Transkript
FORTBILDUNG
Diagnostik lohnt sich
Angststörungen in der Hausarztpraxis
Je früher die Diagnose einer Angsterkrankung gestellt werden kann, desto besser. Es gibt gute Therapiemöglichkeiten, die bereits in der Hausarztpraxis in die Wege geleitet werden können.
Julia Diemer, Peter Zwanzger
Angsterkrankungen sind häufig – rund 10 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen leiden innerhalb eines Jahres an mindestens einer Angststörung (1). Doch rund zwei Drittel der Betroffenen erhalten keine adäquate Behandlung (2, 3). Mit zum Teil gravierenden Folgen: Unbehandelte Angststörungen neigen zur Chronifizierung, auch die Entwicklung weiterer psychischer Probleme (allen voran: Depression und Substanzmissbrauch) ist häufig (4, 5). Da Angststörungen sehr gut behandelbar sind, ist eine frühzeitige (Verdachts-) Diagnose für die Einleitung einer zeitnahen, störungsspezifischen Behandlung besonders wichtig. Diagnostik, Aufklärung, Motivation – so lässt sich die Strategie für den Allgemeinarzt zusammenfassen. Wie in der Kasuistik dargestellt, steht in den meisten Fällen zunächst eine gründliche somatische Ausschlussdiagnostik im Vordergrund (vgl. Tabelle 1). Doch nicht alle Angstpatienten berichten spontan von ihrer Symptomatik. Daher kann es hilfreich sein, mittels gezielter Screeningfragen den Verdacht auf das Vorliegen einer Angststörung zu konkretisieren (vgl. Tabelle 2). Subklinische Ängste sind weit verbreitet, daher sollte auch immer abgeklärt werden, inwiefern sich der Patient in seiner Lebensgestaltung durch die Angst eingeschränkt fühlt. So lässt sich abschätzen, ob der Gang zum Spezialisten empfohlen werden sollte. Wichtig für das Gespräch mit Angstpatienten ist die Unterscheidung zwischen «normaler» Angst und «pathologischer» Angst.
Kasten 1:
Kasusistik – junge Frau mit Angstattacken
Eine 34-jährige Patientin berichtet ihrem Hausarzt von immer wieder auftretenden heftigen Attacken mit intensivem Herzklopfen, Todesangst und Schweissausbrüchen. Besonders schlimm sei es am letzten Wochenende gewesen. Sie habe starken Druck auf der Brust verspürt, und alles habe sich plötzlich «unecht» angefühlt. Sie habe gedacht, das könne nur ein Herzinfarkt sein. Da die Attacke relativ rasch abgeklungen sei, habe sie sich von ihrem Mann beruhigen lassen und habe doch nicht den Notarzt gerufen. Nun bittet sie ihren Hausarzt um Abklärung. Nach körperlicher Untersuchung, EKG und Labor ist rasch klar: Somatisch ist die Patientin gesund. Offenbar steckt die Psyche dahinter. Der Hausarzt klärt seine Patientin über die Verdachtsdiagnose «Panikstörung» auf und motiviert sie zu einer störungsspezifischen Behandlung. Sie beginnt daraufhin eine ambulante Verhaltenstherapie bei einer psychologischen Psychotherapeutin. Ein halbes Jahr später berichtet die Patientin, sie erlebe nur noch selten und dann deutlich weniger intensive Angstattacken.
MERKSÄTZE
� Die wichtigste Botschaft für die Betroffenen ist: Angst an sich ist nicht schädlich, auch wenn die Symptome der Angst unangenehm sind.
� Angststörungen sind sehr gut behandelbar. Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie) ist die Behandlung der 1. Wahl, gegebenenfalls in Kombination mit modernen Antidepressiva.
� Der Beginn einer Pharmakotherapie sollte vom individuellen Leidensdruck abhängig gemacht werden.
� Benzodiazepine werden zur Therapie von Angsterkrankungen nicht mehr empfohlen.
� Eine ausschliessliche medikamentöse Therapie sollte nur im begründeten Einzelfall erwogen werden.
Angst ist eine Basisemotion des Menschen und für das Überleben eminent wichtig. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, vor Gefahren zu warnen und den Körper auf eine adäquate Reaktion (Flucht, Kampf oder Verstecken) vorzubereiten. Angst ist allerdings dann problematisch (pathologisch), wenn sie zu oft und zu intensiv auftritt, und vor allem dann, wenn sie im Verhältnis zur objektiven Gefahr in der gegebenen Situation unangemessen oder zu heftig ist. So sind eine gewisse Vorsicht und Reaktionsbereitschaft angesichts der Gefahren des Strassenverkehrs beim Autofahren angemessen, Panik vor dem Fahren jedoch «zu viel» Angst. In Tabelle 2 sind die typischen Merkmale der wichtigsten Angststörungen zusammengefasst. Darüber hinaus sind Mischbilder mit Anteilen mehrerer Angststörungen und/oder depressiven Symptomen nicht selten.
Angst vor der Angst
Charakteristisch für Angststörungen ist, dass die Betroffenen neben der «nach aussen» gerichteten Angst (vor bestimmten Situationen, Tieren oder der Zukunft) zumeist auch eine
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Kasten 2:
Häufige Angstsymptome
Körper: ▲ Herzrasen ▲ Schwitzen ▲ Schwindel ▲ Atemnot ▲ Enge/Druck im Brustkorb ▲ Übelkeit
Wahrnehmung: ▲ Einengung auf bedrohliche Aspekte einer Situation
(andere Aspekte werden ausgeblendet) ▲ Verzerrung bedrohlicher Reize (z. B. gefürchtetes Tier
erscheint grösser, als es ist)
Gefühle: ▲ Angst bis hin zur Panik ▲ Derealisation (Gefühl von Unwirklichkeit)
Gedanken: ▲ Einengung auf Gefahr und Fluchtmöglichkeiten ▲ beschleunigtes und/oder sprunghaftes Denken ▲ Katastrophisieren ▲ Konzentrationsstörungen ▲ reduzierte Merkfähigkeit
«nach innen» gerichtete Angst vor den Angstsymptomen entwickeln, die sogenannte Angst vor der Angst. Meistens liegen dem katastrophisierende Bewertungen zugrunde; rasches Herzklopfen erscheint dann als Hinweis auf einen bevorstehenden Herzinfarkt, angstvoll beschleunigtes, sprunghaftes Denken wird zum Zeichen, verrückt zu werden, und Kribbelparästhesien werden als Symptom einer schweren neurologischen Erkrankung fehlinterpretiert. Hier kann mit Psychoedukation über den körperlichen Hintergrund der Symptomatik geholfen werden. Es empfiehlt sich, den Patienten nach den von ihm am meisten gefürchteten Angstsymptomen zu befragen und sich erläutern zu lassen, welche Befürchtungen er mit diesen Symptomen verbindet. Dem kann
der Arzt dann sachliche Informationen entgegenstellen. Schon allein die Aufklärung darüber, dass vielfältige körperliche Empfindungen und psychische Erscheinungen Symptome eines Angstzustands sind (und sonst nichts) (vgl. Kasten 1, Kasuistik), kann enorm entlasten. Die wichtigste Botschaft für die Betroffenen ist: Angst an sich ist nicht schädlich, auch wenn die Symptome der Angst unangenehm sind. Natürlich ist häufige, unangemessene Angst sehr belastend, weswegen die Patienten viel Empathie benötigen. Das Gespräch über die Belastung kann genutzt werden, um die Motivation für eine störungsspezifische Behandlung aufzubauen. Denn hier stehen viele Patienten vor emotionalen Hürden, die sie davor zurückschrecken lassen, den Gang zum Psychiater und/oder Psychotherapeuten anzutreten. Dieser Weg ist jedoch unerlässlich; schliesslich stellt die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) nach der aktuellen Leitlinie die Therapie der 1. Wahl für Angststörungen dar (7).
Motivation: Vorurteile abbauen
Viele Menschen haben nur sehr ungenaue oder veraltete Vorstellungen von Psychiatrie und Psychotherapie, welche nicht selten einer Behandlungsbereitschaft im Wege stehen. Häufig haben die Betroffenen Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung oder befürchten, in einer Psychotherapie die gesamte Lebensgeschichte «aufarbeiten» zu müssen. Hier können Hausärzte gegensteuern, indem sie diese Ängste ernst nehmen, gleichzeitig aber ihre eigenen Erfahrungen mit den Kolleginnen und Kollegen in Psychiatrie und Psychotherapie schildern. Hilfreich kann es ausserdem sein, auf das Grundprinzip der KVT bei Angst zu verweisen: Angst ist gelernt und kann auch wieder verlernt werden (9). Diesen Lernprozess anzuleiten, ist die Aufgabe des Psychotherapeuten. In der KVT ist es zudem nicht üblich, umfassend Kindheitserlebnisse zu rekonstruieren. In der Regel wird sich der «Blick zurück» auf diejenigen Erfahrungen beschränken, die wesentlich mit der Angstsymptomatik zusammenhängen. Stattdessen liegt der Behandlungsfokus auf der Vorbereitung und Durchführung der Expositionstherapie. Bei einer lege artis durchgeführten Expositionstherapie wird jeder Therapieschritt umfassend vorbereitet und mit dem Patienten abgesprochen, das heisst, eine unkontrollierte Konfrontation («ins kalte Wasser
Tabelle 1:
Ausgewählte somatische Differenzialdiagnosen und empfohlene Ausschlussdiagnostik
Kardiovaskulär: ▲ Angina pectoris ▲ Arrhythmie ▲ Hypotonie ▲ Myokardinfarkt
Pulmonal: ▲ Asthma bronchiale ▲ COPD
Endokrinologisch: ▲ Hyper-/Hypokalziämie ▲ Hyper-/Hypothyreoidismus
Metabolisch: ▲ Hyperkaliämie ▲ Hypoglykämie
Neurologisch: ▲ Epilepsie ▲ multiple Sklerose ▲ Migräne ▲ vestibuläre Erkrankungen
Minimale Ausschlussdiagnostik nach Leitlinie: ▲ ausführliche Anamnese ▲ körperliche Untersuchung ▲ Labor: Blutbild, Blutzucker,
Elektrolyte (Ca2+, K+) ▲ Schilddrüsenstatus (TSH) ▲ EKG mit Rhythmusstreifen ▲ ggf. Lungenfunktion ▲ ggf. Bildgebung (MRT, CT)
des Schädels ▲ ggf. EEG
COPD: «chronic obstructive pulmonary disease», TSH: thyreoiodeastimulierendes Hormon, EKG: Elektrokardiografie, MRT: Magnetresonanztomografie, CT: Computertomografie, EEG: Elektroenzephalografie
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Tabelle 2:
Leitsymptome der wichtigsten Angststörungen und zugehörige Screeningfragen
Angststörung
Leitsymptom1
Klinisch typisch
Panikstörung
wiederholte, unerwartete
Die Patienten erleben die
(ICD-10: F41.0)
Panikattacken
Panikstörung als plötzliche,
schwere Erkrankung, die ihre
Lebensqualität massiv bedroht.
Häufig vermuten sie eine
organische Ursache.
Agoraphobie
Angst vor und Vermeidung
Die Patienten meiden Geschäfte,
(ICD-10: F40.0)
von Orten, aus denen eine
öffentliche Verkehrsmittel,
Flucht schwierig wäre oder
Autofahrten (v. a. allein).
an denen keine schnelle
Hilfe verfügbar ist
Soziale Phobie
Angst davor, von anderen
Die Störung besteht meist
(ICD-10: F40.1)
Menschen negativ beurteilt
seit der Jugend; die Patienten
zu werden sind oft primärpersönlich
schüchtern.
Spezifische Phobie Angst vor einer klar
Der Patient vermeidet den
(ICD-10: F40.2)
abgegrenzten Situation
Angstauslöser konsequent und
oder einem Objekt, z. B.
ist ausserhalb der Angstsituation
einem Tier (Spinne, Hund),
kaum beeinträchtigt.
vor Höhe oder Flugreisen
Generalisierte
(unbegründete) Sorgen um
starke Überlappung mit
Angststörung
mehrere Lebensbereiche,
Symptomen der Depression,
(ICD-10: F41.1)
z. B. Gesundheit der Familie, insbesondere Schlafstörung,
Finanzen, Leistung im Beruf
Stimmungstief, Erschöpfung
1 Für die vollständigen diagnostischen Kriterien siehe ICD-10 (8) 2 Modifiziert nach Leitlinie (7) ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
Screeningfrage2 Haben Sie plötzliche Anfälle von Angst und Schrecken mit körperlichen Symptomen wie z. B. Herzrasen, Schwitzen, Atemnot o. Ä.?
Haben Sie in einer der folgenden Situationen Angst oder Beklemmungsgefühle? – Menschenmengen – öffentliche Verkehrsmittel – Geschäfte Vermeiden Sie solche Situationen aus Angst? Haben Sie Angst davor, dass andere Menschen negativ über Sie urteilen könnten, z. B. Sie oder Ihr Verhalten als dumm, peinlich oder ungeschickt bewerten könnten? Haben Sie starke Angst vor bestimmten Dingen oder Situationen, z. B. Spinnen, Verletzungen oder Höhen?
Machen Sie sich häufig mehr Sorgen als andere Menschen?
geworfen werden») muss niemand befürchten (vgl. Tabelle 3). Darüber hinaus wird eine Expositionstherapie um weitere KVT-Techniken (z. B. kognitive Therapie, soziales Kompetenztraining) ergänzt, je nach individuellem Störungsbild. Viele Betroffene haben zudem Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass sie eine psychische Störung haben. Dabei spielen überkommene gesellschaftliche Vorstellungen von «Stärke» und «Schwäche» eine Rolle. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt: Während der Krankheitsbegriff für viele Patienten eine Entlastung bietet (denn: «Wer krank ist, kann nichts dafür»), empfinden andere eher eine Entpathologisierung als hilfreich, zum Beispiel mit dem Verweis auf die Häufigkeit von Angststörungen – nach dem Motto: «Es ist normal, psychische Probleme zu haben.»
Weiterbehandlung koordinieren
Ist der Patient motiviert, tritt häufig ein praktisches Problem auf: Vielerorts sind die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz sehr lang. Davon betroffene Patienten sollten dennoch möglichst viele Psychotherapeuten kontaktieren und sich auf Wartelisten setzen lassen. Vermeidung ist ein Kernsymptom von Angststörungen; daher empfiehlt es sich, den Patienten immer wieder auf die Weiterbehandlung anzusprechen.
Spezialfall Krankheitsangst
Eine besondere Bedeutung kommt der Allgemeinarztpraxis bei denjenigen Patienten zu, die unter Krankheitsängsten leiden. Dieses Störungsbild ist in den verschiedenen Klassifikationssystemen (ICD, DSM-5) unterschiedlich gefasst und wird zu den somatoformen Störungen gezählt. Inhaltlich liesse sich das Beschwerdebild jedoch ebenso gut den Angststörungen zuordnen, und es gibt fliessende Übergänge zur Panikstörung. Patienten mit Krankheitsangst (im ICD-10: «Hypochondrische Störung», im ICD-11: «Hypochondrie», im DSM-5: «Krankheitsangststörung») befürchten, hinter harmlosen körperlichen Missempfindungen stünde eine ernsthafte Erkrankung. Sie entwickeln häufig ein ausgeprägtes Checking-Verhalten, das heisst, sie scannen den eigenen Körper nach Symptomen ab und stellen sich wiederholt zur Abklärung der gefundenen Symptome vor. Die Erleichterung, die ein negativer Untersuchungsbefund bringt, hält jedoch nur kurz an; langfristig fühlen sich die Betroffenen zunehmend von dieser Rückversicherung abhängig. Für den Erfolg einer Psychotherapie kann in diesen Fällen die Zusammenarbeit von Psychotherapeut und Hausarzt entscheidend sein. Inhaltlich wird die KVT das Ziel verfolgen, dass die Patienten lernen, sich bei harmlosen Körpersymptomen selbst zu be-
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Tabelle 3:
Ablauf einer Expositionstherapie
Phase Inhalt
Diagnostik
Diagnose der Angststörung
Indikationsstellung für Expositionstherapie durch den Therapeuten
Kognitive Vorbereitung
Vermittlung eines individualisierten Störungsmodells
Psychoedukation zum Teufelskreis aus Angst und Vermeidung
Erstellung einer individuellen Angsthierarchie
Aufklärung über Expositionstherapie
Entscheidung für Expositionstherapie durch den Patienten
Expositionsphase
Expositionsübungen, meist in aufsteigender Schwierigkeit
erste Übungen nach Möglichkeit in Begleitung des Therapeuten, dann zunehmend selbstständige
Durchführung durch den Patienten
Rückfallprophylaxe
Aufklärung über die Bedeutung des regelmässigen Übens, um den Therapieerfolg aufrechtzuerhalten
Übungsplan für den Fall, dass Angst erneut auftritt
Tabelle 4:
Übersicht Pharmakotherapie
Substanzgruppe
Substanz Dosierung
Panikstörung
SNRI
Venlafaxin
37,5–225 mg
SSRI
Paroxetin
10–50 mg
Citalopram
10–40 mg
Escitalopram
5–20 mg
Sertralin
25–150 mg
Trizyklische Antidepressiva
Clomipramin
75–250 mg
Generalisierte Angststörung
Antiepileptika
Pregabalin
75–600 mg
Antihistaminika
Hydroxyzin
37,5–75 mg
Azapirone
Buspiron
15–60 mg
SNRI
Venlafaxin
37,5–225 mg
Duloxetin
30–120 mg
SSRI
Paroxetin
20–50 mg
Escitalopram
10–20 mg
Sertralin
25–150 mg
Trizyklische Antidepressiva
Opipramol
50–200 mg
Soziale Phobie
MAO-Hemmer
Moclobemid
300–600 mg
SNRI
Venlafaxin
37,5–225 mg
SSRI
Paroxetin
20–50 mg
Escitalopram
10–20 mg
Ängstlich-depressives Syndrom
Phytopharmaka
Lavendelölextrakt (Silexan®)
80 mg
SNRI: serotonine norephinedrine reuptake inhibitor, SSRI: selective serotonine reuptake inhibitor, MAO: Monoaminoxidase
ruhigen, und daher zeit- statt symptomkontingente Arzttermine anstreben.
Pharmakotherapie
Insbesondere bei schweren Verläufen, komorbiden Störungen sowie bei Nichtansprechen auf psychotherapeutische Verfahren muss eine medikamentöse Therapie in Erwägung gezogen werden (10, 11). Allerdings sollte der Einsatz von Medikamenten abhängig gemacht werden vom individuellen Leidensdruck sowie auch von der Präferenz des Patienten.
Generell gilt, dass nicht jeder Patient notwendigerweise ein Medikament verordnet bekommen muss. Andererseits darf bei gegebener Indikation einem Patienten ein wirksames Medikament nicht vorenthalten werden. In diesem Entscheidungsprozess spielen Ängste und Verunsicherung sowohl bei Patienten als auch bei Ärzten eine grosse Rolle. Oftmals besteht die Vorstellung, Angsterkrankungen seien rein psychologisch bedingt, weshalb sich eine medikamentöse Intervention verbiete. Auch zirkulieren weiterhin falsche beziehungsweise verzerrte Informationen zum Abhängigkeits-
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potenzial von Psychopharmaka im Allgemeinen. Dabei ist zu betonen, dass die für die Behandlung von Angststörungen in erster Linie empfohlenen modernen Antidepressiva keine Abhängigkeit auslösen, im Gegensatz zu Benzodiazepinen, die bei vielen Menschen bereits nach kurzer Zeit – ähnlich wie Alkohol – zu erheblicher physischer und psychischer Abhängigkeit führen können. Dennoch sollte die Entscheidung zur medikamentösen Behandlung mit Bedacht getroffen werden und wichtige klinische und anamnestische Aspekte berücksichtigen. Basierend auf aktuellen Leitlinienempfehlungen stellen die modernen selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) sowie die kombinierten Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) die Substanzen der 1. Wahl dar. Daneben besteht eine Zulassung für das Antikonvulsivum Pregabalin bei der generalisierten Angststörung (7). Benzodiazepine werden für die Behandlung von Angsterkrankungen nicht mehr empfohlen und sollten wegen des be kannten Abhängigkeitsrisikos vermieden werden. Zur kurzfristigen Intervention bei schweren Panikattacken ist die Anwendung von Benzodiazepinen mit kurzer Halbwertszeit und geringer Sedierung jedoch möglich und sinnvoll (z. B. Lorazepam 1–2,5 mg; [12]). Neuerdings steht für die Behandlung von Angstsyndromen mit dem Lavendelölextrakt Silexan® auch eine phytopharmakologische Alternative zur Verfügung. Das Präparat zeigt Wirksamkeit auf Schlaf, Angst und depressive Symptome und kann bei gemischt ängstlich-depressiven Syndromen von leichtem bis mittlerem Schweregrad sowie bei Patienten mit Präferenz zur Phytopharmakotherapie eingesetzt werden. Eine Zulassung für die Indikation generalisierte Angststörung besteht aktuell noch nicht (13). Eine Übersicht über die wichtigsten Substanzen, Indikationen und Empfehlungen findet sich in Tabelle 4.
Praxisempfehlungen für die Pharmakotherapie
Eine umfassende Aufklärung über Ablauf, Wirkung und gegebenenfalls Nebenwirkungen der Therapie ist gerade im Falle einer psychopharmakologischen Behandlung von besonderer Bedeutung. Bei der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva ist der verzögerte Wirkeintritt um 2 bis 4 Wochen zu beachten. Während der ersten Behandlungstage kommt es häufig zu einer vorübergehenden Verschlechterung der Paniksymptomatik (sog. «jitteriness»; [10]). Die Wahl einer niedrigen Startdosis (z. B. Escitalopram 5 mg) hilft, diese Symptomatik zu entschärfen oder ganz zu vermeiden. Die medikamentöse Therapie mit Antidepressiva sollte frühestens nach 6 Monaten beendet werden. In komplizierteren Fällen, bei Therapieresistenz oder Rezidiven muss länger behandelt werden. Ein Absetzen muss langsam und über mehrere Wochen und unter ärztlich-psychotherapeutischer Begleitung erfolgen (12). Für Neuroleptika, insbesondere für das Depotpräparat Fluspirilen, gibt es keine Wirksamkeitsnachweise.
Fazit
Angststörungen sind häufig, aber gut behandelbar. Wichtig
ist die Vermeidung einer Chronifizierung. Psychotherapie (ko-
gnitive Verhaltenstherapie) ist die Behandlung der 1. Wahl,
gegebenenfalls in Kombination mit modernen Antidepres-
siva. Dem Hausarzt kommt bei der frühzeitigen (Verdachts-)
Diagnose und Ausschlussdiagnostik, bei der Aufklärung der
Betroffenen und der Weitervermittlung zum Psychotherapeu-
ten oder Psychiater und gegebenenfalls bei der medikamen-
tösen Mitbehandlung eine zentrale Rolle zu.
s
Dr. phil. Julia Diemer, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin Psychiatrische Institutsambulanz
Prof. Dr. med. Peter Zwanzger Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatik
kbo-Inn-Salzach-Klinikum gGmbH D-83512 Wasserburg am Inn
Interessenlage: Julia Diemer gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Peter Zwanzger hat in den letzten 3 Jahren Honorar für die Teilnahme am Advisory Board von Janssen Pharmaceuticals sowie für Vortragstätigkeiten von Janssen Pharmaceuticals, Schwabe, Servier und Neuraxpharm erhalten.
Dieser Artikel erschien erstmals in «doctors today» 5/23. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
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mental disorders in Germany: the Mental Health Module of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1-MH). Int J Methods Psychiatr Res. 2014;23(3):304-319. 2. Alonso J et al.; European Study of the Epidemiology of Mental Disorders (ESEMeD) Project: The European Study of the Epidemiology of Mental Disorders (ESEMeD) project: an epidemiological basis for informing mental health policies in Europe. Acta Psychiatr Scand Suppl. 2004;(420):5-7. 3. Alonso J et al.; WHO World Mental Health Survey Collaborators: Treatment gap for anxiety disorders is global: results of the World Mental Health Surveys in 21 countries. Depress Anxiety. 2018;35(3):195-208. 4. American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5®), Fifth Edition. 2013: American Psychiatric Association, Arlington (USA). 5. Wittchen HU et a.: The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. Eur Neuropsychopharmacol. 2011;21(9):655-679. 6. Dlugos A, Zwanzger P; (2012) Diagnostische Einteilung von Angststörungen. In: Rupprecht R, Kellner M (Hrsg) Angststörungen: Klinik, Forschung, Therapie. 2012: Kohlhammer, Stuttgart. 7. Bandelow B et al.: Deutsche S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen (Stand: 15.04.2014); www.awmf.org/leitlinien.html. 8. Dilling H, Freyberger HJ (Hrsg): Taschenführer zur ICD-10–Klassifikation psychischer Störungen. 2019: WHO Press/Hogrefe, Göttingen. 9. Feldker K, Diemer J: Lerntheoretische Aspekte. In: Zwanzger P (Hrsg) Angst: Medizin. Psychologie. Gesellschaft. 2018: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin. 10. Zwanzger P: Pharmakotherapie bei Angsterkrankungen. Fortschr Neurol Psychiatr. 2016;84:306-314. 11. Zwanzger P: Die Behandlung von Angsterkrankungen. MMW Fortschr Med. 2018;160:48-54. 12. Zwanzger P et al.: Angst, Panik und Zwang. In: Schneider F, Niebling W (Hrsg) Psychische Erkrankungen in der Hausarztpraxis. 2008: Springer Medizin, Heidelberg. 13. Kasper S et al.: Silexan in anxiety disorders: clinical data and pharmacological background. World J Biol Psychiatry. 2018;19(6):412-420.
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