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EDITORIAL
Forschung zwischen Anspruch und Hype
Kürzlich erregte mal wieder eine klinische Studie Aufsehen in der Laienpresse. «Besser als Viagra?» oder «Kisspeptin als Lust-Booster?», fragte man da oder war sich gar schon sicher: «Libido erwacht: Forscher finden Mittel gegen sexuelle Unlust». Was war passiert? Eine britische Arbeitsgruppe hatte im Rahmen einer kleinen randomisierten, plazebokontrollierten Studie (1), wie kurz zuvor bereits bei Frauen (2), nunmehr bei Männern mit sexueller Appetenzstörung (hypoactive sexual desire disorder, HSDD) gezeigt, dass das intravenös verabreichte Peptidhormon Kisspeptin die Aktivität von Hirnarealen steigert, welche mit der Verarbeitung sexueller Reize in Verbindung stehen. Den Probanden wurden dabei Videos mit romantischem beziehungsweise explizit sexuellem Inhalt präsentiert, und die Darstellung der neuronalen Aktivität erfolgte mittels funktioneller Magnetresonanztomografie, die Blutfluss und -sauerstoffgehalt in den Hirngefässen sichtbar macht. Zudem konnte bei den Männern durch die Hormongabe die physiologische (Erektion) wie auch die über verhaltensbezogene Messungen ermittelte (subjektiv berichtetes Glücksgefühl) Erregung gesteigert werden – dies offensichtlich ganz ohne Nebenwirkungen. Die Ergebnisse dieser Studien sind im Ansatz ebenso zu begrüssen wie die Tatsache, dass sexuelle Lustlosigkeit überhaupt als Leidensdruck verursachende (zumal objektiv kaum nachweisbare) gesundheitliche Störung ernst genommen wird und inzwischen Gegenstand nicht nur psychologischer wissenschaftlicher Bemühungen ist. Doch es bedarf keiner vertieften Expertise, um zu erkennen, dass der Weg bis zum pharmakologischen Einsatz von Kisspeptin, den die Autoren schon in Aussicht stellen, noch recht weit sein dürfte. Zu unspezifisch ist die Funktion des getesteten Hormons und noch gänzlich unbelegt der Zusammenhang zwischen experimen-
tell nachgewiesener Hirnaktivität beziehungsweise Erregbar-
keit und tatsächlich erlebter, umfassender und nachhaltiger
Zufriedenheit mit dem eigenen sexuellen Verlangen. Letzte-
res ist derart komplexen Regelkreisen unterworfen, dass ein
ähnlich universelles physiologisches Schaltmolekül, wie es
die PDE-5-Hemmer für die Erektion darstellen, hier kaum vor-
stellbar scheint. Woraus speist sich dann aber die allgemeine
Begeisterung, die den Anschein erweckt, man hätte ein sol-
ches gefunden?
Die internationale medizinische Forschung steht quantitativ
wie qualitativ auf hohem Niveau. Gesundheit ist eines der
höchsten Güter, und die Länder investieren dementsprechend
viel in Life Sciences. Zwar wird die Richtung, in welche die An-
strengungen und die Gelder bisweilen laufen, grundsätzlich
von unterschiedlichen Interessen bestimmt, die nicht immer
so transparent sind, wie es wünschenswert wäre. Aber am
Beispiel der Coronapandemie und der im Eiltempo entwickel-
ten COVID-19-Impfstoffe und -Medikamente wurde einmal
mehr deutlich, wie flexibel, zielgerichtet, konzertiert und ra-
sant die wissenschaftliche Medizin arbeiten kann, wenn es
darauf ankommt. Die Zeiten, in denen solche Fortschritte in
der Öffentlichkeit lediglich Hoffnungen geweckt haben, sind
jedoch längst passé. Inzwischen, auch das hat Corona gezeigt,
werden wissenschaftliche Ergebnisse in nützlicher Frist er-
wartet, ja geradezu vorausgesetzt und, wenn sie dann kom-
men, kaum noch gebührend gewürdigt. Insbesondere in rei-
chen Ländern ist eine Anspruchshaltung gewachsen, die über
den nachvollziehbarenWunsch nach Bekämpfung von Krank-
heit weit hinausgeht.
Für jegliche Befindlichkeit, so scheint es, besteht mittlerweile
ein Begehr nach entsprechendem Balsam, was die Industrie,
nicht nur die pharmazeutische, mit unzähligen Präparaten
und Nahrungsergänzungsmitteln nur allzu gern bedient wie
zugleich befördert. Auch Kisspeptin ist längst als Supplement
für jedermann ohne Rezept erhältlich. Ganz oben auf der
Agenda stehen, für fast alle Altersgruppen, Lifestyle, Jugend-
lichkeit, Körperkult und mithin eine erfüllte Sexualität. Das
allein ist nicht unbedingt ein Problem – dass Forschung offen-
bar dann am meisten Interesse weckt, wenn sie diesbezüglich
Verheissungen macht, und Forscher womöglich selbst schon
glauben, nur so ihr Dasein rechtfertigen zu können, schon
eher. Denn auch für den Ozean der Wissenschaft gilt: Es be-
darf der Gesamtheit aller Muscheln, damit sich die seltenen
Perlen herausbilden können.
s
Ralf Behrens
1. Mills EG et al.: Effects of Kisspeptin on Sexual Brain Processing and Penile Tumescence in Men With Hypoactive Sexual Desire Disorder: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open. 2023;6(2):e2254313.
2. Thurston L et al.: Effects of Kisspeptin Administration in Women With Hypoactive Sexual Desire Disorder: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open. 2022;5(10):e2236131.
ARS MEDICI 5 | 2023
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