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Titel
Onkologie – Krebspatienten mit Hausarzt haben einen immensen Vorteil
Untertitel
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
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Rückblick 2022 / Ausblick 2023
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62512
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RÜCKBLICK 2022/AUSBLICK 2023

Onkologie
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
Krebspatienten mit Hausarzt haben einen immensen Vorteil
Worüber haben Sie sich im vergangenen Jahr besonders gefreut?
Wenn ich auf das vergangene Jahr zurückblicke, dann freut es mich sehr, dass die Coronaviruspandemie langsam, aber sicher zu einer Coronavirusendemie mutierte. Hoffen wir, dass das nun so bleibt. Selber geimpft und 2-fach geboostert hat es mich dann doch noch erwischt, und jetzt gehöre ich auch zu den Genesenen. Schlimm war es nicht. Ehrlich gesagt, wäre ich mit diesen Symptomen früher ziemlich gedankenlos zur Arbeit gegangen. Aber vielleicht ist ja gerade dieses Coronaerlebnis auch positiv, weil man heute mehr darüber nachdenken muss, ob man nun wirklich alle Mitmenschen mit seinem Infekt anstecken will. Was mir passierte, machten auch viele meiner onkologischen Patienten durch, teilweise solche mit recht hohem Risiko. Glücklicherweise ist die Krankheit bei diesen Patienten stets glimpflich abgelaufen. Schön ist ausserdem, dass wir uns wieder an Kongressen treffen können. Der persönliche Austausch mit Kollegen ist wichtig, was man nicht unterschätzen darf. Trotzdem war es manchmal recht bequem, seine Fortbildung von zu Hause aus online zu bewerkstelligen. Ich hoffe, dass dieses Angebot auch in Zukunft erhalten bleibt.
Und worüber haben Sie sich geärgert?
Ärgerlich finde ich, wie sehr diese Krankheit und insbesondere die Impfung politisch missbraucht wurden, bis hin zur Verbreitung von Verschwörungstheorien, und wie die Medien in letzter Zeit die Impfung schlechtreden. Es war doch schon immer klar, dass man auch als Geimpfter Corona übertragen kann, aber wegen der geringeren Symptomatik vielleicht mit geringerem «Erfolg». Wie auch immer, dies mit Studien zu belegen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Wie all diese Diskussionen die Impfbereitschaft in der Bevölkerung veränderten, ist wohl kaum zu beantworten. Wahrscheinlich sind wir heute stärker polarisiert in Impfbefürworter und Impfgegner.
Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres waren für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Da könnte man über vieles berichten. Ich picke einfach einmal zwei Medikamente heraus: Die älteren Semester unter uns, zu denen auch ich zähle, mögen sich an das Raumschiff Enter-

prise erinnern. Dieses wunderschöne Raumschiff stammt von der Erde und durchkreuzt unser Weltall etwa im Jahr 2400. Unser Kollege, der Schiffsarzt, heisst Pille und reist in einer Episode mit seiner Crew in die damalige Gegenwart der 1970er-Jahre zurück. Sie irren durch ein Spital, und Pille regt sich auf, weil er eine Patientin sieht, die auf die Dialyse wartet. Er findet das steinzeitmässig und gibt ihr ein futuristisches Medikament. Am Ende sieht man diese Frau frohlocken, weil ihr innert Stunden neue Nieren gewachsen sind. Ein bisschen erinnerte mich die 2022 erstmals am ASCO-Kongress und in der Folge im «New England Journal of Medicine» publizierte Studie zur Behandlung bei Rektumkarzinom mit Dostarlimab an diese wunderbare Zukunft. 5 bis 10 Prozent der Rektumkarzinome zeichnen sich durch einen Mismatch-Repair-Defekt aus. Sie sprechen weniger gut auf Chemotherapien, aber umso besser auf Immuntherapien an. Beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom setzen wir routinemässig recht intensive Chemotherapien und Radiotherapien ein, meistens schon vor der Operation. Nun wagte man in New York am Sloan Kettering Cancer Center eine Phase-II-Studie: Man begann eine Behandlung mit alleiniger Immuntherapie über 6 Monate (1 Infusion alle 3 Wochen). Die Verträglichkeit war recht gut, was typisch für diese Strategie ist. Das Konzept war, im Fall einer kompletten Tumorrückbildung zuzuwarten. Im Fall von Tumorresiduen hätte man eine Chemoradiotherapie durchgeführt und in einer dritten Etappe wiederum im Fall eines Resttumors die Operation. Die Patienten hatten äusserst fortgeschrittene Karzinome im Stadium T3 bis T4 und fast ausnahmslos Lymphknotenmetastasen. Tatsächlich hatten die ersten 12 Patienten alle mit der Immuntherapie allein eine komplette Remission und brauchten somit keine Chemoradiotherapie und bis anhin keine Operation. In einem Follow-up von 6 bis 25 Monaten kam es bei keinem Patienten zu einem Rezidiv. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich in all den Jahren der Onkologie, welche ich erlebt habe, jemals eine Studie derart beeindruckt hat. Ist das ein Schritt in die Richtung der Medizin von 2400? Raumschiff Enterprise lässt grüssen. Ein zweites Medikament, welches im Jahr 2022 herausgestochen ist, war Trastuzumab-Deruxtecan (T-DXd, Enhertu®). Ein Medikamenten-Antikörper-Konjugat und somit ein trojanisches Pferd, welches mit einem Antikörper (Trastuzumab) an den HER2-Rezeptor der Krebszelle andockt und damit das Chemotherapeutikum (Deruxtecan) gezielt in die Zelle hineinbringt. Ein Wirkmechanismus, wie wir ihn schon seit Jahren bei mehreren Tumorentitäten mit mehr oder weniger Erfolg nutzen. Beim HER2-positiven Mammakarzinom ist T-DM1 (Trastuzumab mit Emtansin, Kadcyla®) schon länger in Gebrauch. Es war bis vor Kurzem die Standard-Second-Line-Therapie beim metastasierten HER2-positiven Mammakarzinom. T-DXd gewann nun das Rennen gegen T-DM1 sehr deutlich und gilt damit seit 2022 als bessere Second-Line-Therapie. Weitere Turniere mit verschiedenen Substanzen beim HER2-positiven Mammakarzinom sind noch im Gange. Gut möglich, dass T-DXd auch im Kampf um die erste Linie gewinnt.

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Aber damit noch nicht genug. Ob ein Mammakarzinom HER2-positiv ist, definieren wir mit der Anfärbung des HER2-Rezeptors (Immunhistochemie) und/oder dem Nachweis einer Amplifikation des HER2-Gens. Als HER2-positiv gelten Mammakarzinome mit Genamplifikation oder einem hohen Färbescore von 3. T-DXd war so wirksam, dass man mit diesem Medikament erstmals von der herkömmlichen Einteilung in HER2-positive und HER2-negative Mammakarzinome abrückte und auf eine Wirkung bei HER2-negativen Mammakarzinomen, die einen HER2-Färbescore von 1 oder 2 aufweisen, hoffte. Man nennt diese Tumoren nun HER2-low. Und siehe da, die erste grosse randomisierte Studie war positiv und schaffte es ins «New England Journal of Medicine». Sogar das Gesamtüberleben konnte in der recht späten Therapielinie mit diesem Medikament nochmals verbessert werden. Man beachte, dass etwa 60 Prozent aller bis anhin als HER2-negativ eingeteilten Patientinnen zu dieser

Gruppe gehören – und das sind sehr viele Brustkrebspatien-

tinnen! Bleibt noch zu erwähnen, dass sich T-DXd auch bei

HER2-positiven Lungen- und Magenkarzinomen als äusserst

wirksam erwies.

So schön all der Fortschritt ist, es wird selbst für uns Spezia-

listen immer schwieriger, im eigenen Gebiet den Überblick zu

behalten. Es braucht immer mehr hoch spezialisierte Ärzte,

die sich auf sehr begrenzte Krankheitsentitäten einschränken

müssen. Etwas sehr salopp gesagt: Wir Spezialisten werden

damit immer mehr zu Fachidioten. Umso wichtiger sind die

Hausärzte, die den Patienten viel umfassender und wohnorts-

nah betreuen können. Meine Patienten, die einen Hausarzt

haben, was leider nicht mehr für alle gilt, haben einen immen-

sen Vorteil.

Und was würde wohl Walti meinen? «Dann freue ich mich

schon mal auf die Pille von Doktor Pille vom Raumschiff

Enterprise.»

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