution wie Nebengeräuschtoleranz, Hörkomfort, Klarheit, Kosmetik, Feinmotorik sowie die Lebenssituation (Arbeit, Freizeit, Sport, Familie). Hörverstärker sind dagegen einfach gebaute und kostengünstige Geräte mit 2 Mikrofonen, Feedbackunterdrückung und Geräuschreduktion. Telefonspulen, schon lange Standard,
Linktipp
Pro Audito Schweiz: www.rosenfluh.ch/qr/proaudito
und Anschlüsse für Zubehör fehlen, eine Reprogrammierung ist nicht möglich (analog Einstärken-Lesebrille), was ein Problem bei Hörverschlechterungen darstellt. Diese Geräte würden über das Internet und Apotheken vertrieben, Reparaturen und Serviceleistungen seien beschränkt, so Veraguth.
Wichtig für die Patienten:
Geduld ist der Schlüsselfaktor
Viele Patienten warten lange, bis sie sich zu einem Hörgerät
durchringen. Denn es gibt zahlreiche längst widerlegte My-
then (Kasten), wie beispielsweise, dass das regelmässige Tra-
gen eines Hörgeräts das Hörvermögen verschlechtere. Ein
unbehandelter Hörverlust führt im Gegenteil zu einer Ver-
schlechterung des Sprachverstehens, einer Verminderung der
Verarbeitungsgeschwindigkeit und zur Einschränkung der
automatischen Selektion von wichtigen und unwichtigen Ge-
räuschen. Diese Wahrnehmungseinbussen müssen durch das
regelmässige Tragen der Hörgeräte und durch aktives Hören
wieder antrainiert werden. Je nach der vorherigen Hörent-
wöhnung kann dieser Lernprozess bis zu mehrere Monate
andauern. Die Fortschritte und Verbesserungen erfolgen
langsam, jedoch bei regelmässigem Tragen im normalen All-
tag automatisch. Für einen möglichst raschen Erfolg ist es
wichtig, dass sich der Patient durch den Akustiker über die
Vor- und Nachteile der im Handel verfügbaren Hörgeräte
informiert. Dabei sollen nicht nur kosmetische Gesichts-
punkte zum Tragen kommen. Die Geräte sollen in möglichst
vielen verschiedenen Alltagssituationen getestet werden, Stö-
rendes kann der Akustiker anpassen. Diese Anpassungsphase
erfordert Zeit und Geduld. Spätere Messungen und Nachre-
gulierungen der Geräte sind sinnvoll und empfohlen. Patien-
teninformationen und Tipps für den Hörgerätekauf gibt es
dazu beispielsweise bei Pro Audito Schweiz (siehe Linktipp);
dieser Verband bietet auch eine neutrale Hörberatung.
Die Finanzierung von Hörgeräten erfolgt über die Sozialver-
sicherungen in Form von Pauschalbeiträgen. Bei Personen
< 65 Jahre bezahlt die Invalidenversicherung (IV) ab 20 Pro- zent Hörverlust alle 6 Jahre (840 Fr. je Hörgerät), bei Perso- nen > 65 Jahre die Alters- und Hinterbliebenenversicherung
(AHV) ab einem Hörverlust von 35 Prozent alle 5 Jahre (630
Fr. je Hörgerät). Personen, die weder IV- noch AHV-berech-
tigt sind, wie Flüchtlinge und Zugezogene, erhalten durch die
Krankenkasse einen Zuschuss.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Update Hörgeräte: Wissenswertes für die Hausarztpraxis», FOMF-WebUp, 23.11.2023.
Referenzen: 1. Deal JA et al.: Incident hearing loss and comorbidity: a longitudinal ad-
ministrative claims study. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg. 2019;145(1):36-43. doi:10.1001/jamaoto.2018.2876. 2. Golub JS et al.: Association of audiometric age-related hearing loss with depressive symptoms among hispanic individuals. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg. 2019;145(2):132-139. doi:10.1001/jamaoto.2018.3270. 3. Golub JS: Brain changes associated with age-related hearing loss. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg. 2017;25(5):347-352. doi:10.1097/ MOO.0000000000000387. 4. Armstrong NM et al.: Association of midlife hearing impairment with late-life temporal lobe volume loss. JAMA Otolaryngol Head Neck Surg. 2019;145(9):794-802. doi:10.1001/jamaoto.2019.1610. 5. Maharani A et al.: Longitudinal relationship between hearing aid use and cognitive function in older americans. J Am Geriatr Soc. 2018;66(6):11301136. doi:10.1111/jgs.15363.
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