Transkript
BERICHT
Diarrhö
Kaum Evidenz für Effektivität diagnostischer Tests und therapeutischer Massnahmen
Am Update-Refresher Innere Medizin des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF) in Zürich referierte PD Dr. med. Pascal Frei, Gastroenterologie Bethanien, Zürich, über ein «uraltes» Thema, nämlich Durchfallerkrankungen. Was es hier Neues gibt und welche Ursachen sowie welche Möglichkeiten zur Abklärung und Therapie der Diarrhö bestehen, war Gegenstand seines Vortrags.
Die Themen, die er bei seinen Ausführungen anschnitt, subsumierte Frei unter der Frage «Was ist wichtig im Alltag?». Sie umfassten im einzelnen die folgenden Punkte: s Diagnostik mit Multiplex-PCR s Calprotectin als «Dauerbrenner» s Modediagnose SIBO s medikamentenbedingte Durchfälle s Probiotika. Bei Durchfall ist zunächst immer zu klären, ob er entzündlich oder infektiös bedingt ist. Bei Patienten, die mit akuter Diarrhö in der Praxis erscheinen, wird man primär an ein infektiöses Geschehen denken. Definitionsgemäss seien unter akuten Durchfällen solche zu verstehen, die weniger als 3 Wochen andauerten, erklärte der Referent; halte die Symptomatik länger als 3 Wochen an, liege eine chronische Diarrhö vor. Gemäss Statistik handle es sich im ersteren Fall wahrschein-
KURZ & BÜNDIG
� Die zur Bestimmung der Keimbesiedlung bei Diarrhöpatienten von diversen Labors angebotenen Multiplex-PCR sollten vor Inanspruchnahme hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Kosten verglichen werden.
� Der Calprotectintest ist im akuten Setting nicht geeignet und auch im Fall von chronischer Diarrhö nicht anwendbar bei gleichzeitiger Einnahme von NSAR oder PPI, da die Calprotectinwerte dadurch erhöht sein können.
� Diarrhö ist eine häufige Nebenwirkung von Medikamenten; eine sartanbedingte (v. a. Olmesartan) Enteropathie ist allerdings extrem selten.
� Die mikroskopische Kolitis ist sehr häufig und lässt sich durch den Calprotectintest weder finden noch ausschliessen.
� Für die Gabe von Probiotika zur Verhinderung von Durchfällen bei Einnahme von Antibiotika wurde nur eine geringe Effektivität festgestellt (NNT = 20); auch bei chronischem Durchfall ist eine Wirksamkeit fraglich.
lich eher um einen Infekt, im letzteren eher um eine Entzündung. «Dazwischen ist dann Fingerspitzengefühl gefragt, weil jede chronische Diarrhö zunächst ein bisschen eine subakute Diarrhö ist», so Frei weiter. Wenn die Patienten aber schon 10 oder 14 Tage lang litten und zu befürchten sei, dass es sich doch um eine chronische Diarrhö handeln könnte, dann stelle sich die Frage, wie lange man abwarten oder wie viel man abklären solle. Akute schwere bakterielle Infekte seien fast nie mehr durch Salmonellen, sondern fast immer durch Campylobacter verursacht. Wenn es dem Patienten gut gehe, könne man abwarten – wenn er schwer krank sei, bei blutigem Durchfall oder bei Fieber, dann solle man behandeln, riet Frei. Als Antibiotikum für die campylobacterinduzierte Diarrhö empfahl der Experte Azithromycin.
Multiplex-PCR
Um andere Infekte auszuschliessen, kann man in vielen Labors Multiplex-PCR(Polymerasekettenreaktion)-Analysen durchführen lassen. Diese sind sehr unterschiedlich aufgebaut und werden je nach Anzahl der untersuchten Keime zu unterschiedlichen Preisen (zwischen 120 und 360 CHF) angeboten. Für den Referenten ist es aber fraglich, ob tatsächlich, wie oft beworben, auf 21 Keime getestet werden muss. «Seien wir ehrlich – wann haben Sie zum letzten Mal irgendeinen skurrilen Virus, den Sie sonst kaum aussprechen können, diagnostiziert?», fragte er und empfahl deshalb zu schauen, mit welchem Labor man zusammenarbeite und was dort jeweils bei der Multiplex-PCR zu welchem Preis angeboten werde, und dann zu entscheiden, ob sich das lohne.
Calprotectin
Wann soll man den Calprotectintest zur Abklärung von Durchfallerkrankungen durchführen? Calprotectin ist ein Eiweiss in Leukozyten. Immer wenn eine entzündliche Diarrhö vermutet wird und der Verdacht auf Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa als Ursache besteht, ist die Bestimmung von fäkalem Calprotectin als Entzündungsmarker sinnvoll. Allerdings sollte dieser Test nicht im Akutsetting, etwa bei seit 3 Tagen bestehendem Durchfall, durchgeführt werden. «In
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diesem Fall ist es viel wahrscheinlicher, dass der Patient einen Infekt, eine Ischämie oder eine medikamentöse Schädigung hat, und dann wird das Calprotectin sowieso erhöht sein», erklärte Frei. Aber auch bei subakuter und chronischer Diarrhö angewendet, besteht eine weitere Möglichkeit der Verfälschung eines Calprotectintests, und zwar bedingt durch eingenommene Medikamente. Einer aktuellen Studie (1) zufolge steigt das Calprotectin bei Gesunden, die Protonenpumpeninhibitoren (PPI) oder nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder beides einnehmen, in 40 Prozent der Fälle an. «Fragen Sie vor einem Calprotectintest Ihren Patienten, wie oft er in der letzten Zeit wegen Migräne, Rückenschmerzen oder etwas anderem ein NSAR eingenommen hat», riet der Experte. Bis sich die Calprotectinwerte normalisierten, dauert es nach NSAR-Stopp etwa 2 Wochen, bei PPI und NSAR in Kombination sogar bis zu 3 Wochen. Wenn die Durchfälle chronifizieren, sollten die Clostridien bestimmt werden. «Schauen Sie auch in Ihre Multiplex-PCR, ob überhaupt auf Clostridien getestet wurde – das ist nicht immer so», empfahl Frei.
Modediagnose SIBO
Die Diagnose einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms (small intestinal bacterial overgrowth, SIBO), also einer bakteriellen Fehlbesiedelung, sei derzeit extrem en vogue, so der Referent. Warum es aber nicht so einfach ist, begründete Frei anhand eines kürzlich publizierten Clinical Practice Update (2) der American Gastroenterological Association (AGA) zu SIBO. Die Schwierigkeit beginne damit, dass gar nicht gut definiert sei, was denn eine aktuelle Fehlbesiedelung genau sei. Das zweite Problem bestehe darin, dass es extrem viele Symptome gebe, die an eine SIBO denken liessen. Und zum Dritten seien zwar viele Risikofaktoren für eine SIBO bekannt, aber es existiere kein guter Marker wie eben das Calprotectin, um eine SIBO zu suchen oder auszuschliessen. «Es heisst zwar, dass der Folatspiegel steigen und der Vitamin-B12-Wert sinken kann. Aber das können Sie eigentlich nicht verwerten, weil es noch viele andere Einflussfaktoren gibt», erklärte der Experte. Als Prädisposition für SIBO gelten eine eingeschränkte Dünndarmmotilität (Diabetes, Obstipation etc.) und anatomische Abnormitäten (z. B. nach Operation), was bereits auf sehr viele Patienten zutrifft. Einen weiteren relevanten Risikofaktor stellt die Einnahme von hoch dosierten PPI dar. Hier sollte gegebenenfalls zunächst die Dosis reduziert werden, empfahl der Referent. Gesucht wird nach SIBO entweder, indem Dünndarmsaft aspiriert wird, oder per Atemtest. Beides sieht Frei eher kritisch. Denn um Dünndarmsaft zu erhalten, müsse eine Gastroskopie durchgeführt werden, was bei diesen Patienten in der Vergangenheit meist schon einmal erfolgt sei und nun erneut mit hohen Kosten und Arbeitsausfall verbunden wäre. Der Atemtest dauere etwa 4 Stunden und sei mit Kosten von mehr als 200 Franken auch nicht ganz billig, so der Gastroenterologe. Zudem müsse man im Vorfeld schauen, welche Medikamente (3 Tage vorher keine Abführmittel oder Medikamente, die die Darmbewegung beeinflussen: Laktulose, Paspertin, Motilium, Primperan, Imodium) der Patient einnehme und was er esse (1 Tag vorher keine Linsen, Bohnen, Erbsen, Nudeln, Früchte, Milch oder Verdauungsenzyme; nach 20 Uhr nicht essen, trinken, rauchen, Kaugummi kauen/
keine Bonbons). Zudem sei am Untersuchungstag körperliche Anstrengung zu vermeiden. Das erfordere einen grossen Aufwand, so Frei. Und was tun bei positivem Resultat? Gemäss AGA-Update gibt es keine so gute Datengrundlage, welches Antibiotikum zur Therapie eingesetzt werden sollte. «Was Sie wählen, ist empirisch, und wenn man die Details anschaut, funktioniert das dann auch nicht jedes Mal», berichtete Frei. Es müsse aber nicht immer das teure Rifaximin sein. Zwar hoffe man dabei auf weniger Resistenzprobleme, aber es sei ohnehin lediglich «off-label» anzuwenden. «Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Aber man darf sehr wohl pragmatisch sein, wie man dieses häufig diskutierte Krankheitsbild behandelt», resümierte der Referent.
Chronische Diarrhö: Medikamentennebenwirkung?
Gemäss einer jüngeren Publikation (3) gibt es 4 mehr oder weniger grosse Gruppen von Wirkstoffen, die jeweils relevant sind für unterschiedliche Formen von medikamenteninduziertem chronischen Durchfall, nämlich für s osmotische Diarrhö (neben diversen Medikamenten v. a.
auch künstliche Süssstoffe) s sekretorische Diarrhö (z. B. Amoxicillin/Clavulansäure,
Metformin, NSAR, Simvastatin) s inflammatorische Diarrhö (v. a. Antibiotika, Statine,
NSAR, PPI, selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer [SSRI], Laxativa, Olmesartan) s Motilitätsdiarrhö (v. a. Schilddrüsenmedikamente). Bei den seltenen (10 Fälle pro 100 000 Patienten) unter Olmesartan beobachteten Nebenwirkungen wird zwar ein Klasseneffekt diskutiert. Jedoch sprach sich Frei dagegen aus, bei einer derart geringen NNH (number needed to harm) eine Sartantherapie zu beenden. Häufiger und wahrscheinlicher als eine Medikamentennebenwirkung sei ohnehin die mikroskopische Kolitis ursächlich für die chronische Diarrhö. Für den Fall empfahl Frei die pragmatische Gabe von Budenosid über 6 Wochen, das sehr rasch wirke.
Probiotika
Nicht jeder Patient, der Antibiotika einnehme, brauche zwingend auch ein Probiotikum, stellte Frei klar. Relevant sei hier die NNT (number needed to treat): «Sie müssen 20 Patienten mit Probiotika behandeln, um 1-mal Durchfall zu verhindern», rechnete der Experte vor. Falls die Entscheidung doch zugunsten von Probiotika falle, seien die meisten aber auch in einem probiotischen Joghurt vom Grossverteiler enthalten. «Im Gegensatz zu Probiotika machen Joghurts immerhin Spass. Also können Sie den Patienten auch in den Supermarkt schicken», sagte Frei. Zur Frage, ob Probiotika bei chronischem Durchfall (diarrhöprädominantes Reizdarmsyndrom [RDS]) gegeben werden sollten, enthält die deutsche Guideline (S3-Leitlinie RDS [4]) eine Soll-Empfehlung («sollte gegeben werden»), was Frei kritisierte, denn die entsprechende Datengrundlage für die hier empfohlenen Stämme (Lactobacillus brevis, Bacillus coagulans) sei sehr dünn und teilweise fragwürdig. «In der Konsequenz ist es sinnvoll, jeden Behandlungsversuch mit Probiotika zunächst als probatorisch zu konzipieren und nur nach überzeugender Beschwerdelinderung fortzuführen (…)», heisst es zusammenfassend in Kapitel 7 der Leitlinie.
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«Es gibt aber keinerlei Evidenz, wie lange man das fortführen
soll», meinte Frei. Auch die britischen Guidelines (5) treffen
ähnliche Aussagen («Which particular combination, species
or strains of probiotics are effective for IBS remains, for the
most part, unclear.»). «Wir haben 2023 und eigentlich keine
Ahnung, was wir mit diesen Probiotika machen», so das eher
ernüchternde Fazit des Gastroenterologen.
s
Ralf Behrens
Quelle: Vortrag «Diarrhö – Diagnostik und Therapie» von PD Dr. med. Pascal Frei, Gastroenterologie Bethanien, Zürich, im Rahmen des Update-Refresher Innere Medizin des Forums für medizinische Fortbildung (FOMF) am 21. Juni 2023 in Zürich.
Referenzen: 1. Rendek Z et al.: Oral omeprazole and diclofenac intake is associated with
increased faecal calprotectin levels: a randomised open-label clinical trial. Eur J Gastroenterol Hepatol. 2023;35(1):52-58. 2. Quigley EMM et al.: AGA Clinical Practice Update on Small Intestinal Bacterial Overgrowth: Expert Review. Gastroenterology. 2020;159(4): 1526-1532. 3. Philip NA et al.: Spectrum of Drug-induced Chronic Diarrhea. J Clin Gastroenterol. 2017;51(2):111-117. 4. Layer P et al.: Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie. Gemeinsame Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) – Juni 2021 – AWMF-Registriernummer: 021/016. Z Gastroenterol. 2021;59(12):1323-1415. 5. Vasant DH et al.: British Society of Gastroenterology guidelines on the management of irritable bowel syndrome. Gut. 2021;70(7):1214-1240.
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