Transkript
RÜCKBLICK 2022/AUSBLICK 2023
Rheumatologie
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth Stv. Chefarzt Reha Rheinfelden Rheinfelden
Die Therapie wird zunehmend individualisierter, Grenzen zwischen den Fachbereichen verschwimmen
Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr besonders gefreut?
Hier waren für mich 2 Dinge im letzten Jahr bemerkenswert: s Das Wissen um die COVID-19-Erkrankung nimmt auf-
gund einer Vielzahl von Studien rapid zu. Mittlerweile können wir die Wirkung der Impfung und deren Wechselwirkung mit verschiedenen Medikamenten sehr gut abschätzen. Diese verbesserte Evidenz gibt Sicherheit, reduziert Ängste und ermöglicht eine differenziertere Betrachtung in verschiedenen individuellen Situationen. s Auch bei seltenen Erkrankungen wie zum Beispiel dem systemischen Lupus erythematodes (SLE) oder der ANCAassoziierten Vaskulitis (AAV) gibt es nach vielen Jahren erfolgloser Studien nun vielversprechende Therapieansätze mit zugelassenen Medikamenten, die stark betroffenen Patienten realistische Hoffnung geben. Hierbei denke ich insbesondere an Anifrolumab (Saphelno®) beim mittelschweren bis schweren SLE, aber auch an den Komplement-5a-Rezeptor-Antagonisten Avacopan (Tavneos®) bei der AAV.
Und worüber haben Sie sich geärgert?
Im Bereich der stationären Versorgung wurde per 1. Januar 2022 ST Reha, die stationäre Tarifstruktur für die Rehabilitation, eingeführt. Diese hat in unserer Klinik extrem viele Ressourcen auf allen Ebenen verbraucht und stand zu oft im Fokus der täglichen Arbeit. Durch diese Verschiebung blieb deutlich weniger Zeit für die Arzt-Patienten-Beziehung, die jedoch im Mittelpunkt des ärztlichen Handelns stehen sollte.
Seit wann besuchen Sie Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen wieder vor Ort, und wie haben Sie sich zu Beginn dabei gefühlt?
Im gesamten Jahr habe ich regelmässig Präsenzveranstaltungen persönlich besucht und mich sehr über die persönlichen Kontakte und den Austausch gefreut. Ein wenig Unsicherheit herrscht immer noch bei der Begrüssung. Das direkte Händeschütteln ist immer noch ungewohnt.
Oder bevorzugen Sie mittlerweile Onlineveranstaltungen?
Dankbar bin ich für das oft verfügbare duale Angebot. Ich benutze den virtuellen Zugang häufig bei internationalen Kongressen, um Reisezeit zu sparen.
Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres waren für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Die Therapie wird zunehmend individualisierter, Grenzen zwischen den Fachbereichen verschwimmen. Hier denke ich zum Beispiel an das «Asthmamittel» Mepolizumab (Nucala®), welches mittlerweile für die rheumatologische Indikation eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA), aber auch für die eigentliche hämatologische Erkrankung, das Hypereosinophiliesyndrom (HES), zugelassen ist. Bei beiden seltenen Entitäten hat es exzellente Ergebnisse gezeigt. Noch nicht direkt in der Rheumatologie angekommen, aber sicherlich extrem vielversprechend und aussichtsreich ist die siRNATherapie, für deren Erforschung es unter anderem 2006 den Nobelpreis gab. Hiermit können wir gezielt auf genetischer Ebene die Proteinbildung beeinflussen und kausal genetische Erkrankungen wie zum Beispiel die hereditäre Transthyretinamyloidose, die akute intermittierende Porphyrie und die primäre Hyperoxalurie behandeln. Neben den derzeit etablierten Antikörpertherapien, bei denen bereits vielfach der Patentschutz abläuft und Biosimilars auf den Markt kommen, erleben wir durch diese neue Technologie, wie wir bislang als unheilbar eingestufte Erkrankungen therapieren können. Damit sind ehemalige Zukunftsvisionen in der Realität angekommen, und wir haben das Glück, diese Entwicklung und den Fortschritt der Medizin begleiten zu dürfen.
Welche davon könnten Diagnose und Therapie in
der Hausarztpraxis künftig verändern?
Im Bereich der rheumatoiden Arthritis gab es zunehmend
mehr gute Studien, insbesondere am diesjährigen EULAR-Kon-
gress, die die Pathogenese der Erkrankungen genauer unter-
suchten. Als gesichert gilt mittlerweile der Zusammenhang
zwischen Mikrobiom und Autoimmunität, was künftig neue
Therapieoptionen erwarten lässt (Ernährungsumstellung,
Nahrungsergänzungsmittel, Fasten usw.). Hinsichtlich der
Therapien rücken zunehmend nicht medikamentöse Therapien
sowie Bewegung und Sport in den Vordergrund, deren
Wirkung hinreichend belegt ist. Zukünftig wird sich die rheu-
matoide Arthritis nicht mehr nur mit einem Medikament
behandeln lassen. Es sind zunehmend umfassende interdiszi-
plinäre Versorgungspfade notwendig, was herausfordernd für
die Praxis und die Zusammenarbeit mit den Hausärzten, aber
auch für die Kostenträger sein wird. Weil die Therapien im-
mer differenzierter werden, insbesondere durch die Flut
neuer Medikamente, die mittlerweile nur noch von Experten
im Fachgebiet übersehen werden können, bedarf es einer
guten Abstimmung der Versorgung. Hier könnte zum Bei-
spiel der Rheumatologe in grösseren regelmässigen Abstän-
den Empfehlungen geben und die Therapie überwachen, die
weitere Durchführung und Begleitung erfolgen durch den
Hausarzt.
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