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SUMMER SCHOOL
KOMMENTAR
Prof. Isabella Sudano, Präsidentin AGLA, Universitätsspital Zürich Universitäres Herzzentrum Zürich
Das Potenzial der Cholesterintherapie ausschöpfen
In der Schweiz ist – wie in vielen anderen europäischen Ländern – die Mortalität wegen kardiovaskulärer Krankheiten, meistens Atherosklerose-bedingt, rückläufig (1). Dennoch bleibt die sogenannte ASCVD (atherosclerotic cardiovascular disease) die häufigsteTodesursache (1). Zudem steigt die Zahl der daraus resultierenden Hospitalisationen – vor allem wegen Myokardinfarkten und Schlaganfällen (1). Die gegenläufigen Entwicklungen von Mortalität und Hospitalisationen sprechen für Erfolge in der Therapie, untermauern aber auch den Bedarf an verstärkter Prävention. Die Prävention der Atherosklerose basiert auf der Behandlung modifizierbarer Risikofaktoren. Dabei kommt dem LDL-Cholesterin (LDL-C) eine besondere Bedeutung zu. Dessen Einlagerung, sowie das anderer cholesterinreicher Lipoproteine in der Arterienwand, steht am Beginn der Atherogenese (2). Zahlreiche klinische Studien belegen, dass eine LDL-C-Senkung mit einer Reduktion atherosklerotischer Ereignisse sowie mit einer Stabilisierung und dem Rückgang von Plaques einhergeht (2–4). Die Abnahme atherosklerotischer Ereignisse korreliert direkt mit der Senkung des LDL-C-Spiegels (4). Trotz verfügbaren effektiven Cholesterinsenkern zeigen Registerdaten, dass das Potenzial der Cholesterinreduktion häufig nicht ausgenutzt wird. So fand die NOR-COR-Studie nach einem akuten Myokardinfarkt bei Kontrollen nach 2 bis 36 Monaten in 57 Prozent der Fälle einen LDLC-Wert > 1,8 mmol/l, in 22 Prozent > 2,5 mmol/l und in 10 Prozent gar > 3,0 mmol/l (5). Auch die EUROASPIRE-V-Studie, die 27 europäische Länder mit 130 Zentren umfasst, kommt in ihrer Übersicht zum Schluss, dass bei den meisten Patienten 6 Monate nach Hospitalisation wegen eines Koronarereignisses das Management des LDL-C nicht optimal ist. Da aber einige Zentren auffallend gut eingestellte Patienten vorwiesen, scheinen Verbesserungen sehr wohl möglich (6). Auch Schweizer Daten aus dem Projekt FIRE zeigen, dass nur 36 Prozent der Patienten mit sehr hohem und 56 Prozent mit hohem Risiko die LDL-Zielwerte erreichten, wobei die Mehrheit kein stark wirksames Statin einnahm (7). Klinische Studien und Metaanalysen hatten gezeigt, dass mit Cholesterintherapien das Risiko atherosklerotischer Ereignisse umso stärker abnimmt, je tiefere LDL-C-Werte erreicht werden («the lower – the better»). Es fand sich bisher auch kein LDL-C-Wert, unterhalb welchem das kardiovaskuläre Risiko nicht noch weiter zurückging; ebenso wurden bei sehr tiefen LDL-C-Werten keine nachteiligen Effekte beobachtet (3, 4). In der Folge haben Fachgesellschaften in den letzten Jahren weltweit die Empfehlungen für LDL-C-Zielwerte reduziert. So rät die
ESC seit 2019 für Patienten mit hohem Risiko zu einem LDL-C-Zielwert < 1,8 mmol/l und einer LDL-C-Reduktion ≥ 50 Prozent. Bei sehr hohem Risiko, vor allem bei bestehender ASCVD, lauten die entsprechenden Werte < 1,4 mmol/l und ebenfalls ≥ 50 Prozent. Bei Patienten mit ASCVD und erneutem kardiovaskulärem Ereignis innert zwei Jahren soll das LDL-C auf < 1,0 mmol/l reduziert werden (8). Mit den heute verfügbaren Cholesterinsenkern sind auch diese ambitionierten Ziele in vielen Fällen erreichbar. Die Basis bilden nach wie vor die gut wirksamen und kostengünstigen Statine. Stark wirksame Substanzen wie Rosuvastatin, Atorvastatin oder Pitavastatin erreichen LDL-C-Reduktionen von rund 50 Prozent (8). Statine werden in der Regel gut vertragen. Allerdings klagen gemäss Beobachtungsstudien und Registern 7 bis 29 Prozent der Statinpatienten über Muskelschmerzen (9). Diese sind oft mild und vorrübergehend. Sie können durch Dosisreduktionen, Wechsel auf ein anderes Statin oder Kombination mit Ezetimib, Bempedoinsäure oder mit einem PCSK9-Hemmer beseitigt werden. Schwere statinassoziierte Myopathien mit ausgeprägten CK-Erhöhungen sind selten. Das Diabetesrisiko steigt bei Statineinnahme im Durchschnitt um 9 Prozent, dennoch nehmen kardiovaskuläre Ereignisse um 25 Prozent ab (10). Ezetimib ist als Cholesterin-Resorptionshemmer ein idealer, synergistischer Kombinationspartner für die synthesehemmenden Statine. Zur Vergütung ist es gemäss Spezialitätenliste erst zugelassen, wenn Patienten mit hohem oder sehr hohem Risiko mit Statinen die Zielwerte nicht erreichen oder eine Statinintoleranz vorliegt (11). Ezetimib senkt das LDL-C um 15 bis 20 Prozent und ist ausgezeichnet verträglich (12). Bei Patienten mit hohem oder sehr hohem Risiko kommen weiter – wie im voranstehenden Artikel dargestellt – Bempedoinsäure und PCSK9Hemmer zum Einsatz. Bempedoinsäure reduziert das LDL-C um zirka 20 Prozent (13), die PCSK9-Hemmer, die monoklonalen Antikörper Evolocumab und Alirocumab, um ca. 60 Prozent (8), der PCSK9-Synthesehemmer Inclisiran um ca. 45 Prozent (14). Diese Reduktionen werden in der Regel zusätzlich zu den Wirkungen von Statinen und Ezetimib erzielt. Für die Kassenvergütung gelten Limitationen der SL, die einschränkender sind als die Empfehlungen der ESC (11, 15). Die AGLA hat vor allem aus praktischen Gründen in ihren Empfehlungen die Limitationen der SL mitberücksichtigt (16). Konklusion: ■ Der Prävention der Atherosklerose kommt aufgrund der nach wie vor hohen Morbidität und Mortalität grosse klinische und gesellschaftliche Bedeutung zu. ■ Das Potenzial der Cholesterintherapie, die atherosklerotische kardiovaskuläre Ereignisse verhindern und das Fortschreiten der Krankheit hemmen kann, wird – gemessen an den Empfehlungen der Fachgesellschaften – oft nicht ausgeschöpft. ■ Mit den heute verfügbaren Medikamenten, deren Basis kostengünstige, hochwirksame Statine bilden, ergänzt durch Ezetimib, Bempedoinsäure und PCSK9-Hemmer, lassen sich auch ambitionierte LDL-C-Zielwerte bei vielen Patienten mit hohem oder sehr hohem Risiko erreichen. ARS MEDICI 14–16 | 2023 409 SUMMER SCHOOL Referenzen: 1. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheits- zustand/krankheiten/herz-kreislauf-erkrankungen.html 2. Ference BA et al.: Lowdensity lipoproteins cause atherosclerotic cardiovascular disease. 1. 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