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Titel
Psychiatrie – Die zurzeit sehr unüberschaubare Lage in der Welt hat Auswirkungen auf unser Fachgebiet
Untertitel
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Psychiatrie St. Gallen
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Rückblick 2022 / Ausblick 2023
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62651
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RÜCKBLICK 2022/AUSBLICK 2023

Psychiatrie
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Psychiatrie St. Gallen
Die zurzeit sehr unüberschaubare Lage in der Welt hat Auswirkungen auf unser Fachgebiet
Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr besonders gefreut?
Für mich war das wichtigste Ereignis im Jahr 2022 der Rückgang der Intensität der SARS-CoV-2-Pandemie mit der allmählichen Rückkehr zur Normalität im privaten wie im beruflichen Bereich.
Und worüber haben Sie sich geärgert?
Von Ärger kann man im Prinzip nicht sprechen. Ich empfinde mehr Betroffenheit, hauptsächlich angesichts des Krieges in der Ukraine, aber auch des Klimathemas, das meines Erachtens zu einer weiteren Spaltung in unserer Gesellschaft führt, von der besonders die Jugendlichen betroffen sind. Betroffen machen mich in diesem Zusammenhang die zunehmende Unsicherheit und Orientierungslosigkeit vor allem der jüngeren Menschen aufgrund der zurzeit sehr unüberschaubaren Lage in der Welt, zu der die Themen Pandemie, Klima und Ukrainekrieg wesentlich beitragen. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf unser Fachgebiet und spiegelt sich unter anderem in einer Zunahme von Depressionen und Suizidalität, insbesondere im Kinder- und Jugendbereich, wider.
Seit wann besuchen Sie Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen wieder vor Ort, und wie haben Sie sich zu Beginn dabei gefühlt?
Ich habe bereits in der ersten Jahreshälfte 2022 wieder Tagungen und Kongresse vor Ort besucht, auch als Referent. Aufgrund der Impfungen und der Sicherheitsmassnahmen (Maskenpflicht noch zu Beginn) habe ich mich relativ sicher gefühlt. In der zweiten Jahreshälfte war dann bereits fast wieder eine Rückkehr zur Normalität zu verzeichnen. Als die Zahlen der Omikroninfektionen noch hoch waren und viele Menschen sich in engen Räumen befanden, habe ich manchmal den Raum verlassen, da ich mich nicht sicher fühlte.
Oder bevorzugen Sie mittlerweile Onlineveranstaltungen?
Die SARS-CoV-2-Pandemie hat sicher dazu beigetragen, dass im Bereich der Onlinekommunikation grosse Fortschritte er-

zielt wurden. Dies betrifft nicht nur Kongresse, sondern auch Sitzungen, die dadurch mit mehr zeitlicher Effizienz durchgeführt werden konnten, da Reisen wegfielen. Dieser Punkt der zeitlichen Effizienz trifft ebenso für Onlineveranstaltungen zu, an denen somit bequem vom Büro oder von zu Hause aus teilgenommen werden konnte. Ich nutze zum Beispiel die Möglichkeit, punktuell und themenbezogen Onlineveranstaltungen aus Übersee von internationalen Tagungen zu verfolgen. Dies war früher nur mit einem Besuch des ganzen Kongresses und mit einer grösseren Reise und längerer Abwesenheit möglich. Der Nachteil der Onlineveranstaltungen ist jedoch, dass die persönlichen Begegnungen mit anderen Kollegen am Rande der Tagung, die ich ebenfalls als sehr wertvoll erachte, wegfallen. Zudem kommen bei Onlineveranstaltungen selten Diskussionen über die Thematik auf; die Diskussion beschränkt sich meist auf die Beantwortung einzelner Fragen zu den Vorträgen. Daher bevorzuge ich Präsenzveranstaltungen, schätze es aber ebenso, das Onlineangebot nutzen zu können.
Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres waren für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Die Jahresrückblicke zum Thema «Psychiatrie und Psychotherapie» in der Zeitschrift ARS MEDICI waren in den letzten beiden Jahren schwerpunktmässig von der SARS-CoV-2-Pandemie bestimmt. Anfang des Jahres 2022 trat nun nach und nach die ersehnte persönliche sowie gesellschaftliche Normalität ein. Die Mutation des Coronavirus sowie die sich entwickelnde Resistenz der Bevölkerung durch Impfung und durch Ansteckungen mit dem Resultat von weniger schweren Verläufen und damit einer verringerten Belastung des Gesundheitssystems hatten den Wegfall der Test- und Maskenpflicht sowie weiterer einschränkender Massnahmen zur Folge, wenngleich in Spitälern und Altersheimen weiterhin Sicherheitsmassnahmen vorhanden waren und sind. Patienten mit psychischen Erkrankungen konnten somit im Jahr 2022 weitgehend wieder so behandelt werden wie vor der Pandemie, und das sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Die Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie waren jedoch im Jahr 2022 noch spürbar. Hier sind die zunehmende Zahl an Depressionen und Anpassungsstörungen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, zu nennen, wodurch der Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei bereits bestehendem grossen Personalmangel zusätzlich belastet wurde. Insbesondere bei Mädchen kam es zu einer Zunahme von Depressionen, die stationär behandelt werden mussten, sowie zu einer Zunahme von Suizidalität (1).
Mediensucht Ein weiteres Thema in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, welches bereits vor der Pandemie bestand und – wie sich nun zeigt – durch die Pandemie vermutlich intensiviert wurde, ist die Mediensucht. In der Schweiz betrifft das zirka 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung. Wesentlich ist das Erkennen

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einer Medienstörung. Dies erfordert eine exakte Anamnese, die das Medienverhalten abfragt. Zusätzlich stehen standardisierte Interviews sowie Fragebögen zur Verfügung. Wichtig ist eine möglichst exakte und objektive Erfassung des Medienverhaltens. Die Diagnose ergibt sich aus den Kriterien für die Internet Gaming Disorder nach DSM-5 oder ICD-11. Die Störung hat Suchtcharakter, und die Patienten bewegen sich in einer Parallelwelt, die sich zunehmend zu einer depressiven Nebenwelt entwickelt. Äussere Kennzeichen sind nachlassende Schulleistungen und/oder körperliche und soziale Probleme. Die Therapie umfasst je nach Schweregrad der Erkrankung die ärztliche Beratung, die Nutzung der Angebote der Drogen- und Erziehungsberatungsstellen sowie eine stationäre Behandlung, die bei schweren chronischen Formen mit weitgehendem Verlust des Kontakts zur Aussenwelt zugunsten der sozialen Medien notwendig ist (2). Die Kinderund Jugendpsychiatrie hat sich in den letzten Jahren zunehmend um dieses Thema gekümmert und spezifische Behandlungsangebote entwickelt. Bei Vorliegen eines Verdachts auf eine pathologische Mediennutzung sollte daher der Kontakt zu einer Fachstelle zur weiteren Abklärung und Therapie hergestellt werden (3).
Long-COVID-Syndrom – psychische Symptomatik Ein weiteres Thema, das sich erst aus der SARS-CoV-2-Pandemie ergab und das Fachgebiet der Psychiatrie im Jahr 2022 zunehmend beschäftigt hat, ist das Long-COVID-Syndrom, das sowohl somatische als auch psychische Symptome umfasst. Zu diesem Thema sei speziell auf den Jahresrückblick 2021 in ARS MEDICI 1+2/22 (Wormstall und Hemmeter) sowie die AWMF-S1-Leitlinie «Long COVID» verwiesen (4). Viele dieser Patienten befinden sich in hausärztlicher Behandlung, zunehmend werden sie aber in psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen und Ambulatorien vorstellig oder dorthin überwiesen. Die Gründe hierfür sind vor allem die persistierenden Symptome Fatigue, kognitive Störungen (brain fog) sowie Schmerzen mit der möglichen Entwicklung von Depressionen. Dies zeigen die Ergebnisse einer Metaanalyse zu neurologischen Post-COVID-Symptomen, welche 19 Studien mit 22 815 Patienten umfasste. Es wurden 3 Monate nach akuter COVID-19-Erkrankung bei 44 Prozent der Teilnehmenden Fatigue, bei 35 Prozent Konzentrationsstörungen (brain fog), bei 30 Prozent Schlafstörungen und bei 29 Prozent Gedächtnisprobleme gefunden (5). Eine weitere Metaanalyse von Kohortenstudien offenbarte eine Häufigkeit von anhaltenden Kopfschmerzen bei 44 Prozent und von Gliederschmerzen bei 19 Prozent nach akuter COVID-19 (6). All diese Symptome sind unspezifisch und können bei einer Vielzahl von anderen Erkrankungen auftreten und daher eine exakte Diagnostik und Differenzialdiagnostik (Schmerz, Neuropsychologie, Psychopathologie) erfordern. Hinweise auf ein Long-COVID-Syndrom ergeben sich aus dem Auftreten der Symptome nach einer Coronavirusinfektion, die mehr als 4 Wochen nach Beginn der Erkrankung an COVID-19 fortbestehen oder neu beginnen und sich nicht anders erklären lassen.

Mittlerweile wurde der Pathomechanismus des Coronavirus weiter aufgeklärt, und es wurden Erkenntnisse und daraus abgeleitete Hypothesen für Long COVID gewonnen. So wurden durch Gewebeschädigungen bedingte, fokale und diffuse, direkte und indirekte Veränderungen des Metabolismus in verbundenen Hirngebieten als Ursachen für kognitive Leistungsminderungen beim Post-COVID-Syndrom in Studien nahegelegt (u. a. [7, 8]). Für die Fatigue ist akzeptiert, dass sowohl eine Vielfalt an COVID-19-bedingten Organschädigungen (z. B. in Lunge, Herz, Hirn, peripherem Nervensystem) als auch psychische Kormorbiditäten in individuell unterschiedlichen Kombinationen auftreten und für die Entstehung von Fatigue bedeutsam sein können. Bei den meisten Betroffenen nach milder/moderater COVID-19-Erkrankung gibt es jedoch keine Hinweise für Organschädigungen. Kognitive Störungen wurden beim Long-/Post-COVID-Syndrom mit Hirnstrukturschädigungen im parahippocampalen und orbitofrontalen Kortex sowie mit einer leichten globalen Hirnsubstanzminderung in Zusammenhang gebracht (8). Auch ist es so, dass Hirnfunktionsstörungen sowie kognitive Störungen als «Netzwerkstörungen» des Gehirns zu betrachten sind; entsprechend kann bei Long/Post COVID ein regional verminderter Hirnstoffwechsel beobachtet werden. Besonders vom Hypometabolismus beim neurologischen PostCOVID-Syndrom betroffen sind frontobasale paramediane Regionen, der Hirnstamm und das Kleinhirn (9). Diese Befunde können zumindest zum Teil die psychischen Symptome, insbesondere die kognitiven Störungen, erklären. Klare Biomarker für diese psychischen Symptome bei SARS-CoV-2Infektion fehlen jedoch weiterhin. Die vorgeschlagenen Therapiemassnahmen für die hier angesprochenen Symptome sind unspezifisch. Ziele der Therapie sollten eine Symptomlinderung sowie die Vermeidung einer Chronifizierung sein. Dazu gehören Förderung des Schlafs, Schmerztherapie, Kreislaufsupport, Massnahmen zur Stressreduktion und Entspannung, Stärkung von persönlichen Ressourcen, Unterstützung eines adäquaten Coping-Verhaltens (z. B. weder Überforderung noch inadäquate Vermeidung von Aktivitäten) sowie geeignete Hilfsmittel und sozialmedizinische Massnahmen. Je nach individueller Symptomatik (körperlich, kognitiv und/oder emotional) kommen, unterschiedlich gewichtet, zusätzlich eine kontrollierte Anleitung zu körperlicher Aktivität beziehungsweise dosiertem körperlichen Training, ein Training der kognitiven Leistungsfähigkeit und/oder eine psychotherapeutische beziehungsweise psychopharmakologische Behandlung zum Einsatz. Eine ergotherapeutische Unterstützung kann überlegt werden. Körperlicher Überbeanspruchung mit möglicher nachfolgender Symptomverschlechterung sollte durch wohldosierte, gegebenenfalls durch Supervision begleitete körperliche Aktivität oder körperliches Training und individuell angemessenes Energiemanagement (pacing) vorgebeugt werden. Ausführliche Empfehlungen zur körperlichen Aktivität bei Post/Long COVID und zum Pacing sind zum Beispiel beim DVGS zu finden (10). Sollten sich ambulante Massnahmen

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als nicht ausreichend erweisen, kann über eine (teil-)stationäre Behandlung mit dem individuell angezeigten, indikationsspezifischen Behandlungsschwerpunkt nachgedacht werden (4). Aufgrund der Komplexität des Long-COVID-Syndroms und der daraus folgenden Interdisziplinarität haben sich an vielen Schwerpunktkliniken interdisziplinäre Sprechstunden für Long COVID entwickelt, an denen Psychiater und Psychosomatiker beteiligt sind.
TARMED/TARDOC und ICD-11 Neben den Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie im vergangenen Jahr waren die Einführung des Anordnungsmodells für die psychologische Psychotherapie (siehe unten), die Tarife (v. a. ambulante Tarife/TARDOC) sowie die Einführung der ICD-11 wichtige Themen, die das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie beschäftigten. Ein Thema, das nicht nur die Psychiater betrifft, ist die Revision des veralteten ambulanten TARMED. Das von der FMH zusammen mit Curafutura und der Medizinaltarifkommission der Unfallversicherer (MTK) entwickelte System TARDOC, das auch Fortschritte für die Leistungen der Psychiatrie bedeutet, wurde bisher vom Bundesrat nicht bewilligt, da dieser ein System erwartet, das von allen Tarifpartnern getragen wird. Es ist mittlerweile durch die Annahme des Kostendämpfungspakets 1b klar, dass die von H+ (Spitäler der Schweiz) favorisierten und in geringem Umfang bereits entwickelten ambulanten Pauschalen in das neue Arzttarifsystem integriert werden sollen. Diese scheinen derzeit jedoch noch nicht die Psychiatrie zu betreffen, sodass für die Psychiatrie im Wesentlichen von einem Fortbestehen des Einzelleistungstarifs ausgegangen werden kann. Die im November 2022 gegründete Organisation ambulante Arzttarife AG (OAAT) soll nun die Plattform für die definitive Ausgestaltung des neuen Arzttarifsystems bieten. Auf die weitere Entwicklung kann man gespannt sein (11). Seit dem 1. Januar 2022 ist die ICD-11 in Kraft, welche die seit 28 Jahren verwendete ICD-10 ablösen soll. Es ist jedoch – laut Schweizer Bundesamt für Statistik (BfS) – mit einer mehrjährigen Übergangsphase zu rechnen. Die ICD-11 liegt Browser- und Cloud-basiert als Onlineplattform vor, vollständig jedoch bis anhin nur in der englischsprachigen Version. Derzeit arbeitet das Deutsche Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zusammen mit dem BfS an einer Übersetzung, die zu rund 60 Prozent vorangeschritten ist (12). Im Vergleich zur ICD-10 hat es bei den psychischen Erkrankungen einige Änderungen gegeben. Im Kapitel 06 der ICD-11 sind die psychischen Erkrankungen (mental disorders) beschrieben. Das Kapitel lehnt sich eng an das DSM-5 an, die Klassifikation der American Psychiatric Association (APA). Die starren diagnostischen Kategorien werden aufgeweicht (kein Zählen von Symptomen), die künstlichen Komorbiditäten (mehrere Diagnosen, wenn die Symptome in Wirklichkeit alle zur selben Krankheit gehören) sollen verringert werden, und die Trennung in Lebensaltersabschnitte wurde aufgehoben. Der grösste Unterschied zur ICD-11 zeigt

sich beim Kapitel «Persönlichkeitsstörung». Dieser Abschnitt wurde vollständig überarbeitet. Es gibt jetzt nur noch eine einzige Diagnose, und zwar «Persönlichkeitsstörung», da festgestellt wurde, dass es in der klinischen Praxis viele Überschneidungen zwischen den in der ICD-10 beschriebenen Persönlichkeitsstörungen mit somit fraglicher Validität und Reliabilität gibt. Diese Diagnose wird als leicht, mittelschwer oder schwer (Dimensionalität) bezeichnet und anhand von 6 Merkmalsbereichen (negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Anankasmus, Borderline-Muster) gemessen, um einen Teil der früheren Spezifität der Diagnose beizubehalten. Neu im Kapitel 06 aufgenommene DiagnosensindunteranderemdieAufmerksamkeitsdefizitstörung, die nun – ebenso wie die Trennungsangst – auch für das Erwachsenenalter kodiert werden kann, die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die zwanghafte Sexualverhaltensstörung, die anhaltende Trauerstörung sowie die Spielstörung (gaming disorder). Die Katatonie, die in der ICD-10 als Subtyp der Schizophrenie sowie als organische Störung aufgeführt wurde, erfährt in der ICD-11 eine neue diagnostische Eingruppierung, da das Syndrom der Katatonie in Verbindung mit einer Vielzahl von psychischen Störungen auftreten kann. Demenz und Delir werden nun analog zum DSM-5 als Diagnosen in der Kategorie «Neurokognitive Störungen» beschrieben, das Konzept der organischen psychischen Erkrankungen wurde verlassen. Ein grosser Vorteil der ICD-11 gegenüber der ICD-10 ist, dass die behavioralen und psychischen Symptome der Demenz (BPSD), die für die Angehörigen und Pflegenden sehr belastend sein können und zu einem hohen Betreuungsaufwand führen, separat unter der Kategorie 6d86 beschrieben werden (12, 13). Dadurch könnte eine bessere Grundlage für eine leistungsbezogene, adäquate Tarifierung gegeben sein.
Neue Medikamente und Entwicklungen Das im Jahr 2021 in den USA für die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung zugelassene Medikament Aducanumab, das direkt in den pathophysiologischen Prozess der Alzheimer-Erkrankung eingreift und somit eine ursächliche Behandlung darstellen könnte, hat zunächst grosse Hoffnungen geweckt, aber auch zu breiten Diskussionen geführt. Nachdem in Europa der Zulassungsantrag abgelehnt worden war, wurde in der Schweiz im Jahr 2022 der Antrag auf Zulassung zurückgezogen. Hierfür verantwortlich sind neben der nicht eindeutigen Wirksamkeit auf die klinische Symptomatik und den Verlauf der Alzheimer-Demenz die potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen sowie ein intensives und aufwendiges Therapiemonitoring, das zu hohen Kosten führt (14). Auch die gerade publizierten Resultate einer weiteren Antikörpertherapie gegen β-Amyloid-(1-42) (Gantenerumab [Roche]) waren negativ, wohingegen eine weitere Antikörpertherapie mit Lecanemab (Eisai) eine gewisse klinische Wirkung in Bezug auf eine Abschwächung der Progredienz der Erkrankung zeigt. Die Ergebnisse der sich noch in der klinischen Erprobung befindenden Substanz Donanemab (Eli Lilly) werden in Kürze mit Spannung erwartet (15). Von verschie-

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Tabelle:
Immuntherapie bei M. Alzheimer: aktuell laufende Arzneimittelstudien (2022) mit Ergebnissen in naher Zukunft (aus [15])

Wirkstoff (Hersteller) Gantenerumab (Roche) Lecanemab (Eisai) Blarcamesinhydrochlorid (Anavex) Donanemab (Eli Lilly)

Ereignis 2 Phase-III-Studien, Ergebnisse November 2022 Phase-III-Studie, Ergebnisse 4. Quartal 2022 Phase-III-Studie, Ergebnisse 4. Quartal 2022 Phase-III-Studie, Ergebnisse 2. Quartal 2023

Studienumfang 1966 Patienten*
1906 Patienten
509 Patienten
1800 Patienten

*Gesamtzahl der Probanden aus den Studien GRADUATE-I (n=985) und GRADUATE-II (n=981) Quelle: GlobalData

Studiendauer 116 Wochen
78 Wochen
48 Wochen
76 Wochen

Target β-Amyloid
β-Amyloid
σ1-Rezeptor
β-Amyloid

denen Firmen sind weitere Substanzen, die ebenfalls in die Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz und an den TauAggregaten eingreifen, in bereits fortgeschrittener Entwicklung (16). Im Jahr 2022 wurde mit Daridorexant (Quviq®) ein neues Schlafmittel zugelassen, das einen – im Vergleich zu den bis anhin verfügbaren Hypnotika – völlig neuen Wirkmechanismus besitzt, indem es antagonistisch am Orexinrezeptorsystem angreift. Es fördert das Ein- und Durchschlafen und verbessert die Schlafarchitektur sowie die Tagesaktivität im Plazebovergleich. Entsprechend den vorliegenden Informationen zeigt Daridorexant ein gutes Sicherheitsprofil. Im Gegensatz zu Benzodiazepinen und Z-Substanzen soll es nicht zu einer Abhängigkeit oder Missbrauch führen und kann daher auch langfristig eingenommen werden. Ein Reboundeffekt nach Absetzen wurde nicht beobachtet. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Schläfrigkeit (2–3% der Probanden vs. 2% in der Plazebogruppe) und Kopfschmerzen. Vor allem in den ersten Behandlungswochen können sogenannte hypnagogische Halluzinationen auftreten. Kontraindiziert ist Daridorexant bei Narkolepsie und bei gleichzeitiger Einnahme starker Cytochrom-P450-3A4-(CYP3A4-)Inhibitoren. Alkohol sollte während der Behandlung nur mit Vorsicht konsumiert werden. Vorsicht ist auch beim Einsatz bei Patienten mit psychiatrischen Komorbiditäten inklusive Depressionen angemahnt. Es gibt keine Altersbeschränkung; etwa 40 Prozent der Studienteilnehmenden waren über 65 Jahre alt, sodass die Substanz in dieser Altersgruppe, die ja häufig von Schlafstörungen betroffen ist, angewendet werden kann (17, 18). Bei den im letzten Jahr angesprochenen schnell wirksamen Antidepressiva (rapid acting antidepressants, RAAD) ist noch keine neue Zulassung in Sicht. In der Schweiz wird am Einsatz von Psychedelika weiter geforscht, die ebenfalls als RAAD betrachtet werden können. Insbesondere Psilocybin wird in grösseren Studien, unter anderem an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, bei Vorliegen von Therapieresistenz bei Depression intensiv beforscht (19).

Welche davon könnten Diagnose und Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Von den erwähnten Themen sind vor allem die psychischen Auswirkungen bei Long COVID, die ICD-11 und das neue Hypnotikum Daridorexant Bereiche, die die Hausärzte und die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Psychiatern betreffen. Hier, hauptsächlich bei der Behandlung von Patienten mit Long COVID, ist eine enge Zusammenarbeit im Sinne einer interdisziplinären Behandlung von grosser Relevanz und von grossem Nutzen für die Patienten. Ein weiteres Thema, das im Jahr 2022 die Psychiater und Psychotherapeuten beschäftigt hat und für Hausärzte gerade in der Zusammenarbeit mit Psychiatrien nun sehr relevant ist, ist das am 1. Juli 2022 eingeführte Anordnungsmodell für psychologische Psychotherapie (20). Es löste nach Ablauf der Übergangsfrist das zuvor gültige Delegationsmodell im Rahmen des TARMED am 1. Januar 2023 ab. Seitdem arbeiten die psychologischen Psychotherapeuten selbstständig in eigener Praxis und Verantwortung, auf Anordnung eines dazu berechtigten Arztes mit eigener Tarifstruktur für die psychologische Psychotherapie. Zur Anordnung berechtigt sind Ärztinnen und Ärzte mit einem eidgenössischen oder einem anerkannten ausländischen Weiterbildungstitel in Allgemeiner Innerer Medizin, in Psychiatrie und Psychotherapie, in Kinderpsychiatrie und -psychotherapie beziehungsweise Kinderund Jugendmedizin oder mit dem interdisziplinären Schwerpunkt Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische Medizin und Psychosoziale Medizin. Diese können 30 Stunden für Psychotherapie bei psychologischen Psychotherapeuten anordnen, danach ist eine Überprüfung der weiteren Notwendigkeit der Behandlung erforderlich. In verschiedenen Arbeitsgruppen und an runden Tischen mit allen Interessengruppen konnten einige der zunächst bestehenden grossen Unklarheiten ausgeräumt werden. Es sind aber weiterhin Fragen offen. Hier ist insbesondere die Anordnung per se zu nennen; vonseiten des Fachverbands der Psychologen (FSP) wird befürchtet, dass für die Anordnung

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(und die Begutachtung nach 30 Sitzungen) zu wenig dafür

legitimierte Ärzte (Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychia-

ter) zur Verfügung stehen. Die Schweizer Gesellschaft für

Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) sowie der Dachver-

band (FMPP) und die Schweizer Vereinigung Psychiatrischer

Chefärzte (SVPC) empfehlen daher den Ambulatorien der

Kliniken, diese Aufgabe (v. a. für die Begutachtung nach 30

Sitzungen) zu übernehmen. Während für den Betrieb der in

freier Praxis tätigen psychologischen Psychotherapeuten das

meiste geregelt werden konnte, sind zu den Abläufen der

Anordnung und zu den Verantwortlichkeiten in den Institu-

tionen noch Fragen offen. Offene Fragen gibt es ausserdem

zur Weiterbildung der psychologischen Psychotherapeuten,

insbesondere zur Dauer der Weiterbildung und dazu, wo

(psychiatrische Kliniken, Praxen, Ambulatorien) diese statt-

finden soll. Dazu hat das BAG die Arbeitsgruppe «Curricu-

lum» initiiert, an der Fachvertreter der Psychologen und Psy-

chiater beteiligt sind.

Durch die Einführung des Anordnungsmodells für die Leis-

tungen der psychologischen Psychotherapeuten wurde ein

gesondertes Tarifsystem entwickelt, mit dem die bisher in

TARMED, über den seit dem 1. Januar 2023 nicht mehr ab-

gerechnet werden kann, integrierte delegierte Psychotherapie

abgelöst wird. Um diese fundamentalen Neuerungen gut um-

setzen zu können, wird ein enger Austausch zwischen Psych-

iatern, Psychologen und Hausärzten notwendig sein.

Neben dieser konkreten Thematik und der notwendigen fach-

übergreifenden Zusammenarbeit bei den Long-COVID-

Patienten sind die aktuellen psychosozialen Belastungen

durch den Ukrainekrieg und die damit verbundene Inflation,

die Klimakrise sowie weitere existenzielle Unsicherheiten Pro-

blembereiche, die zu einer Zunahme psychischer Erkrankun-

gen führen können. Dieser Entwicklung muss durch eine

schnelle und transparente Bearbeitung der Ängste, die gerade

von Psychiatern und Psychotherapeuten geleistet werden

kann, entgegengewirkt werden. Bei der Bewältigung all dieser

Anforderungen und Fragen ist eine gute und enge Zusammen-

arbeit zwischen Psychiatern und Hausärzten zum Wohl aller

Patienten notwendig.

s

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Frauen so stark unter der Pandemie leiden. NZZ, 12.12.2022; https://www. nzz.ch/schweiz/starker-anstieg-von-hospitalisationen-bei-jungen-frauen-mit-psychischen-stoerungen-ld.1716606?reduced=true. 2. Gentile DA, Bailey K, Bavelier D et al.: Internet gaming disorder in children and adolescents. Pediatrics. 2017;140(Suppl 2):S81-S85.

3. Bilke-Hentsch O: Mediensucht früh erkennen. psyCHiatrie – Das Magazin der SGPP und SGKJPP, Nr. 2, Dezember 2022, S. 4-5.
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15. Newton W: Alzheimer’s disease: major drug trial results to watch in 2022 and beyond. Clinical Trials Arena, Features, September 21, 2022; https:// www.clinicaltrialsarena.com/features/ alzheimers-disease-clinical-trials/.
16. Frölich L, Hausner L: Krankheitsmodifizierende Therapieansätze bei Alzheimer-Krankheit. Der Nervenarzt. 2021;92:1239-1248.
17. Mignot E, Mayleben D, Fietze I et al.: Safety and efficacy of daridorexant in patients with insomnia disorder: results from two multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trials. Lancet Neurol. 2022;21(2):125-139.
18. Hüttemann D: Daridorexant: Schlafmittel mit neuem Wirkmechanismus zugelassen. Pharmazeutische Zeitung, 6.5.2022; https://www.pharmazeutische-zeitung.de/schlafmittel-mit-neuemwirkmechanismus-zugelassen-132983/.
19. Gass P, Vasilescu AN, Inta D: Schnell wirksame Antidepressiva – neurobiologische Wirkprinzipien. Der Nervenarzt. 2022;93(3):223-233.
20. Bundesamt für Gesundheit (BAG): Neuregelung der psychologischen Psychotherapie ab 1. Juli 2022; https://www.bag.admin.ch/bag/de/ home/versicherungen/krankenversicherung/ krankenversicherung-leistungen-tarife/Nicht-aerztliche-Leistungen/ neuregelung-der-psychologischen-psychotherapie-ab-1-juli-2022.html.

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