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BERICHT
Nebenwirkungen bei Impfungen
Worauf muss man in der Praxis achten?
Lokalreaktionen und Abgeschlagenheit nach einer Impfung sind wohlbekannte Symptome der an sich erwünschten Immunreaktion. Problematisch wird es, wenn unerwartete Phänomene auftauchen, die (noch) nicht als Nebenwirkung einer bestimmten Impfung bekannt sind oder kontrovers diskutiert werden. Mit welchen Nebenwirkungen nach Impfungen zu rechnen ist und wie man mit rätselhaften Symptomen in der Praxis umgehen kann, erläuterten Prof. Christoph T. Berger und Prof. Yannik Müller an einem Workshop.
Die Rate schwerer Nebenwirkungen wird im Durchschnitt aller Impfungen auf 58 pro 1 Million Impfdosen beziffert. Nebenwirkungen, die seltener als 1:10 000 auftreten, werden in den Phase-III-Zulassungsstudien mit in der Regel 10 000 bis 50 000 Probanden deshalb kaum entdeckt, sondern sie fallen erst dann auf, wenn Hunderttausende geimpft wurden. Deshalb seien Meldeportale wie ELVIS (Electronic Vigilance System) so wichtig, sagte Prof. Christoph T. Berger. Wenn im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung schwere, unerwartete Reaktionen auftreten, die nicht bereits bekannt sind, sollten diese im elektronischen Meldeportal ELVIS von Swissmedic eingetragen werden. Als kritisches Zeitfenster für die Definition des zeitlichen Zusammenhangs gelten 28 Tage. Berger appellierte an die Workshopteilnehmer, das Meldeportal zu nutzen: «Es ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht, so etwas zu melden.» Die erforderliche Zeit für einen Eintrag betrage allenfalls 5 bis 10 Minuten. Er betonte, dass man mit der Meldung in ELVIS nicht die Verantwortung dafür übernehme, dass es sich tatsächlich um eine Nebenwirkung der Impfung gehandelt habe, sondern dass man lediglich auf unerwünschte Phänomene im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung hinweise.
KURZ & BÜNDIG
� Lokale Reaktionen und Abgeschlagenheit nach einer Impfung sind erwartbare Nebenwirkungen, die nach einigen Tagen von selbst wieder abklingen.
� Wenn schwere, unerwartete Reaktionen, die nicht bereits bekannt sind, in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung auftreten, sollen sie im elektronischen Meldeportal ELVIS von Swissmedic gemeldet werden.
� Als kritisches Zeitfenster für die Definition eines zeitlichen Zusammenhangs gelten bis zu 28 Tage nach der Impfung.
� Mit der Meldung in ELVIS wird die Reaktion nicht automatisch als Impfnebenwirkung deklariert.
Zufall oder Nebenwirkung?
Um einschätzen zu können, ob es sich bei einem seltenen Ereignis im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung wahrscheinlich um eine Nebenwirkung oder um einen Zufall handelt, ist es wichtig, die generelle Hintergrundinzidenz des seltenen Ereignisses in der Bevölkerung zu bedenken. Ein Beispiel: In der Schweiz leben 7 Millionen Personen im Alter von > 20 Jahren. Statistisch ist deshalb zu erwarten, dass innert 6 Wochen – mit oder ohne Impfung – 15 Personen an einem Guillain-Barré-Syndrom (GBS) erkranken und 4 plötzlich und unerwartet sterben werden. Nur wenn beispielsweise die Inzidenz des Guillain-Barré-Syndroms im Zusammenhang mit einer Impfung höher ist, könnte das ein Signal für eine Impfnebenwirkung sein. Zu den anerkannten schweren Impfnebenwirkungen zählen die Anaphylaxie wegen allergischer Reaktionen gegen Impfbestandteile (1:100 000), die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP; 1:30 000) nach einer Masernimpfung, das GBS nach der Schweinegrippeimpfung (1:1 Million), die Peri-/Myokarditis nach mRNA-Impfstoffen sowie eine Sinusvenenthrombose nach der Impfung mit einem ChAd-VektorImpfstoff. Seit Jahren widerlegt sind eine Reihe gängiger Impfmythen: Zum Beispiel wird MS weder durch die Hepatitis-B- noch durch die HPV-Impfung getriggert, Autismus hat nichts mit der Mumps-Masern-Röteln-Impfung zu tun, und das Aufflackern autoimmuner Erkrankungen erfolgt unabhängig von allfälligen Impfungen.
Erwartbare Nebenwirkungen
Sowohl bei Medikamenten als auch bei Impfstoffen unterscheidet man generell 2 Kategorien von Nebenwirkungen, nämlich jene, die aufgrund der pharmakologischen Wirkung erwartbar und dosisabhängig auftreten (Typ A), und andere, die weder vorhersehbar noch dosisabhängig sind (Typ B). Zu den klassischen Nebenwirkungen vom Typ A gehören lokale Reaktionen an der Impfstelle und eine gewisse Abgeschlagenheit für 1 bis 2 Tage nach der Impfung. In beiden Phänomenen spiegelt sich die Immunreaktion wider. Solche
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Kasten 1:
Hämatome vermeiden
▲ Beim Impfen sollte man nicht aspirieren, empfahl Berger, weil dadurch eher ein Hämatom entstehen könne.
▲ Bei Patienten unter Antikoagulation die Impfung s.c. statt i.m. durchzuführen, weil man hoffe, damit Hämatomen vorzubeugen, sei weder eine gute Idee noch führe dies zu weniger Hämatomen. In Studien zeigte sich im Gegenteil, dass Hämatome und Erytheme bei antikoagulierten Patienten bei der s.c. Applikation sogar etwas häufiger auftraten (Hämatome: s.c. 2% vs. i.m. 1%; Erythem: s.c. 30% vs. i. m. 10%).
▲ Auch ein Hämophilie ist keine Kontraindikation für eine Impfung i.m.: «Das Trauma durch die Nadel in den Muskel, wenn korrekt appliziert, ist so gering, dass kein relevantes Risiko besteht, gerade für ein Muskelhämatom», sagte Berger. Man sollte bei Antikoagulation oder Hämophilie die Impfstelle aber länger und stärker komprimieren.
Nebenwirkungen können 20 bis 90 Prozent der Geimpften betreffen. Keine oder eine nur leichte Reaktion bedeutet jedoch nicht, dass die Impfung nicht wirkt, denn die Ausprägung der genannten Symptome ist individuell unterschiedlich. «Lokalreaktionen und Reaktogenizität sind normal, und manchmal treten ausgeprägte Varianten auf», sagte Berger. Allenfalls könnten die Antikörperantwort und die T-ZellAktivierung bei Personen mit besonders starken Reaktionen (z. B. Fieber) etwas stärker sein, was aber «ein bisschen hypothetisch» sei. Wenn die lokale Rötung sehr grossflächig und stark ist, hilft Kühlen, eventuell kombiniert mit einem topischen Kortikosteroid, bei Juckreiz Antihistaminika und gegebenenfalls nicht steroidale Antiphlogistika (NSAID) zur Entzündungshemmung, insbesondere bei Schwellungen und Schmerzen. Auch starke Lokalreaktionen klingen meist nach 2 bis 3 Tagen deutlich ab. Ist bei einer erneuten Impfung mit demselben Impfstoff wieder damit zu rechnen? Für die Tetanusimpfung sei das bekannt, sagte Berger. Vermutlich hatten die Betroffenen zum Zeitpunkt der Impfung noch sehr hohe Antikörpertiter. Wenn es um die Tetanusauffrischungsimpfung nach normalerweise 10 Jahren gehe, lohne es sich manchmal, bei einer
Person, die bereits früher sehr stark auf die Tetanusimpfung reagiert hätten, die tetanusspezifischen Antikörper zu messen und, falls dieser Titer sehr hoch sei, die Impfung zu verschieben. Eher in die Kategorie Kunstfehler gehören Hämatome (Kasten 1) und Schulterverletzungen aufgrund einer mangelhaften Impftechnik.
Schulterverletzung wegen falsch gesetzter Injektion
Wenn die Injektion zu hoch gesetzt wird, droht eine Verletzung der Schulter. Die korrekte Stelle für die Impfung am Oberarm ist die zentrale und dickste Region des Musculus deltoideus. Sie liegt 2 bis 3 Fingerbreit unter dem Akromium, dem Knochenvorsprung der Scapula. Injiziert man zu hoch, kann die Nadel bis in die subakromiale Bursa vordringen, sodass eine Bursitis entstehen kann. Berger empfahl, sich beim Impfen eines sitzenden Patienten ebenfalls zu setzen: «Wenn man steht, hat man die Tendenz, von oben herunter und tendenziell zu hoch zu impfen.» In Basel wurde man auf diese, in der Literatur als sehr selten bezeichnete Nebenwirkung, im Rahmen einer Influenzaimpfkampagne aufmerksam, als 16 Studenten – alle von derselben Person geimpft – während mehr als 2 Wochen über Schulterschmerzen klagten. Die Betroffenen hatten Bursitiden und Supraspinatustendinopathien mit typischerweise starken Reaktionen am Ansatz der Supraspinatussehne; im MRI fand man in mehreren Fällen dort auch Erosionen am Knochen. Eine Therapie mit NSAID und Kortison sowie Physiotherapie führte insgesamt zu einem guten Ergebnis (1). Impfbedingte Schulterverletzungen (shoulder injury related to vaccine administration, SIRVA) seien zwar selten, aber man müsse daran denken, sagte Berger. Anzeichen einer SIRVA sind typischerweise stärkste Schmerzen 24 Stunden nach der Impfung, der Arm kann nicht gehoben werden, die Betroffenen wachen nachts wegen der Schmerzen auf und haben nach 4 Wochen immer noch Schmerzen, trotz NSAID. Für die Praxis empfahl Berger, weitere Abklärungen nicht zu früh zu veranlassen, um die Patienten nicht zu verunsichern: «Ich habe nach einer FSME-Impfung Patienten mit einer Bursitis gesehen, die nach 2 Tagen wieder verschwunden war.» Man solle dem Patienten zunächst NSAID geben und ihm erklären, dass es sich um eine lokale Impfreaktion han-
Tabelle:
Unterschiede zwischen anaphylaktischen und vasovagalen Reaktionen bei Impfungen
Beginn Atmung Herz/Kreislauf Haut Gastrointestinal Neurologisch
Anaphylaxie Einsetzen erst einige Minuten (bis zu 2 Stunden) nach der Impfung Wheezing, Stridor Tachykardie, Hypotonie Flush, Urtikaria, Angioödem Krämpfe Bewusstseinsstörung
Vasovagale Reaktion während/unmittelbar nach der Impfung
normal oder Hyperventilation Bradykardie, Hypotonie Blässe, Frieren, Schwitzen Übelkeit, Erbrechen Synkope, Verbesserung durch Hinlegen
Quelle: Prof. Yannik Müller, Workshop am XII. Schweizer Impfkongress, Basel, 9. November 2013
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Kasten 2:
Kompensation bei Impfschäden
Bei schweren Impfschäden besteht die Möglichkeit auf Entschädigung und Genugtuung, falls die Impfung in der Schweiz durchgeführt, empfohlen oder angeordnet wurde. Die Kausalität muss bewiesen oder sehr wahrscheinlich sein. Unter einem Impfschaden versteht man eine lang andauernde schwere Beeinträchtigung der Gesundheit und damit verbundene wirtschaftliche Verluste. Der Staat springt nur dann ein, wenn die Kosten nicht durch andere getragen werden (z. B. Versicherungen). Übliche Nebenwirkungen, wie Rötungen, Schwellungen und Verhärtungen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen oder Fieber, gelten nicht als Impfschäden (6).
dele, die in der Regel von selbst abklingen werde. Erst wenn der Patient nach 4 Wochen immer noch starke Schmerzen habe, solle man ihn zu einer Ultraschalluntersuchung schicken. Wenn, wie zum Beispiel bei Reiseimpfungen, mehrere Injektionen auf einmal gemacht werden müssen, könne man gegebenenfalls auf andere grosse Muskeln ausweichen (Gluteus, Oberschenkel).
Unerwartete Nebenwirkungen
Allergische Reaktionen gehören zu den nicht erwartbaren Typ-B-Nebenwirkungen, die meist erst in der Phase IV der Impfstoffstudien, beim Monitoring der Impfung von mehr als 100 000 Personen, sichtbar werden. Vasovagale Phänomene, die bei Impfungen vorkommen können, werden manchmal als Anaphylaxie fehlinterpretiert, unterscheiden sich jedoch in vielen Punkten davon (Tabelle). Impfstoffe, die in befruchteten Hühnereiern vermehrt werden, können Spuren von Eiweiss enthalten, sodass sich die Frage stellt, ob Personen mit einer Hühnereiweissallergie damit geimpft werden dürfen. Für die meisten Impfstoffe gab Prof. Yannik Müller, Lausanne, hierfür grünes Licht: Die Impfstoffe gegen MMR, FSME und Tollwut enthielten < 1 ng Hühnereiweiss pro Dosis, sodass hiervon keine Gefahr ausgehe. Im Influenzaimpfstoff seien es mit < 1,6 µg pro Dosis zwar deutlich mehr, aber auch diese Impfung sei für Personen mit einer Hühnereiweissallergie sicher, vorausgesetzt, dass sich ihre Reaktion nach dem Konsum von Eiern auf Urtikaria beschränke, sagte Müller. Bei Personen mit heftigeren, schweren Reaktionen müsse man jedoch vorsichtig sein; beispielsweise enthalte der Gelbfieberimpfstoff recht viel Hühnereiweiss (< 16 µg pro Dosis). Impfstoffe, die in befruchteten Hühnereiern oder in Zellkulturen produziert werden, können überdies Spuren von Antibiotika, wie zum Beispiel Neomycin, enthalten, woran beim Impfen von Personen mit einer schweren Antibiotikaallergie gedacht werden sollte, sagte Müller.
Überempfindlichkeit gegenüber PEG
Polyethylenglykol (PEG) besteht aus kettenförmigen Molekülen, die je nach Kettenlänge als flüssige, visköse oder feste Substanz vorliegen. PEG wird in Kosmetika, Gelen und Nahrungsmitteln sowie in medizinischen Präparaten (z. B. Laxativa, Depotinjektionen, Tabletten) eingesetzt.
In den mRNA-Impfstoffen soll PEG die mRNA-enthaltenden Liposomen stabilisieren. Überempfindlichkeitsreaktionen sind bereits von anderen PEG-umhüllten Nanopharmazeutika bekannt. Der exakte Mechanismus, der diesen Reaktionen zugrunde liegt, ist noch nicht aufgeklärt. Vermutlich spielt dabei das Komplementsystem eine Rolle. In den meisten Fällen verschwindet die Überempfindlichkeitsreaktion auf derartige PEG-Präparate wieder von selbst, gelegentlich kann es zu einer sogenannten Pseudoanaphylaxie kommen (2).
Chronische Urtikaria nach Boosterimpfung
Das Nebenwirkungsprofil nach der COVID-19-Impfung mit mRNA-Impfstoffen war nach der Basisimmunisierung und der Boosterimpfung unterschiedlich. Nach der Basisimmunisierung waren die zu erwartenden Nebenwirkungen wie Fieber, Kopfschmerz und Müdigkeit am häufigsten, während Hautreaktionen weitaus seltener waren. Nach der Boosterimpfung hingegen waren Urtikaria und Pruritus mit Abstand die häufigsten Nebenwirkungen. Von einer chronischen Urtikaria spreche man, wenn die Beschwerden mindestens 6 Wochen anhielten, sagte Müller. Wie jede andere Urtikaria solle man auch diese Patienten mit Antihistaminika behandeln, allerdings in einer bis zu 4-fach höheren Dosis als normalerweise üblich. «Diese Patienten leiden sehr unter dem Juckreiz», betonte der Referent. Man brauche keine Angst vor hohen Dosen zu haben, denn diese Patienten hätten hohe Histaminspiegel, die blockiert werden müssten, sodass Nebenwirkungen nicht zu befürchten seien.
Umstrittenes PostVac-Syndrom
Mit den flächendeckenden COVID-Impfungen tauchte ein neues klinisches Phänomen auf, das sogenannte PostVacSyndrom im zeitlichen Zusammenhang mit einer COVIDImpfung. Seine Symptome, wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, «brain fog» und posturales Tachykardiesyndrom, gleichen denjenigen bei Long COVID und anderen postviralen Syndromen. Bis heute handele es sich nicht um eine anerkannte Diagnose, und es gebe keine einheitliche Definition für ein PostVac-Syndrom, sagte Berger: «Ich sage nicht, dass es das nicht gibt. Nur ist es im Moment offen, was es wirklich ist.» Die nach Ansicht von Berger bis anhin beste Stellungnahme komme vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Deutschland. Am PEI hat man 472 als PostVac-Syndrom gemeldete Fälle aus Deutschland analysiert und mit entsprechenden Meldungen in der Datenbank der European Medicines Angency (EMA) verglichen (Impfdosen Deutschland: 192,2 Millionen; Impfdosen EU: 940 Millionen). Die Fachleute am PEI kommen zu dem Schluss, dass derzeit kein Signal für anhaltende, mit Müdigkeit einhergehende Beschwerden nach einer COVID-19-Impfung detektiert werde. Auffällig sei jedoch, dass bei der EMA aus Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern unverhältnismässig viele Meldungen eingegangen sind (3). Eine mögliche Erklärung für das Phänomen des PostVac-Syndroms könnte der Noceboeffekt sein. So wurde in einer Studie deutlich, dass Personen, die eine Impfung eigentlich ablehnen, sich aber trotzdem impfen lassen, ein höheres Ri-
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siko für ein PostVac-Syndrom haben (4). Die Autoren einer Metaanalyse von Zulassungsstudien der COVID-Impfstoffe kamen zu dem Schluss, dass die Mehrzahl der systemischen Nebenwirkungen in diesen Studien auf den Noceboeffekt zurückzuführen sei (5).
Tipps für das Vorgehen in der Praxis
Schritt 1: Offen bleiben und voreilige Schlüsse vermeiden Zum einen sollte man Patienten, die mit unklaren Symptomen nach einer Impfung in die Praxis kommen, niemals sagen, dass dafür «bestimmt nicht die Impfung» verantwortlich sei, empfahl Berger, denn es könne – wie das Beispiel Myokarditis bei jungen Männern gezeigt habe – eine Zeit lang dauern, bis sehr seltene Nebenwirkungen in Meldesystemen als Signal erkennbar werden. Zum anderen solle man aber nicht alle ungewöhnlichen Phänomene im Zusammenhang mit einer Impfung reflexhaft als Nebenwirkung einordnen: «Nicht jedes Hautjucken mit Unwohlsein ist eine Anaphylaxie, und nicht jeder mit einem merkwürdigen Kitzeln auf der Brust hat eine Myokarditis», sagte Berger.
Schritt 2: Immer versuchen, eine Diagnose zu stellen Dabei geht es einerseits um den Ausschluss häufiger und gefährlicher Erkrankungen und andererseits um die Frage, ob beispielsweise die Kriterien für ein chronisches Fatigue-Syndrom erfüllt sind. Nur mit einer Diagnose, und sei sie auch nur deskriptiv, ist die Meldung des Falls als Ereignis in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung nützlich. Berger betonte in diesem Zusammenhang einmal mehr, dass «zeitlicher Zusammenhang» oder «mit der Impfung assoziiert» keine Kausalität bedeute.
Links
Informationen zu ELVIS, dem Vigilance-Meldeportal von Swissmedic
Schritt 3: Behandeln Auch wenn Patienten dazu neigen, vermeintliche oder echte Impfnebenwirkungen als besonders gravierend einzuschätzen, spielt es für die Behandlung keine Rolle, ob die Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung auftreten oder nicht. Die Behandlung erfolgt genauso wie sonst üblich (z. B. Antihistaminika bei Urtikaria).
Schritt 4: Besteht vielleicht doch eine Kausalität?
Die Auseinandersetzung mit dieser Frage sei extrem schwie-
rig, vor allem wenn es noch keine bekannte Nebenwirkung
sei, sagte Berger. Falls eine zeitliche Assoziation bestehe
(Stunden bis 28 Tage nach der Impfung), solle man den Fall
im Meldeportal ELVIS melden, was, wie gesagt, nicht be-
deute, dass man ihn damit automatisch als Impfnebenwir-
kung deklariere.
s
Renate Bonifer
Prof. Christoph T. Berger, Basel, Prof. ass. Yannik Müller, Lausanne: Vortrag «Praktisches Vorgehen bei Verdacht auf Impfnebenwirkungen», XII. Schweizer Impfkongress in Basel, 9. November 2013.
Literatur: 1. Hirsiger JR et al.: Chronic inflammation and extracellular matrix-specific
autoimmunity following inadvertent periarticular influenza vaccination. J Autoimmun. 2021;124:102714. 2. Kozma GT et al.: Pseudo-anaphylaxis to polyethylene glycol (PEG)-coated liposomes: roles of anti-PEG IgM and complement activation in a porcine model of human infusion reactions. ACS Nano. 2019;13:93159324. 3. Robert-Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin. 2023;21:26. 4. Hoffman YSG et al.: Vaccine hesitancy prospectively predicts nocebo side-effects following COVID-19 vaccination. Sci Rep. 2022;12(1):20018. 5. Haas JW et al.: Frequency of Adverse Events in the Placebo Arms of COVID-19 Vaccine Trials: A Systematic Review and Meta-analysis [published correction appears in JAMA Netw Open. 2022 Feb 1;5(2):e221277]. JAMA Netw Open. 2022;5(1):e2143955. 6. https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/dienstleistungen/impfschaeden.html, abgerufen am 15.3.2024
https://www.rosenfluh.ch/qr/elvis
Entschädigung bei Impfschäden: https://www.rosenfluh.ch/qr/impfschaden
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