Transkript
STUDIE REFERIERT
Antidepressiva gegen chronische Schmerzen
Zur Analgesie nur bedingt tauglich
Zur Therapie chronischer Schmerzen kommen inzwischen vermehrt Antidepressiva zum Einsatz. Eine aktuelle Übersichtsarbeit bescheinigt ihnen jedoch nur eine begrenzte analgetische Wirksamkeit.
British Medical Journal
Die häufigsten Ursachen für chronische Schmerzsymptome, von denen weltweit rund jeder Fünfte betroffen ist, sind muskuloskelettale Leiden, wie etwa Rückenschmerzen, gefolgt von Kopfweh sowie orofazialen und viszeralen Schmerzen. Die Behandlung chronischer Schmerzen gestaltet sich bisweilen schwierig. So ist zum Beispiel die Wirksamkeit des meisteingesetzten NichtOpioid-Analgetikums Paracetamol nur für einige Schmerzzustände, wie Arthrose- oder Kopfschmerzen, bekannt. Nicht steroidale Entzündungshemmer (non steroidal antiinflammatory drugs, NSAID) sind zwar in bestimmten Situationen von Nutzen, jedoch besteht bei Langzeitgebrauch ein Risiko für schwere Nebenwirkungen. Auch die Effektivität von Opioidanalgetika, die rund einem Drittel der Patienten mit chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen verschrieben werden, ist limitiert und steht in ungünstigem Verhältnis zum möglichen Schaden. In den letzten Jahren kommen daher vermehrt Antidepressiva (AD) zur Behandlung chronischer Schmerzen zum Zug. In manchen Ländern überwiegt der AD-Einsatz in dieser Indikation sogar denjenigen zur Therapie von Depressionen. In seiner 2021erLeitlinie zum chronischen primären Schmerz hat sich das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) explizit gegen den Gebrauch von Schmerzmedikamenten ausgesprochen; AD waren davon ausgenommen. Eine kürzlich publizierte Übersicht von einschlägigen systematischen Reviews verschafft Patienten und Ärzten nun einen aktuellen, umfassenden Überblick über die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von AD bei chronischen Schmerzen. Die Autoren screen-
ten verschiedene Literaturdatenbanken nach geeigneten Publikationen, in denen der Off-label-Einsatz von AD im Vergleich zu Plazebo getestet worden war. Insgesamt erfüllten 26 im Zeitraum zwischen 2012 und 2022 veröffentlichte Reviews von 156 Einzelstudien mit mehr als 25 000 Teilnehmern, in denen 42 Wirkstoffe aus 8 verschiedenen AD-Klassen (trizyklische AD [TZA; in 12 Reviews], selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer [SSRI, 11], SerotoninNoradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer [SNRI; 8], tetrazyklische/atypische AD [4], Serotoninantagonisten und -wiederaufnahmehemmer [SARI; 2], Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer [NDRI; 1], Monoaminoxidasehemmer [MAOI; 1]) bei 22 unterschiedlichen Schmerzzuständen eingesetzt worden waren, die Einschlusskriterien. Primärer Wirksamkeitsendpunkt war die über diverse Instrumente ermittelte und als mittlere Gruppendifferenzen (MD) angegebene Schmerzintensität auf einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster Schmerz); im Falle von Kopfweh wurde dessen Häufigkeit ausgewertet. Als sekundäre Endpunkte wurden sicherheits- und verträglichkeitsrelevante Resultate wie etwa Therapieabbrüche aufgrund von Nebenwirkungen definiert.
Evidenz moderater Gewissheit nur für SNRI
Die Analyse der Daten ergab, dass AD in 9 Reviews (11 von 42 einzelnen Vergleichen) bei insgesamt 9 verschiedenen Schmerzzuständen eine gewisse Wirksamkeit zeigten. Zwar konnte keiner der Reviews Evidenz mit hoher Gewissheit liefern, doch in 4 Vergleichen ergaben sich Hinweise mit moderater
Gewissheit auf eine Wirksamkeit von SNRI, und zwar bei Rückenschmerzen (Duloxetin; MD: –5,3; 95%-Konfidenzintervall [KI]: –7,3 bis –3,3), postoperativen Schmerzen (Duloxetin, Venlafaxin; MD: –7,3; 95%-KI: –12,9 bis –1,7), neuropathischen Schmerzen (Duloxetin, Milnacipran [in der Schweiz nicht zugelassen], Venlafaxin, Desvenlafaxin [in der Schweiz nicht zugelassen]; MD: –6,8; 95%-KI: –8,7 bis –4,8) und bei Fibromyalgie (Duloxetin, Milnacipran; relatives Risiko [RR]: 1,4; 95%-KI: 1,3–1,6). Für TZA, die derzeit drei Viertel aller bei chronischen Schmerzen verschriebenen AD ausmachen, hatte sich lediglich in 3 Vergleichen eine Evidenz mit niedriger Gewissheit für die Wirksamkeit bei Reizdarmbeschwerden, neuropathischen Schmerzen und chronischen Spannungskopfschmerzen ergeben. Für SSRI ergaben sich in 1 Vergleich Hinweise geringer Gewissheit auf einen Effekt bei mit Depression assoziiierten chronischen Schmerzen. In den übrigen 31 Vergleichen hatten sich AD dagegen entweder als unwirksam erwiesen, oder die Evidenz war widersprüchlich. Die erhobenen Daten zu Sicherheits- und Verträglichkeitsaspekten waren überwiegend unpräzise. Aus den Resultaten ihrer Übersichtsarbeit leiten die Autoren den dringenden Bedarf an einem differenzierteren Ansatz für die Verschreibung von AD bei chronischen Schmerzen ab. RABE s
Ferreira GE et al.: Efficacy, safety, and tolerability of antidepressants for pain in adults: overview of systematic reviews. BMJ. 2023 Feb 1;380:e072415.
Interessenlage: Ein Teil der Autoren der referierten Studie erklärt, Forschungsunterstützung und diverse Honorare von pharmazeutischen Unternehmen erhalten zu haben.
452
ARS MEDICI 17 | 2023