Transkript
INTERVIEW
Auch Personen mit engem Kontakt impfen!
Was beim Impfen von Patienten mit chronischen Krankheiten zu beachten ist
Schon bei Gesunden bestehen zum Teil erhebliche Impflücken. Sie können bei Patienten mit chronischen Krankheiten gefährlich werden, denn bei ihnen lassen sich die Impflücken mitunter nicht ohne Weiteres schliessen. Wir sprachen mit Prof. Ulrich Heininger über das Vorgehen beim Impfen, wenn es um chronisch Kranke und ihr Umfeld geht.
ARS MEDICI: Herr Prof. Heininger, woran muss man bei Patienten mit chronischen Erkrankungen in Bezug auf das Impfen zuerst denken? Prof. Ulrich Heininger: Grundsätzlich beginnt eine Impfberatung bei Patienten mit chronischen Grundkrankheiten wie bei allen anderen Personen mit den Basisimpfungen: Wurde bereits gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten und dergleichen geimpft? Schon bei Gesunden ist die Durchimpfung im Erwachsenenalter bekanntermassen suboptimal. Der zweite Schritt besteht aus dem Identifizieren von Impflücken, gefolgt von allfälligen Nachholimpfungen. Dafür hat die EKIF, die Eidgenössische Kommission für Impffragen, einen Nachholimpfplan erstellt, in dem genau erläutert wird, wie und wann welche Nachholimpfungen erfolgen sollen. Auch die Personen mit engem Kontakt sollen denselben Prozess durchlaufen: Haben sie einen guten Basisimpfschutz? Sind zum Beispiel die Geschwister eines chronisch kranken Kindes gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken geimpft? Und wie sieht es bei den Eltern und Grosseltern aus? Wie bei dem Babysitter, der regelmässig ins Haus kommt? Dass das Umfeld eines chronisch Kranken einen guten Impfstatus haben soll, steht zwar im Impfplan, wird aber leider immer wieder vergessen.
Gibt es spezifische Vorsichtsmassnahmen beim Impfen von Patienten mit chronischen Krankheiten? Heininger: Es gibt nur drei Dinge, die man prinzipiell beachten muss: Kontraindikationen, Immundefizienz und Allergien gegen Bestandteile des Impfstoffs. Über allfällige Kontraindikationen gibt die jeweilige Fachinformation zum Impfstoff Auskunft. Personen mit einer Immundefizienz, sei sie angeboren oder erworben, zum Beispiel aufgrund von immunsuppressiven Medikamenten wie Zytostatika oder bestimmten Biologics, dürfen a priori nicht mit Lebendimpfstoffen geimpft werden. Es gibt hier aber Graubereiche, denn die Patienten sind ja nicht alle gleichermassen immundefizient. Ein Beispiel sind Rheumapatienten, bei denen es viele Graduierungen der Immundefizienz gibt, je nachdem, womit und wie intensiv sie gerade behandelt werden. Grundsätzlich ist bei immundefizienten Patienten eine enge
Foto: zVg
Zur Person
Prof. Ulrich Heininger ist Leitender Arzt und Stv. Chefarzt Pädiatrie, Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB). Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ARS MEDICI. Er gehört seit 2001 der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut Berlin an und war von 2004 bis 2019 Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF).
Absprache zwischen dem Hausarzt und dem Spezialisten notwendig.
Um welche Lebendimpfstoffe geht es dabei? Heininger: Lebendimpfstoffe werden bei den Basisimpfungen gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken eingesetzt. Eigentlich sollten diese Impfungen bereits im Kindesalter erledigt sein, was, nebenbei bemerkt, ein weiteres Argument für das Einhalten des Impfplans ist: Zeitgerechtes Impfen ist die beste Versicherung, dass man später damit keine Probleme hat. Einen schwer Immundefizienten darf man zum Beispiel nicht gegen Masern impfen, sodass er bei Masernexposition besonders gefährdet ist. Wenn er dann schwer an Masern erkrankt, ist das eine Katastrophe. Erkrankt er aber wegen der Lebendimpfung schwer, ist es auch eine Katastrophe. Welch ein Dilemma! Bei einer weniger ausgeprägten Immundefizienz ist das Abwägen zwischen dem Impf- und dem Infektionsrisiko einfacher, weil die Impfung dann weniger bedenklich ist.
Sie erwähnten Allergien als dritten Punkt. Was hat es damit auf sich? Heininger: Es gibt nicht viele Allergien gegen Impfstoffbestandteile, zum Beispiel gegen Aminoglykoside wie das
ARS MEDICI 19 | 2022
557
INTERVIEW
Neomycin oder gegen Hühnereiweiss. Eine Hühnereiweissallergie ist aber nur relevant, wenn man darauf anaphylaktisch reagiert. Dann muss man sorgfältig überprüfen, ob der Impfstoff Hühnereibestandteile enthalten kann. Vor allem ist das bei Influenza- und FSME-Impfstoffen der Fall. Die Viren im MMR-Impfstoff werden hingegen auf Fibroblasten gezüchtet, und dabei gibt es kaum Kreuzreaktionen. Bei Patienten mit Allergien gegen Impfstoffbestandteile muss man allenfalls bei der Impfung Vorsichtsmassnahmen einhalten und zum Beispiel Notfallmedikamente bereithalten. Die vorherige Absprache mit dem Allergologen ist sinnvoll.
Manche Allergiker wollen sich nicht impfen lassen, weil sie eine Verschlimmerung ihrer Allergie wegen der Stimulation des Immunsystems durch die Impfung befürchten, obwohl sie nicht gegen einen Impfstoffbestandteil, sondern gegen etwas anderes allergisch reagieren. Ist das eine berechtigte Sorge? Heininger: Nein, das ist eine unbegründete Sorge. Sie ist obendrein kontraproduktiv, wenn man einem Allergiker deswegen den Impfschutz vorenthält, der ihm zustehen würde. Zum einen hat jemand, der zum Beispiel auf Gräser, Hausstaubmilben oder bestimmte Nahrungsmittel allergisch reagiert, per se kein höheres Allergierisiko gegenüber Impfstoffbestandteilen. Dieses Risiko ist genauso klein wie bei allen anderen, die keine Allergien haben. Zum anderen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Impfung allergische Reaktionen gegen irgendwelche Substanzen, die nicht Bestandteil des Impfstoffs sind, verstärken könnte. Die Sorge, dass Allergiker durch eine Impfung gefährdeter seien als Personen ohne Allergie, ist einer der vielen Mythen rund um das Impfen.
Es gibt Patienten mit Multipler Sklerose, die fürchten, dass eine Impfung einen Schub auslösen könnte. Ist da etwas dran, oder sollten sich MS-Patienten ganz normal impfen lassen? Heininger: Selbstverständlich sollten sie sich ganz normal impfen lassen, solange sie nicht mit Biologics behandelt werden und immunsupprimiert sind. Dass Impfungen angeblich MS-Schübe auslösen können, ist ein weiterer Impfmythos. Dieser Mythos betrifft übrigens nicht nur Impfungen bei MS-Patienten, sondern zum Beispiel auch Impfungen bei Patienten mit Diabetes mellitus oder atopischer Dermatitis. Alle Krankheiten, die schubartig verlaufen, können mit irgendwelchen Interventionen assoziiert auftreten, sodass sie in der subjektiven Perzeption des Patienten als Ursache-WirkungsBeziehung interpretiert werden. Kontrollierte Studien zeigen aber, dass Impfungen das Risiko für einen Krankheitsschub nicht erhöhen. In solchen Studien mit verschiedenen Krankheiten hat sich gezeigt, dass in den Monaten vor und nach der Impfung, statistisch betrachtet, genau gleich viele Schübe auftraten. Es kommt natürlich vor, dass wenige Tage nach einer Impfung ein Schub auftritt – nur hat das dann nichts mit der Impfung zu tun, sondern es ist schlicht ein Zufall.
Kommen wir jetzt zu den ergänzenden Impfungen. Welche davon sind für Patienten mit bestimmten chronischen Krankheiten besonders wichtig? Heininger: Generell möchte ich zu Impfungen bei chronischen Krankheiten auf den Schweizer Impfplan verweisen. Im Kapitel 3 sind in der Tabelle 6 auf mehreren Seiten die
Details zu dem empfohlenen Impfungen für alle Risikogruppen und Risikosituationen festgehalten. Dort findet jeder Arzt seinen Patienten, sei dieser ein Patient mit einer Stammzelltransplantation, ein Diabetiker, ein Asthmatiker oder ein Nierenkranker, und zu jeder Risikosituation detaillierte Angaben, welche Impfungen empfehlenswert sind. Primär sind bei den ergänzenden Impfungen die Impfungen gegen Influenza und gegen COVID-19 sehr wichtig. Prinzipiell könnte man die Influenzaimpfung allen Personen empfehlen, aber besonders wichtig ist sie eben für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Das sind zum einen Personen mit einem erhöhten Expositionsrisiko, wie zum Beispiel Spitalpersonal oder das Personal an der Supermarktkasse. Zum anderen sind es Personen mit einem erhöhten Komplikationsrisiko, falls sie an Influenza erkranken. Sowohl das Expositions- als auch das Komplikationsrisiko können also eine Indikation für die Influenzaimpfung sein. Um das Komplikationsrisiko abzuschätzen, muss man die Zielorgane bedenken, in denen die Infektion stattfindet. Influenza infiziert die Atemwege. Sie ist also ein Problem für alle chronisch Lungenkranken und für alle Patienten mit Herzkrankheiten, weil das Herz vermehrt arbeiten muss, wenn die Lunge erkrankt ist. Ein zweiter Aspekt ist, dass Patienten mit einer chronischen Grundkrankheit dadurch bereits eine schwere Bürde zu tragen haben. Diesen Patienten möchte man mithilfe der Influenzaimpfung zusätzliche Belastungen und Spitalaufenthalte ersparen, auch wenn sie per se kein erhöhtes Komplikationsrisiko haben.
Wie sehen die Empfehlungen zur COVID-19-Impfung für chronisch Kranke aus? Heininger: Diese Empfehlungen werden aufgrund neuer Erkenntnisse laufend aktualisiert, aber prinzipiell sollte sich jeder gegen COVID-19 impfen lassen. Ähnlich wie die Influenzaimpfung schützt die COVID-19-Impfung besser vor schweren Verläufen als vor einer Erkrankung mit einem milden Verlauf. Zurzeit geht es in den Diskussionen speziell um die Auffrischimpfungen. Ohne Grundkrankheiten sieht das Impfschema in der Schweiz zurzeit so aus: 2 Impfungen als Basis und im Abstand von mindestens 6 Monaten der erste Booster. Für Personen ab 80 Jahre wird ein zweiter Booster nach wiederum 6 Monaten empfohlen. Immundefiziente Personen erhalten gleich zu Beginn 3 Dosen. Danach erfolgt eine Antikörperbestimmung. Falls die Antikörpertiter zu niedrig sind, wird nach minimal 6 Monaten geboostert, und – bei schwer immundefizienten Personen – nach wiederum 4 bis 6 Monaten erneut.
Wie wichtig ist die Pneumokokkenimpfung für chronisch Kranke? Heininger: Das Erkrankungsrisiko ist mit einem höheren Lebensalter und mit chronischen Grundkrankheiten assoziiert. Bei Personen ab 60 Jahre wird man kaum jemanden finden, der in diesem Sinn keine Grundkrankheit hat, sodass diese Impfung in vielen Ländern für Personen ab 60 Jahre empfohlen wird. Im Gegensatz dazu hat die EKIF bereits vor Jahren beschlossen, die Indikation für die Pneumokokkenimpfung nicht
558
ARS MEDICI 19 | 2022
INTERVIEW
LINKTIPPS
Schweizerischer Impfplan 2022 https://www.rosenfluh.ch/qr/impfplan22
Schweizerische Empfehlungen zur COVID-19-Impfung https://www.rosenfluh.ch/qr/impfencovid19
mehr am Alter, sondern am Gesundheitszustand festzumachen. Die Pneumokokkenimpfung ist prinzipiell sinnvoll für Personen mit einem erhöhten Risiko für invasive Infektionen. Ein gesunder, fitter 65-Jähriger braucht nach Ansicht der EKIF also keine Pneumokokkenimpfung. Aber zum Beispiel bei Lungen- oder Herzkranken, Asthmapatienten und Immundefizienten sieht das anders aus. Bei ihnen ist die Impfung klar indiziert.
Wäre nicht auch die Pertussisimpfung sinnvoll für Personen mit chronischen Lungenerkrankungen? Heininger: Ja, Sie sprechen mir aus dem Herzen. Die Pertussisimpfung ist derzeit eine Basisimpfung bis zum Alter von 25 Jahren. Danach wird sie im Schweizer Impfplan nur noch für Personen mit einem engen Kontakt zu jungen Säuglingen empfohlen. Ich bin mit dieser Empfehlung seit Jahrzehnten unglücklich, weil sie negiert, dass Erwachsene an Pertussis zumindest sehr unangenehm, bisweilen auch schwer erkranken können. Gemäss Schweizer Impfplan ist sie aber nicht einmal eine Indikationsimpfung für Lungenkranke, was ich persönlich wiederum bedaure. Ich bin der Meinung, dass jeder Erwachsene zumindest beim Auffrischen der Diphtherie- und Tetanusimpfung gleichzeitig gegen Pertussis geimpft werden sollte, einen Einzelimpfstoff gibt es nämlich leider nicht. Das ist in der Schweiz im Alter von 45 und 65 Jahren und dann alle 10 Jahre der Fall, und das könnte man aus meiner Sicht ohne Weiteres so machen.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
560
ARS MEDICI 19 | 2022